Bohlender, Matthias; Schönfelder, Anna-Sophie; Spekker, Matthias: „Kritik im Handgemenge“. Die Marxʼsche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz, transcript, Bielefeld 2018.
Zu Marxʼ zweihundertjährigen Geburtstag erschienen bisher mehr als nur eine Handvoll Biografien. Doch auch die primär akademische Forschung war hierzulande im Vorfeld des Jubiläums nicht untätig. Der nun vorliegende Sammelband „Kritik im Handgemenge“ Die Marxʼsche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz untersucht, wie und in welchen dynamischen Beziehungen sich die marxsche Kritik entwickelte. Damit bringt er frischen Wind in die Marxforschung, die bisher selten auf die performativen Dimensionen des marxschen Werkes blickte. Dabei haben sich die HerausgeberInnen Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder und Matthias Spekker auch vorgenommen, insbesondere auf den „politischen Einsatz“ von Marx zu achten. Wie der Band schnell deutlich macht, kann man hierbei nur erste Antworten finden, wenn man die Relationen des Feldes betrachtet, in dem Marx sich bewegte. Es wird folgerichtig darauf geblickt, wie sich Marxʼ Positionen innerhalb verschiedentlicher intellektueller und politischer Auseinandersetzungen entwickelten. Marx sprach hier von einer „Kritik im Handgemenge“ (MEGA2 I/2: 173). Gemeint ist damit vor allem die Marx und Engels nahestehende Denkschule der Junghegelianer und sozialkritische Autoren des Vormärz, von denen sich beide abzusetzen suchten, da sie in deren Wirken eine letztlich herrschaftsstabilisierende Effektlosigkeit erkannten. Zu den Kombattanten des Handgemenges wurden von Marx und Engels etwa Karl Grün und Wilhelm Weitling, Bruno Bauer, Max Stirner, Ferdinand Lasalle und Pierre-Joseph Proudhon auserkoren. Insbesondere im genauen Nachvollzug der Absetzbewegung liegt die Stärke des Bandes. Weitere damit verknüpfte Leitfragen richten sich auf die normativen Annahmen im marxschen Werk sowie dessen ungeklärtes Verhältnis zum Politischen. Entlang dieser Linien sind die hier exemplarisch vorgestellten Beiträge gruppiert.
Im ersten Abschnitt Kommunistisches Denken in Bewegung(en) wird der frühe Marx in seinen engeren Kontext zurückversetzt. Matthias Bohlenders Beitrag Marx, Engels und der „wahre Sozialismus“ oder: Die Geburt des „historischen Materialismus“ aus dem Handgemenge betrachtet ihre Konversion zum Kommunismus. Einst Gesinnungsgenossen des sogenannten „wahren Sozialismus“, die gemeinsam mit Moses Hess und Karl Grün für die menschliche Emanzipation eintraten und vorher Junghegelianer, die sich gemeinsam mit Bruno Bauer der Religionskritik widmeten, vollzogen Marx und Engels schließlich eine Absetzbewegung von beiden Gruppierungen. Gleichwohl sahen sie beide Gruppen als notwendige Durchgangsstadien an. Ihr innerhalb dieser Absetzbewegung neu gefundenes Fundament war der „historische Materialismus“, der dem Proletariat eine besondere Rolle zuweist und eine Vereinbarkeit von Theorie und Massenbewegung ermöglichte. Zu Recht setzt Bohlender den „historischen Materialismus“ in Anführungszeichen, da es sich dabei um eine marxistische Begrifflichkeit handelt. In den Manuskripten zur Deutschen Ideologie ist davon noch nicht die Rede (Vgl. Einführung, in: MEGA2 I/5, S. 755). Marx glaubt nach seiner Loslösung von den Junghegelianern und im Gegensatz zu diesen, dass die Theorie praktisch werden, d.h. die Massen ergreifen müsse um so selbst geschichtlich wirkmächtig zu werden. Es müsse notwendig ein politischer Kampf um die Köpfe erfolgen, gegen das Wunschdenken des „wahren Sozialismus“, gegen die wirkungslos bleibende Religionskritik der Junghegelianer und für das richtige kommunistische Bewusstsein. Diese politische Auseinandersetzung um die Frage, wer für das Proletariat sprechen darf, die Marx und Engels zu jener Zeit unter dem Dach des Bundes der Gerechten führen, wurde gleichsam zu einer Suchbewegung, innerhalb der sie erst nach und nach zu eigenen Theoremen finden. Dieser Kampf, der auch mit dem Manifest noch nicht beendet war, wurde nach Bohlender „formativ“ geführt. Das bedeutet, das weder Marx und Engels für sich selbst schon eine feste theoriepolitische Position besaßen, noch ihre (Sprech-)Position innerhalb des Feldes der sozialistischen und kommunistischen Organisationen während der Auseinandersetzungen als stabil oder gesichert angesehen werden sollte. Doch auch als der Kampf mehr oder minder gewonnen war, konnte man angesichts der umständlichen Konflikte nicht als natürlicher Mandatsträgers des Proletariats erscheinen und zudem steckte dieses für sie so wichtige Element noch in seinen Anfängen. Hier blieb nach Bohlender nichts weiter übrig, als die legitime Sprecherposition sowie auch die geschichtliche Relevanz des Proletariats unbeirrt gegen die Umstände zu behaupten. Mit letzterem trug er gleichsam „performativ“ zur Entwicklung eines revolutionären Proletariats bei. Deutlich wird bei Bohlender vor allem, dass Marxʼ im politischen Handgemenge gefundene und gefestigte Axiome sowie die davon abgeleiteten Prognosen zur Grundlage seines weiteren Schaffens wurden.
