In Zeiten der Krise und der gesellschaftlichen Umbrüche wächst das Bedürfnis nach Stabilität. Trotz einer langen Tradition des Nachdenkens über politische Stabilität von Aristoteles bis Rawls ist es schwierig anzugeben, was politische Stabilität ist, was sie ausmacht und wie sie hergestellt werden kann. Woran messen wir politische Stabilität? Wie viel (In)stabilität können Demokratien aushalten? Ist Stabilität überhaupt eine erkenntnisfördernde analytische Kategorie oder lediglich ein politischer Kampfbegriff?
Die Bonner Republik gilt im öffentlichen Bewusstsein als Urbild politischer Stabilität und Verlässlichkeit. Dagegen steht die Berliner Republik für den beständigen Versuch der Restabilisierung. Welcher dieser beiden Zustände der demokratischen Ordnung angemessener ist, ist dabei keinesfalls von vornherein ausgemacht, bemerkte Grit Straßenberger in der einführenden Begrüßung. Demokratien könnten das Fragile und Unberechenbare nicht ausschließen. Felix Wassermann ergänzte, dass politische Stabilität in einer Demokratie nicht als ein starres Konstrukt gedacht werden sollte, das Veränderungen und neue Entwicklungen ausschließe. Demokratien seien gerade durch ihre Offenheit und Flexibilität stabil.
Als Sinnbild für Stabilität hatten die VeranstalterInnen – Grit Straßenberger, Eva Marlene Hausteiner und Felix Wassermann – das Bild ‚Seiltänzer‘ von Trak Wendisch aus dem Jahr 1984 ausgewählt. Politische Stabilität ist demnach kein statischer und starrer Zustand, sondern das ständige Bemühen um Balance. Die Rede von Stabilität ist ambivalent; Ordnungsversprechen und Demokratiebedrohung in einem. Ein permanenter Drahtseilakt über dem Abgrund. Eva Marlene Hausteiner bemerkte in ihrer thematischen Einführung, dass der mit dem Versprechen auf Stabilität verbundene Begriff der Ordnung sowohl eine Bedingung politischen Handelns als auch eine das Handeln behindernde Verknöcherung darstellen könne. Die Tagung solle den systematischen Kern des Begriffs normativ, ideengeschichtlich und systematisch reflektieren.
Leider ist es uns im Rahmen dieses Berichts nicht möglich gewesen, alle Beiträge inhaltlich zu würdigen. Die Auswahl der erwähnten Beiträge geschah aus Gründen der Textkonsistenz. Ein ausführlicherer Bericht mit sämtlichen Beiträgen wird in der Zeitschrift für politische Theorie erscheinen.
Das erste Panel widmete sich der Frage, ob sich autokratische von demokratischen Formen politischer Stabilität unterscheiden lassen. Johannes Gerschewski, der die politische Stabilität von Autokratien empirisch untersucht, betrachtet den Machtwechsel als die eigentliche Achillesferse autokratischer Ordnungen. Oftmals geschieht er gewalttätig und unfreiwillig. Selbst der friedliche Machtwechsel birgt Gefahren, da die häufig anzutreffende charismatische Legitimation autoritärer Herrschaft nicht einfach übertragen werden kann. Politische Stabilität meine nicht nur Persistenz, sondern die Fähigkeit, inneren und äußeren Herausforderungen zu begegnen und sich dem Wandel der Umwelt anzupassen. Insofern müssen Autokratien responsiv sein. Die Rolle der Repression sei nicht eindeutig. So lasse sich nachweisen, das harte Repression in der Regel destabilisierend wirke. Stabilitätsfördernd sei eine Strategie der Depolitisierung, einem Zusammenspiel aus Performanzlegitimität und weicher Repression.
Rieke Trimcev griff im zweiten Panel Metaphern der Stabilität und der Destabilisierung das Verhältnis von Stabilität und Regel in der politischen Metapher des Spiels auf. Das Spiel eigne sich als Metapher für die Politik, weil es einen regelgeleiteten sozialen Zusammenhang darstellt, der auf Freiheit gründet und dennoch Ordnung stiftet. Trimcev analysierte die Verwendung dieser Metapher durch Jean-François Lyotard und Bonnie Honig. Sie konnte zeigen, dass in deren Spielmetaphern das Befolgen von Regeln zur Regelveränderung führen könne. Damit verschwimme die Grenze zwischen Stabilität und Instabilität. Kritisch fragte Trimcev, worin dann noch die Verbindlichkeit der Regel als Regel bestehe, wenn sie gleichzeitig als situativ destabilisierend gedacht würde.
