Wiedergelesen: Max Webers Wahlverwandtschaften – eine Verhältnisbestimmung

Die Rezeption der sogenannten Weber-These, nach der ein Zusammenhang zwischen protestantisch motivierter weltlicher Askese und wirtschaftlichem Erfolgsstreben besteht, ist äußerst umfangreich und ein Ende scheint nicht in Sicht. Wirklich erklärt werden kann die Faszination für das kontinuierliche Wiederlesen und Diskutieren von Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus nicht, überzeugt der Text weder durch eine besonders leichte Sprache noch einen mitreißenden Spannungsaufbau. Überdies geht es um Religion, auch um Kapitalismus, welcher – um versöhnlich zu bleiben – ein catchy Schlagwort darstellt. Vielleicht ist es diese Kombination, die es ausmacht.

Einen Anstoß für eine neuerliche Beschäftigung mit der Weber-These mag der erstaunlich unbestimmte Begriff der „Wahlverwandtschaft“ in der Protestantischen Ethik geben, welche Max Weber zwischen „bestimmten Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik“ ausmacht (im Folgenden stets PE nach Max-Weber-Gesamtausgabe Bd. I/18, S. 256). Sperrig und gleichzeitig vergleichsweise wenig beachtet, besetzt dieser Begriff den Kern seiner berühmten These. Dabei ist der Begriff an sich paradox. Während Verwandtschaft sich dadurch auszeichnet, nicht wählbar zu sein, suggeriert Wahlverwandtschaft das genaue Gegenteil. Warum wählte Weber, auf Goethes gleichnamigen Roman verweisend, ausgerechnet diesen Begriff, jedoch ohne jede Bestimmung, was er mit dieser Entlehnung meinte?

Für die leichtere Handhabbarkeit der These wird der Begriff Wahlverwandtschaft nicht selten mit „Kausalität“ oder „Korrelation“ übersetzt, sodass es etwa in der Süddeutschen Zeitung heißen kann, Protestantismus schaffe Wirtschaftskraft. Diese These halte der Überprüfung jedoch nicht stand und sei abzulehnen. Auch der berufliche Erfolg einzelner Individuen, etwa von Steve Jobs, wird in der Zeitung Die Welt griffig auf das „strikt protestantische Arbeitsethos“ zurückgeführt, das ihm seine Großeltern „einpflanzten“. Die Vermutung der folgenden Auseinandersetzung lautet jedoch, dass der Begriff Wahlverwandtschaft nicht mit Kausalität oder Korrelation gleichzusetzen ist. Die Hoffnung ist nun, der Bedeutung des Begriffs durch kleinteilige und vor allem textnahe Auseinandersetzung mit den insgesamt sechzehn Nennungen in ihrem Kontext näher zu kommen. In diesem Vorgehen richtet sich die Perspektive auf Webers Methodologie. Der Inhalt der Weber-These tritt in den Hintergrund.

Worin könnte der Gewinn einer solchen Begriffsarbeit liegen, die sich auch als spitzfindige Wortklauberei abtun ließe? Angenommen, es gelänge einerseits zu zeigen, dass Wahlverwandtschaft kein Synonym zu Kausalität oder Korrelation darstellt und andererseits eine griffige Begriffsbedeutung vorzuschlagen, würde dies zunächst ein komplexeres Verständnis der Weber-These zulassen und in einem größeren Rahmen die Frage aufwerfen, wie methodologisch ein Verhältnis, etwa zwischen Religion und Arbeitsethos, als solches bestimmt werden kann.

Völlig neu ist die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Wahlverwandtschaft nicht. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung finden sich sehr unterschiedliche Deutungsangebote für den Begriff in Webers Gebrauch. Das Konzept sei für Weber eine Möglichkeit, Interessen und Ideen zu verbinden (Weber/Gerth/Mills 1947), oder die „real and ideal spheres“ (Mayer 1975, S. 707). Andere Autoren übersetzen Wahlverwandtschaft, wie eingangs erwähnt, mit „Korrelation“, was kaum richtig scheint, da Weber den Begriff der Korrelation neben dem der Wahlverwandtschaft und somit vermutlich in Unterscheidung zu diesem verwendet. Darüber hinaus erklärt eine Korrelation zunächst nichts. Howe (1978) geht den Ursprüngen des Wahlverwandtschaftsbegriff in historischen Lexikaeinträgen über den chemischen Fachterminus „attractio electiva“, in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809 sowie in Auseinandersetzung mit Kants Begriff der „Affinität“ nach und beleuchtet die einzelnen Begriffsnennungen innerhalb Webers Gesamtwerk genauer. Von besonderer Bedeutung schätzt er die Nennung (noch in Anführungszeichen) am Ende des ersten Teils der Protestantischen Ethik ein, die für die folgenden Überlegungen exemplarisch den Ausgangspunkt darstellt.