Der Abschnitt Bonapartismus und Krise zeigt den LeserInnen die analytische Deutungsmacht von Marx anhand seiner zeitdiagnostischen Beobachtungen. Ebenso wird aber auch auf dessen oft fehlgehenden Blick auf die ökonomischen Prozesse eingegangen, insofern die von Marx ausgemachten Krisen selten jene politischen Wirkungen zeitigten, die er sich von ihnen erhoffte. Anna-Sophie Schönfelders Beitrag Ruhe nach dem Sturm. Louis-Napoléon als zu korrigierender Fehler der Geschichte ist eine detaillierte Analyse Marxʼ journalistischer Beiträge für die New York Tribune im Hinblick auf die sich darin zeigende Bonapartismuskritik und Einschätzung des Nationalismus, der im 19. Jahrhundert erblühte. Schönfelder zeigt, dass Marx dem Nationalismus dabei nur einen geringen Stellenwert zumaß. Dieser sei für ihn eher als ein taktisches Element im politischen Kampf anzusehen, das aus sich selbst heraus nicht normativ zu bestimmen ist. So unterstützte er die polnische, irische und italienische Nationalbewegung, sah andererseits aber die Instrumentalisierung nationaler Gefühle durch Louis-Napoléon mehr als kritisch. Demgegenüber wird Marxʼ „anti-bonapartsischer Vorbehalt“ in dessen journalistischen Kommentaren zum entscheidenden Prüfstein bei der Bewertung politischer Akteure. So wurden etwa die italienischen Revolutionäre, aber auch politische Kommentatoren wie Ferdinand Lasalle und andere deutsche Demokraten, von Marx danach bemessen, ob sie für oder gegen Bonaparte Position bezogen. Mit Österreich, das bis 1859 die Vorherrschaft in Norditalien innehatte, die von Sardinien-Piemont und Frankreich herausgefordert wurde, wollte sich Marx jedoch selbstredend auch nicht gemein machen. Schönfelder arbeitet so auf gelungene Weise die Paradoxien heraus, die die marxsche Obsession für Napoleons Neffen mit sich brachte. Dessen falsche Prosperitätsversprechen versuchte Marx durch seine Analysen zu entlarven und dessen Sturz somit mit journalistischen Mitteln zu beschleunigen. Der von Marx beschriebene Bonapartismus, der eine Krisenlösung anbot, die auf Autoritätsgebaren, Nationalpopulismus und Antagonismusunterdrückung fußte, habe dabei durchaus epochenübergreifende Relevanz. In Schönfelders Beitrag wird die Komplexität des marxschen Handgemenges ersichtlich, das immer auch von internationalen politischen Fragen durchzogen war und geprägt wurde.
