Zur Notwendigkeit eines europäischen Patriotismus – Interview mit Philippe van Parijs

Philippe van ParijsDas sechzigjährige Jubiläum der Römische Verträge hinter sich, die Brexit-Verhandlungen vor sich: Das europäische Projekt sieht einer ungewissen Zukunft entgegen. Im Gespräch mit Julian Culp äußert sich Philippe van Parijs zu den Errungenschaften der Integration, dem Aufkommen nationalistischer und pro-europäischer Bewegungen, einem europäischen Grundeinkommen sowie der Kompatibilität von nationalem und europäischem Patriotismus.

Julian Culp: Herr van Parijs, vor 20 Jahren haben Sie in einem Briefwechsel mit John Rawls Fragen internationaler Gerechtigkeit diskutiert. Rawls argumentierte damals, dass “ein gesamteuropäischer Binnenmarkt das Ziel großer Banken und der kapitalistischen Wirtschaftselite ist, die lediglich das Ziel der Profitsteigerung verfolgen, [und dass] die langfristige Folge davon – die in den USA bereits eingetreten ist – eine von bedeutungslosem Konsum absorbierte bürgerliche Gesellschaft ist.”  Wie schätzen Sie rückblickend Rawls’ Unbehagen an der europäischen ökonomischen Integration ein? [Zitiert nach: Rawls/Van Parijs, „Three letters on The Law of Peoples and the European Union]

Philippe van Parijs: Damals wie heute denke ich, dass Rawls einen wichtigen Punkt hinsichtlich der Folgen der Integration des europäischen Marktes macht. Sein Punkt ist vielleicht sogar wichtiger als er selbst dachte, weil die multinationale europäische Föderation über eine schwächere politische Handlungsfähigkeit verfügt als die US-amerikanische. Ich stimme aber, denke ich, nicht mit Rawls’ Einschätzung darüber ein, ob es sinnvoll war einen gemeinsamen Markt zu schaffen und was nun zu tun ist. Die Schaffung, Vertiefung und sukzessive Ausweitung des gemeinsamen Markts mögen zwar die bedauerlichen von Rawls genannten Folgen nach sich gezogen haben. Aber sie hatten ebenso den Effekt, die Länder zu befrieden, die im Zentrum zweier Weltkriege standen, wackelige süd- und osteuropäische Länder zu stabilisieren, und den durchschnittlichen Wohlstand der Region immens zu befördern. Wer würde leugnen wollen, dass diese Effekte die von Rawls betonten, negativen Effekten aufwiegen, wenn der Gesamteffekt dessen bewertet werden soll, was Adenauer und Monnet 1950 gestartet haben? Die Aufgabe heute ist nicht Geschehenes rückgängig zu machen, sondern sich der wahrhaft herausfordernden Aufgabe zu widmen, demokratische Kontrolle über den gemeinsamen Markt zurück zu gewinnen.

 

JC: Denken Sie, dass die nationalistischen Bewegungen in Europa ein Verlangen nach Identität ausdrücken, das den homogenisierenden und normalisierenden Effekten geschuldet ist, die auf Sozialbeziehungen zurückzuführen sind, die von Marktimperativen beherrscht werden?

PvP: Die nationalistischen Bewegungen, die im heutigen Europa zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnen, sind sehr unterschiedlich. Aber wenn ich einen einzelnen Faktor benennen müsste, der diesen Bewegungen zugrunde liegt, würde ich mich auf „Unsicherheit“ festlegen. Es gibt die physische Unsicherheit, die hauptsächlich mit Terrorismus assoziiert wird, aber auch Kriminalität zu tun hat; beide dieser Arten physischer Unsicherheit hängen, mehr in der Wahrnehmung als in der Realität, mit „Ausländern“ zusammen. Es gibt sozio-ökonomische Unsicherheit, die mit der Gefahr der „Delokalisierung“ in einer globalisierten Wirtschaft sowie mit Zuwanderern verbunden wird, die um Arbeitsplätze, Unterbringung und Dienstleistungen konkurrieren. Und es gibt die kulturelle Unsicherheit, die mit der Zerstörung bzw. zumindest der Erosion eines Gemeinschaftssinns assoziiert wird, und die sich als Folge daraus ergibt, dass Nachbarschaften und Dörfer von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Sitten „eingenommen“ werden. Es ist wenig überraschend und zu einem erheblichen Grad auch korrekt, dass die EU als Schuldige für diese multidimensionale Unsicherheit angesehen wird. Schließlich war es einer der bedeutsamsten und sichtbarsten Aufgaben der EU, die sichernden Zäune, die Hindernisse für die Bewegungsfreiheit (von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Personen) sowie reibungsfreie und „faire“ Marktprozesse waren, abzubauen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwierig die Attraktivität einer Rückkehr zu einem starken Nationalstaat nachzuvollziehen, der berechtigt ist seine Grenzen zu schützen und seine Privilegien für die wahren Mitglieder der Nation zu reservieren. Und es ist sogar noch leichter zu verstehen, warum diese Attraktivität umso stärker ist für die „zu Hause gebliebenen“, die „Vergessenen“, die „Verlierer der Globalisierung“, als für die, die „mover“, die „Eliten“ und die „Gewinner der Globalisierung“, kurzum diejenigen, die in der Lage waren, die Vorzüge der durch die europäischen Integration ermöglichten Chancen in Anspruch zu nehmen.