Vincent August beschrieb die Veränderungen der Stabilitätskonzeptionen im Zuge der Systemkrise in den 1970er Jahren. Das lange Zeit unangefochtene hierarchische Stabilitätsmodell des souveränen Staates konnte sein Versprechen, die auseinanderstrebenden Gesellschaftsteile zu reintegrieren, nicht halten. In das Stabilitätsvakuum des Steuerstaates stieß das neoliberale Konzept des Marktes, das scheinbar eine Problemanalyse und -lösung wie aus einem Guss lieferte. An die Stelle des souveränen Staates trat der souveräne Markt; dabei wurde aber mit der grundsätzlich vertikalen Logik der Stabilität nicht gebrochen. Diese Logik wurde erst durch das Konzept des Netzwerks überwunden, das sich sowohl begrifflich als auch in seinen Praktiken und Selbstbeschreibungen klar vom Markt und Staat abgrenzt. Im Netzwerk gibt es kein Zentrum, keine Hierarchien, sondern alles spielt sich auf gleicher Ebene ab und ist miteinander verflochten; so wirken sich kleinste Veränderung auf das Gesamtgefüge aus. Stabilität bedeutet hier stärker Ausgleich und wird durch Differenz und Neuerfindung erzeugt. Die heutige Gegenwart wird durch ein Mit- und Gegeneinander von Markt und Netzwerk geprägt.
Im Abendvortrag reflektierte Philip Manow die aktuellen Herausforderungen des demokratischen Versprechens, Stabilität durch Bewegung im Sinne von Dynamik zu gewährleisten. Die Demokratie sei eine Ordnung der organisierten Unsicherheit. Sie stabilisiere sich einerseits durch eine diskursive Unruhe, deren zentraler Akteur die Medien seien. Hier vollziehe sich aktuell erneut ein Strukturwandel der Öffentlichkeit, der bisher kaum verstanden sei. Die andere stabilisierende Bewegung – die prozessuale Unruhe – bestehe in den Zeitstrukturen, die beispielsweise Wahltakte oder Abstimmungsdichte erzeugen. Jede Wahl sei prinzipiell ergebnisoffen und unkalkulierbar. In beiden Fällen komme den Parteien zentrale Bedeutung als stabilisierendes Relais zwischen Parlament, Regierung und Öffentlichkeit zu. Allerdings wandeln sich diese hin zu personenzentrierten Plattformen und verlieren ihre Kraft, die diskursive und prozessuale Unruhe moderierend zu beeinflussen. Damit büße die Demokratie den wichtigsten Garanten politischer Stabilität ein, ohne dass deutlich würde, was an die Stelle der Parteien treten könne.
Im dritten Panel Stabilitätsorte: Von Bonn nach Berlin wendete sich Frank Decker gegen die Forderungen nach mehr direkter Demokratie, die heute auch von der rechten Seite des politischen Spektrums geäußert werden. Ausgehend von einem institutionellen Verständnis demokratischer Stabilität, beschrieb Decker die Gefahren, die vom Mittel der Volksinitiative ausgehen. So würde die föderative Mitbestimmung der Länder übergangen und die engagierten BürgerInnen überrepräsentiert, besonders aber störe die Volksinitiative das innerparlamentarische Gleichgewicht zwischen Regierung und Opposition. Durch sie gerate das Parlament in Opposition zum Volk und tendiere dazu, die innerparlamentarische Trennung von Regierung und Opposition zu unterlaufen. Auf Länderebene führten direkt-demokratische Verfahren bereits zu einer institutionellen Destabilisierung. Statt verbindlicher Volksgesetzgebung hält Decker auf Ebene des Bundes beispielsweise unverbindliche Volksinitiativen oder Vetoinitiativen für denkbar.
Verena Frick analysierte das Stabilitätsversprechen des Grundgesetzes anhand der Unterscheidung von ‚political constitutionalism‘ und ‚legal constitutionalism‘. In der deutschen Politikwissenschaft herrschte nach 1945 die Vorstellung eines ‚political constitutionalism‘, für den das Grundgesetz eher einen Ermöglichungsraum für Politik aufspannt und weniger eine Begrenzung darstellt. In der Praxis des Verfassungsgerichts setzte sich ein ‚legal constitutionalism‘ durch, der von Demokratieskepsis geprägt war. Das Verfassungsgericht entschied juristisch und unpolitisch, wodurch ihm eine Überparteilichkeit zugesprochen wurde. So konnte es zu einem Stabilitätsanker der Bonner Republik werden, zum Hüter der Verfassung. Das Grundgesetz sei in dieser Deutung keine neutrale Rechtsordnung, sondern besitze eine objektive Wertstruktur und verkörpere eine gute Ordnung. Die Autorität und das Stabilitätsversprechen des Grundgesetzes resultierten aus einer dogmatischen Rechtslehre und einer überparteilichen Rechtsprechung.
Im vierten Panel wurden Destabilisierungsgefahren und ihre Abwehrmöglichkeiten reflektiert. Frauke Höntzsch widmete sich dem Problem von ‚hate speech‘ und vertrat die These, dass sich bei John Stuart Mill, der häufig als Anwalt der uneingeschränkten Meinungsfreiheit dargestellt wird, gute Argumente für die Begrenzung von ‚hate speech‘ finden. Hierzu entfaltete Höntzsch den komplexen Freiheitsbegriff Mills, der sowohl eine individuelle, individuell-soziale und kollektiv-soziale Dimension beinhalte. Diejenigen, die ‚hate speech‘ durch die freie Meinungsäußerung gedeckt sehen, leugneten die soziale Dimension der Freiheit bei Mill und reduzierten die komplexe Freiheit auf die Dimension der isoliert gedachten individuellen Freiheit.