Welche Rolle spielten religiöse Inhalte und Praktiken bei der Ausbildung des kapitalistischen Geistes? Diese Frage steht im Zentrum von Webers Studie zur Protestantischen Ethik. Wie in der Bearbeitung seiner Forschungsfrage adäquat vorzugehen sei, beschreibt Weber umständlich auf folgende Weise:

„zunächst [wird] untersucht […], ob und in welchen Punkten bestimmte ‚Wahlverwandtschaften‘ zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht. Alsdann erst, wenn dies leidlich eindeutig feststeht, könnte der Versuch gemacht werden, abzuschätzen, in welchem Maß moderne Kulturinhalte in ihrer geschichtlichen Entstehung jenen religiösen Motiven und inwieweit anderen zuzurechnen sind“ (PE, S. 256 – Hervorhebungen im Orig.).

Dieser Hinweis zum methodischen Vorgehen gliedert sich in drei Bestandteile: zuerst müsse die Wahlverwandtschaft ausgemacht werden, bevor die Art und Richtung des Einflusses der wahlverwandtschaftlichen Beziehung untersucht werden könne. In einem dritten Schritt sei es dann möglich, die Stärke der Wahlverwandtschaft und ihrer Wirkung zu bestimmen.

Bevor es daran gehen kann, Webers ausgemachte Wahlverwandtschaften zu rekonstruieren, muss zunächst betont werden, dass einerseits „religiöser Glaube“ und auf der anderen Seite „Berufsethik“ nach Weber idealtypisch verstanden und auf diese Weise überhaupt erst in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Webers Interesse in seiner Protestantischen Ethik gilt dem charakteristischen Ethos des spezifisch amerikanisch-westeuropäischen Kapitalismus, den er von früheren Formen des Kapitalismus unterscheidet. Dieses Ethos beobachtet er als Anschauungsweise nicht nur eines Individuums, sondern von ganzen Menschengruppen. Charakteristisch für diese Menschengruppen ist nach Weber das Zusammentreffen eines besonderen kapitalistischen Geschäftssinns und einer „das ganze Leben durchdringenden und regelnden Frömmigkeit“ in ein und denselben Personen (PE, S. 139). Dieses Zusammentreffen stellt, als These formuliert, jenen ersten Schritt der Untersuchung dar, „ob und in welchen Punkten bestimmte ‚Wahlverwandtschaften‘“ erkannt werden können (ebd., S. 256). Die Bedingung für eine Wahlverwandtschaft ist dabei, dass beiden Motiven, dem kapitalistischen Geschäftssinn und der Frömmigkeit, Aspekte ein und desselben Phänomens, also der spezifische Ethos des modernen Kapitalismus, zugerechnet werden können.

Zurechnung wird hier ganz im Sinne von Webers Kausalitätskonzept verstanden, also dem Konzept der objektiven Möglichkeit und adäquaten Verursachung. Weber geht davon aus, dass einer Wirkung (einem „Erfolg“) unendlich viele Ursachen vorausgehen, insofern stellt sich für ihn das eindeutige Zurückführen bestimmter Wirkungen auf ihre Ursachen geradezu als „Unding“ dar (im Folgenden stets WL nach Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre 1988, S. 178). Die Kausalfrage ist für Weber „Zurechnungsfrage“ (ebd., S. 178). Kausale Zurechnung meint dabei ein zweistufiges Verfahren: zunächst die gedankliche Abänderung bestimmter der Wirkung vorangegangener Elemente und zweitens die Überlegung, ob trotz dieser Abänderung die gleiche Wirkung des beobachteten Ereignisses eingetreten wäre oder nicht. Diese Überlegung ist nur über die Bezugnahme auf allgemeines Erfahrungswissen möglich. Falls das Ereignis mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht in seiner beobachteten Form eingetreten wäre, so sind die abgeändert gedachten Elemente in Webers Terminologie „adäquate Verursachung“ (ebd., S. 286) des beobachteten Erfolgs. Anders formuliert stellt Weber die Frage: Was wäre gewesen, wenn bestimmte Elemente vor der Wirkung anders gewesen wären? Wäre die gleiche Wirkung eingetreten?