Im Themenblock Kritikmodi und -motive befasst sich Matthias Spekker in seinem Beitrag Produktivkraftentfaltung und kommunistisches Bewusstsein. Zur Kritik eines Marxʼschen Kritikmotivs mit der bisher etwa von Georg Lohmann und Michael Heinrich behandelten Frage, ob Marxʼ Spätwerk ein normatives Fundament habe. Auch Spekker skizziert, wie zuvor Bohlender, die von Marx vollzogene Abgrenzungsbewegung vom philosophisch inspirierten deutschen Sozialismus und Kommunismus. Diese verlief primär über Marxʼ materialistisches Denken, das jedoch nicht mit einer platten Verelendungstheorie verwechselt werden sollte. Stattdessen besage Marxʼ Theorem der Produktivkraftentfaltung, dass aus den physischen Arbeits- und Lebenszusammenhängen, wie sie das Fabriksystems des 19. Jahrhunderts hervorbrachte, ein potentielles revolutionäres Bewusstsein erwachsen könne. Die Produktivkraftentfaltung werde daher von Marx nur als die Basis der „wirklichen Entwicklung der Individuen“ entworfen. Dennoch wollte Marx im Kampf der Ansichten mehr zur Hand haben als bloße Meinung. Sein Materialismus sollte ihm im Handgemenge als ein vermeintlich wissenschaftlich fundiertes Instrument dienen, das er gegen die bewusstseinszentrierten Modelle gesellschaftlicher Veränderungen einsetzen konnte, die den Ideen eine hohe eigenständige Wirkungsmacht zusprachen. Deshalb versuchte Marx ganz bewusst, wie Spekker mit Blick auf die damalige Debatte meint, seine philosophischen und normativen Annahmen strategisch unsichtbar zu machen. Jene Interpreten, die Marxens späte Kritik der politischen Ökonomie als gänzlich frei von normativen Grundannahmen verstehen möchten, fallen aus einer solchen Perspektive auf Marxʼ Strategie der Verdeckung seiner Gründe herein. Als Fortführung Spekkers Beitrag und dessen Frage nach den normativen Gründen kann Lukas Eggerʼs Beitrag Immanente Kritik oder Metakritik der Moral? Zu Normativität als Gegenstand und Grundlage der Marxʼschen Gesellschaftskritik gelesen werden. Egger beschreibt wie sich Marx von der normimmanenten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zugunsten einer Metakritik der Moral gelöst habe. Letztere bestünde im Verweis auf die materiellen Voraussetzungen der ideologischen Vorstellungen von Werten und Austauschverhältnissen. Doch ist Marx für Egger eben auch politisch, mit eigenen Vorstellungen einer guten und gerechten Gesellschaft ausgestattet, und nicht einfach ein empirischer Wissenschaftler. Egger verweist hier zu Recht auf den aristotelischen Perfektionismus, der auf die „volle und freie Entfaltung jedes Individuums“ abhebt und der von Marx gegen das Denken seiner Zeit in Stellung gebracht wurde. Somit betreibt Marx also nicht nur immanente Kritik, die die bürgerliche Gesellschaft an ihren eigenen Maßstäben (wie Freiheit, Gleichheit und Eigentum) messe. Vielmehr konnte er nach Egger auf ein zweites, ideengeschichtliches Reservoir zurückgreifen, dass über eine immanente Kritik hinausgehe.
Oliver Flügel-Martinsen fragt schließlich nach dem Stellenwert des Politischen bei Marx und stellt zunächst heraus, dass die gängige Interpretation jene sei, dass sich politische Dimensionen in Marxʼ Frühwerk fänden, diese aber zugunsten einer politisch-ökonomischen Großtheorie fallen gelassen wurden. Auch die sogenannten postmarxistischen Autoren wie Mouffe, Laclau oder Castoriadis und Rancière haben sich zwar auf Marx bezogen, diesem aber im Hinblick auf sein Spätwerk vorgeworfen, dass er einen mangelnden Sinn für die Eigenlogik des Politischen habe. Von dieser Diagnose ausgehend, bemüht sich Flügel-Martinsen nun um eine Differenzierung, indem er ein Phasenbild von Marxʼ wechselhafter Auseinandersetzung mit dem Politischen zeichnet. 1843 habe Marx eine empathische Vorstellung wahrer Demokratie vertreten. Dieser folgte 1851/52 eine Enttäuschung und eine Zurückweisung der Semantik des Politischen, während 1871, im Jahr der Pariser Kommune, bei Marx eine neue Hoffnung auf die politische Revolution aufgekommen sei. Daneben macht Flügel-Martinsen einen kontingenztheoretischen Strang im Denken bei Marx aus, weil er Subjekte als gemacht und wandelbar begreife, was im Beitrag von Alex Demirović bestätigt wird.