Jens Hacke beschrieb die Möglichkeit der Stabilisierung der Demokratie durch Wehrhaftigkeit bei Karl Loewenstein, der die Demokratie aus ihrer selbstmörderischen Apathie befreien wollte. Allerdings sichere das Konzept der ‚militant democracy‘ nicht die Demokratie, sondern lediglich den Staat. Wehrhaft sei die Demokratie nur dann, wenn sie in eine demokratische Kultur eingebettet sei. Ohne diese Kultur könne eine ‚militant democracy‘ nicht funktionieren. Hacke resümierte, dass Loewenstein kein Vertreter einer illiberalen Demokratie sei, sondern vielmehr ein unerfahrener Verteidiger der Grundrechte ohne Verständnis von demokratischer Stabilität.
Das fünfte Panel Internationale Stabilität und Destabilisierung wurde krankheitsbedingt alleine von Sebastian Lange bestritten, der die Strategien der Destabilisierung von Al-Qaida und des ‚Islamischen Staates‘ verglich. Während es Al-Qaida darum ging, durch Terror eine Reaktion zu provozieren, die die westlichen Staaten in die Falle der Überdehnung locken sollte, rief der ‚Islamische Staat‘ erst im Moment der militärischen Schwäche zu Terroranschlägen auf. Neben der Destabilisierung des Feindes solle eine Stabilisierung der Freunde erreicht werden. Die gottlosen Machtstrukturen müssen vernichtet und eine grundsätzliche Konfliktlinie zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen gezogen werden. In der Strategie der polarisierten Freund-Feind-Unterscheidung gäbe es eine irritierende Übereinstimmung mit rechtspopulistischen Bewegungen, die die Unterscheidung spiegeln.
Marcus Llanque versuchte in seiner Schlussdiskussion nicht, die Tage Revue passieren zu lassen, sondern den Begriff der Stabilität gegen den Strich zu lesen. Das Sprechen über politische Stabilität beinhalte auch die Gefahr, den Begriff von vornherein positiv zu verstehen und alles Destabilisierende, auf Wandel Drängende als begründungsbedürftig und pathologisch zu brandmarken. Insofern ist der Stabilitätsbegriff auch als politischer Kampfbegriff prädestiniert, weil damit die kritische Haltung gegenüber politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen delegitimiert wird. Auch nach der Tagung bleibe die Frage nach einer demokratischen Stabilität offen. Llanque schlug ebenfalls den Begriff der Balance im Sinne eines institutionellen und kulturellen Gleichgewichts vor. Das erinnerte an den Seiltänzer, der sich, um standfest zu bleiben, permanent ausbalancieren muss. Somit gelangte das Nachdenken über die politische Stabilität am Ende wieder an ihren Anfang und rundete die äußerst gelungene und spannende Tagung ab.
Jürgen Förster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. In seiner Dissertation hat er sich mit der institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts auseinandergesetzt.
David Terwiel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Er promoviert über den Begriff der Freundschaft bei Hannah Arendt.
Allgemein wird noch geglaubt, die durch irgendeine Verfassung definierte Gesellschaftsordnung sei primär und die Wirtschaftsordnung sei ein untergeordneter Teil davon. Tatsächlich ist es umgekehrt: Die Wirtschaftsordnung ist primär und alles Weitere ergibt sich daraus. Ist die Wirtschaftsordnung fehlerhaft, kann eine beliebige Anzahl sonstiger Gesetze niemals wachsende soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Krieg verhindern; ist die Wirtschaftsordnung dagegen fehlerfrei, erfordert es keine weiteren Gesetze, damit sich allgemeiner Wohlstand, eine saubere Umwelt und der Weltfrieden automatisch einstellen.
Warum wird diese „banalste Selbstverständlichkeit“ bis heute nicht verstanden?
Die Soziale Frage ist so alt wie der Mensch Geld (in früheren Zeiten Edelmetallgeld) benutzt. Und solange niemand wusste, wie die aus der Geldbenutzung resultierende, systemische Ungerechtigkeit der Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz zu überwinden ist, musste diese „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ aus dem Begriffsvermögen des arbeitenden Volkes ausgeblendet werden, damit das, was sich heute „moderne Zivilisation“ nennt, überhaupt entstehen konnte.
Das – und nichts anderes – war (und ist noch) der eigentliche Zweck der Religion, die vom Wahnsinn mit Methode zum Wahnsinn ohne Methode (Cargo-Kult um die Heilige Schrift) mutierte:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2018/01/religion-oder-leben.html
Danke für den Kommentar. Ich sehe zwar nicht den Zusammenhang zur Tagung, aber ich bin eher skeptisch, dass es so einfach ist, das Politische auf das Ökonomische zu reduzieren. Die Erfahrungen mit dem realexistierenden Sozialismus sind auch nicht dazu angetan, das weiterhin zu glauben. Ich sehe hier keine Lösung der sozialen Ungerechtigkeiten, der Umweltzerstörung und der Kriegsfrage wohl auch nicht.