Wurde als Bedingung für Wahlverwandtschaft die Möglichkeit bestimmt, dass beiden Motiven (kapitalistischer Geschäftssinn und Frömmigkeit) Aspekte ein und desselben Phänomens (Geist des modernen Kapitalismus) zugerechnet werden können, geht das nur, weil zwischen dem kapitalistischen Geschäftssinn und der Frömmigkeit eine Bedeutungsüberschneidung besteht. Diese beiden idealtypisch verstandenen Elemente teilen Bedeutung, wie in einer Verwandtschaft Gene geteilt werden. Und weil es der Kulturmensch ist, der seiner Lebenswelt Sinn und Bedeutung gibt (vgl. WL, S. 180), ist die Verwandtschaft nicht zufällig und unfreiwillig, sondern beruht auf einer mehr oder weniger bewussten Wahl. Jene Bedeutungen sind dabei nicht statisch, sondern wandelbar, weil sie an den Glauben an ihre überempirische Geltung gebunden sind.

Der „Art und allgemeine[n] Richtung“ sämtlicher „Wirkungen“ verschiedener Elemente der einzelnen Protestantismen geht Weber im zweiten Teil seiner Studie nach. Beispielhaft verdeutlicht werden kann das an Webers Vergleich zwischen Luthertum und Calvinismus und ihrer jeweiligen Wirkung auf die Lebensführung. Ganz im Sinne seines Kausalitätskonzepts stellt sich Weber die Frage, was gewesen wäre, wenn die Gnadenlehre des Calvinismus ein wenig anders ausgesehen hätte. Hätte sie die gleiche Wirkung, also das „Systematische in der Lebensführung“ (PE, S. 345), herbeigeführt? Beantworten kann Weber diese Frage, indem er auf die empirisch beobachtete Wirkung der dem Luthertum eigenen Gnadenlehre Bezug nimmt und feststellt, dass diese keinen „psychologischen Antrieb zum Systematischen in der Lebensführung“ verursachte (ebd., S. 345). Methodisch analog verfährt Weber in der Untersuchung der Art und allgemeinen Richtung der Wirkungen protestantischer Askese hinsichtlich etwa dem Genuss der eigenen Besitztümer, dem Luxuskonsum und dem Gewinnstreben etc.

Schließlich muss noch der dritte Bestandteil der zitierten Textpassage interpretiert werden. Hinweise zu einem Verständnis gibt Weber am Ende seiner Studie, an dem er zusammenfasst: „Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes […] ist – das sollte diese Darstellung erweisen – geboren aus dem Geist der christlichen Askese“ (PE, S. 484f.; Hervorhebung im Orig.). Spricht Weber von einem „Konstitutivem Bestandteil“, so ist damit implizit das (sehr vage) „Maß“ bestimmt, in welchem ein „moderner Kulturinhalt“ (ebd., S. 256) auf die christliche Askese zurückzuführen ist. Seine Studie, die lediglich Vorarbeit leisten wollte, beleuchtet nur die eine Seite der Wahlverwandtschaft und an diese Tatsache, an die zunächst außen vor gelassene andere Seite der Beziehung, macht Weber immer wieder aufmerksam.

In der hier vorgestellten These beschreibt das Konzept der Wahlverwandtschaft das Verhältnis zweier idealtypisch konstruierten Motive zueinander (z.B. protestantische Frömmigkeit und ein kapitalistischer Geschäftssinn), die beide eine spezifische „Wirkung“ erklären können und zwar im Sinne von Webers kausaler Zurechnung. Dieses wahlverwandtschaftliche Verhältnis zweier Motive liegt in deren Bedeutungsüberschneidung begründet.

Es bleibt die Frage, warum Weber den Begriff der Wahlverwandtschaft vermeintlich unbestimmt und offen ließ. Mehr als „Geistes- und Seelenverwandte“ denn als Blutsverwandte bezeichnet Charlotte, eine der Protagonistinnen in Goethes Wahlverwandtschaften, die „wunderlichen Wesen“, die eine Wahlverwandtschaft eingehen (S. 46). Es ist die geteilte Bedeutung, auf der Webers Wahlverwandtschaften beruhen und diese ist nicht zufällig wie in einer (Bluts-)Verwandtschaft, sondern bestimmt durch den Menschen, der seiner Welt erst Bedeutung verleiht. Vielleicht war den zeitgenössischen Lesern Webers dieser Verweis viel klarer vor Augen als den heutigen. Vielleicht verfiel Weber schlicht dem Reiz des Uneindeutigen.

 

 

Annlena Mittlmeier studiert Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien.

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