 

JC: Sie sind ein aktiver Unterstützer der Bewegung Pulse of Europe. Wie würden Sie die dieser Bewegung zugrundeliegende Motivation beschreiben? Ist es wirklich das Empfinden einer europäischen Identität?

PvP: Ich habe die Anfrage erhalten, eine Rede bei der ersten Pulse of Europe-Versammlung in Brüssel zu halten, und ich habe gerne zugesagt, nicht zuletzt weil ich die Anfrage von einem sehr freundlichen – deutschen – Präsident meiner Stadtteilgruppe erhielt. Zweifelsohne, und vor allem in Brüssel, sind die sich versammelnden Personen überwiegend solche, die „mover“ sind, und denen bewusst ist, wie viel sie persönlich von der europäischen Integration profitieren, und der viele sogar einen lukrativen und interessanten Job verdanken. Deswegen war Teil meiner Botschaft, dass „Adel verpflichtet“ [noblesse oblige], dass also die europäische „Elite“ dringend alles unternehmen muss, was sie durch ihre privilegierte Position vermag, um die durch die Union entstehenden Begünstigungen derart umzulenken, dass sie eindeutig und sichtbar nicht nur die „movers“ erreichen. Gleichzeitig begrüße ich eine solche Initiative sehr als eine Widerspiegelung und einen Beitrag zur Stärkung eines europäischen „demos“, eines europäischen „Volks“ und somit auch, sozusagen, einer europäischen Identität. Keine politische Entität kann vernünftig funktionieren ohne ein bestimmtes Maß an Patriotismus, d.h. ohne die Bereitschaft eines hinreichenden Anteils der Bürgerschaft einen Teil ihres Eigeninteresses zugunsten ihrer politischen Gemeinschaft aufzugeben. Dieser Patriotismus ist manchmal nicht von Nationalismus zu unterscheiden. Aber das muss nicht und darf nicht sein. Was wir brauchen ist ein vielschichtiger, nicht-ethnischer, territorialer Patriotismus, der offen ist für alle dauerhaften Mitglieder einer territorial begrenzten politischen Gemeinschaft, von der Stadtgemeinschaft bis zur europäischen Union. Ein so verstandener europäischer Patriotismus muss noch viel stärker werden, ohne jedoch dadurch den Patriotismus auf niedrigeren Ebenen zu schwächen. Im Gegenteil. Der Stolz Deutsche bzw. Deutscher zu sein und der Stolz Europäerin bzw. Europäer zu sein müssen einander nicht widersprechen, sondern müssen so aufgefasst werden, dass sie sich gegenseitig bestärken. Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines europäischen Patriotismus ist wahrscheinlich ein wichtiger Teil der Motivation derer, die sich bei Pulse of Europe beteiligen. Sicherlich ist es Teil meiner eigenen Motivation die Bewegung zu unterstützen.

 

JC: Die Pulse of Europe Bewegung scheint am stärksten in Deutschland zu sein. Finden Sie das überraschend?

PvP: Die bottom-up pro-EU Bewegung nimmt in verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen an. Ich vermute dass die Form, die Pulse of Europe angenommen hat, zumindest teilweise, von den regelmäßigen Pegida-Versammlungen in deutschen Städten inspiriert ist. Die Zukunft wird zeigen, ob die Bewegung das Potential hat, sich langfristig in anderen Ländern zu verbreiten in denen Demonstrationsgewohnheiten andere sind.