Der letzte Abschnitt Wahrheitspolitik und die Praxis der Theorie sucht nach Wegen, um aus der Aktualität heraus erneut an Marx anzuknüpfen. Die Beiträge dieses Teils verbleiben leider meist zu sehr im Vagen. Gregor Schäfers Beitrag Das Proletariat gibt es nicht … Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx liest Marx durch die Schriften von Georg Lukács und Alain Badiou neu. Im Zentrum steht dabei der Begriff der Wahrheitspolitik, der von Badiou entliehen ist. Schäfer erkennt bei Marx einen Wahrheitsanspruch, der sich in dessen materialistischer Perspektive begründet aber ebenso auch in der Parteilichkeit für die Arbeiterklasse und deren Emanzipationsstreben. Das Proletariat als bewusstes und aktives Kondensat der Arbeiterklasse nehme sich dabei gewissermaßen im Akt der Revolution selbst vorweg, da es sich erst durch revolutionäre Ereignisse als Subjekt konstituiere. Als solches ist es nach Schäfers Marxinterpretation einer egalitaristischen Wahrheit verpflichtet. Dieser retrospektiven Betonung der marxschen Normvorstellungen fügt Alex Demirović in seinem Beitrag Parteilichkeit der Theorie zu Politik und Geltung der Wahrheit bei Marx hinzu, dass Wahrheit mit Foucault selbst als ein umkämpftes gesellschaftliches Verhältnis verstanden werden könne und daher Marx in seinem intellektuellen Schaffen als ein „Wahrsager“ begriffen werden kann, der mit seiner Kritik zu einer neuen Politik einer neuen Wahrheit beitragen wollte.
Der Band „Kritik im Handgemenge“ wird sich auch in Zukunft als ein Orientierungspunkt in der zuletzt wieder angeschwollenen Flut der Marxliteratur erweisen, insofern er einen systematischen Blick auf die Genese der marxschen Kritik wirft. Insbesondere die Grundlagen und die Konsequenzen der frühen Auseinandersetzungen sowie Marxʼ strategisches Agieren innerhalb verschiedenster politscher Konstellationen werden im Band aufschlussreich erörtert. Zusammengenomen ist eine Basis gefunden, auf die sich die kommende theoriegeschichtliche Forschung beziehen kann. Das im Vorwort bestimmte Ziel, die marxsche Kritik auf den „Grund ihrer Gefährlichkeit“ neu zu befragen, wird allerdings nur für dessen konkrete Kontexte eingelöst.
Gregor Ritschel (Dr. phil.), geb. 1985, studierte Politikwissenschaft, Ethnologie und Zeitgeschichte. Er lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ist Redakteur der Zeitschrift Berliner Debatte Initial. Seine Dissertation Jeremy Bentham und Karl Marx. Zwei Perspektiven der Demokratie erscheint diesen Monat im transcript Verlag.
Marx‘ Basisnormativität besteht in der Vorstellung eines Grundübels, nämlich der Trennung von Arbeit und Leben in der Form der Trennung des Nutzens (Tauschwert u./o. Gebrauchswert) von seiner konkret-vivenden Erzeugung und von einem wichtigen Teil seiner Urheber, von der Arbeit und den Arbeitenden. Für ihn besteht der Grundskandal darin, als konkreter Erzeuger – und damit auch 1. Besitzer des neu erzeugten -, nicht auch (Mit-) Eigentümer zu sein und damit Nutzungs- bzw. Bewirtschaftungsrechte am Erzeugnis genießen zu dürfen.
Damit reiht er sich in die große Reihe normativer Trennungs- und Ganzheitsnarrative ein, die seit Anbeginn der Geschichte i. e. S. wesentlich das Gute und das Schlechte, Paradies, Ganzheit etc. vs. Trennung, Spaltung, Teil, Vertreibung usw. bezeichnen. Dabei wird zumeist die Ganzheit, das Gute, zumindest Bessere, usw. in der Vergangenheit loziert, die in einigen Erzählungen – den Spiegeln der seelischen Empfindungen -, in ihrer Ungeschiedenheit und Gänze wiedererrichtet wird bzw. werden soll.
Seiner Zeit der Mittelalteridealisierung vom Biedermeier bis zum Historismus gemäß loziert er dann auch ökonomietheoretisch das noch ungeschiedene Gute/Bessere in ein Mittelalter, das es aber so nie als Grundverhältnis gegeben hat: Die Einheit von Produktionsmitteln, Arbeit und Erzeugnissen in der Hand/im Recht der Erzeuger, die auch noch alle ‚Antagonismen‘, Widersprüche etc. aufhebt/unentfaltet lässt, ja sogar angeblich in der Lage ist, den Pudding des „Wertes“ so essenzialistisch aufzuladen, dass er an die Wand genagelt werden kann.
Pech nur, dass (positive) „Freiheit“ (zu) eben auch Abspaltung, Trennung, Verlassen usw. zur Vorbedingung hat, je ohne die negative „Freiheit von …“ nicht zu haben ist.