 

JC: Seit nunmehr über 30 Jahren verteidigen Sie die Idee eines universalen Grundeinkommens und haben soeben, gemeinsam mit Yannick Vanderborght, das 400-seitige Buch Basic Income veröffentlicht. Ist diese Idee auch – oder vielleicht sogar nur – eine gute für Europa?

PvP: Als sozialpolitische und fiskalische Maßnahme muss ein Grundeinkommen auf nationaler Ebene vorgeschlagen, diskutiert und implementiert werden. Bewegungsfreiheit zwischen den Grenzen der EU-Mitgliedsländer ist eine Herausforderung für die Realisierbarkeit des Grundeinkommens, aber keine größere als im Fall anderer Sozialtransfers ohne Beitragsbeteiligung. Ich glaube jedoch, dass ein moderates Grundeinkommen sowohl möglich als auch notwendig auf EU-Ebene ist. Ich denke an 200 Euro pro Person [pro Monat; J.C.] , die an die Lebenshaltungskosten der Mitgliedsländer angepasst und mittels einer EU-weiten Mehrwertsteuer finanziert werden könnten. Eine solche Eurodividende wäre ein dringend notwendiger makroökonomischer Stabilisator in der Eurozone und ein ebenso dringend notwendiger demographischer Stabilisator im Schengenraum. Es würde auch dazu beitragen, die Großzügigkeit und Unterschiedlichkeit nationaler Wohlfahrtsstaaten zu bewahren, indem es den Steuer- und Sozialwettbewerb zwischen ihnen verringern würde. Und es würde auch für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger greifbar machen, dass die EU etwas für sie tut.

 

JC: Sie sind einer der politisch aktivsten zeitgenössischen politischen Philosophen. Wie sehr und in welcher Weise beeinflusst Ihre politische Aktivität Ihre normative Forschung?

PvP: Ich bin mir sicher, dass es politische Philosophinnen und Philosophen gibt, die wesentlich politisch aktiver sind als ich es bin. Ich bin kein Mitglied einer politischen Partei und ich bin nie als Kandidat bei Wahlen angetreten. Aber seit meiner Jugendzeit habe ich ein leidenschaftliches Interesse an politischen Fragen und inzwischen beteilige ich mich oft an öffentlichen Debatten, sei es auf lokaler, nationaler oder europäischer Ebene. Sicherlich informiert meine wissenschaftliche Arbeit diese Beteiligung. Aber es ist wahr, wie Sie es nahelegen, dass diese politische Beteiligung auch meine wissenschaftliche Arbeit informiert. Es war im Kontext politischer Debatten, dass ich, zum Beispiel, auf die Idee des Grundeinkommens gekommen bin oder, in einem anderen Feld, von der Wichtigkeit überzeugt wurde, die Demokratisierung einer lingua franca mit einem territorialen linguistischen Grundsatz zu kombinieren, d.h., den territorialen Schutz einer Vielzahl an Sprachen durch zwangsbewehrte Regeln öffentlicher Bildung und Kommunikation. Meine Bücher Real Freedom for All  und Sprachengerechtigkeit – für Europa und die Welt sind Versuche, eine philosophische Rechtfertigung für meine spontanen politischen Überzeugungen zu liefern und die vielen vernünftigen Einwände zu bedenken, die gegen sie vorgebracht werden könnten. Es war jedoch immer von größter Bedeutung für mich, dass meine politischen Überzeugungen nicht die Antworten beeinflussen, die ich auf die empirischen Fragen gebe, zu denen mich meine wissenschaftliche Arbeit führt. Der wissenschaftliche Ethos muss der einer kompromisslosen Suche danach bleiben, was nach bestem eigenem Wissen und dem der Kolleginnen und Kollegen, wahr ist, selbst und gerade dann, wenn es von dem abweicht, was wir uns angesichts unserer Interessen und Werte wünschten wahr zu sein.

 

Philippe Van Parijs ist Philosoph und Autor von Ein Grundeinkommen für alle? und Sprachengerechtigkeit . Er ist Professor an der Universitäten von Louvain und Leuven und Mitglied von Nuffield College, Oxford.

Julian Culp ist politischer Philosoph und Theoretiker an der Goethe-Universität Frankfurt sowie momentan Bernheim Fellow der Université de Louvain. Er arbeit an einer Habilitation zum Thema transnationale demokratische Bildung und ist Autor von Global Justice and Development.

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