Von der alten zur neuen Unübersichtlichkeit: Tagungsbericht aus Trier

Der Wandel von Staatlichkeit unter den Bedingungen zunehmender Transnationalisierung war Gegenstand eines Workshops, der Ende letzten Monats auf Einladung von Chris Volk und Friederike Kuntz an der Universität Trier stattfand und von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert worden ist. Zentrale Themen waren der Wandel von Recht und Raum, Inklusions- und Exklusionsmechanismen sowie Macht und Widerstand in der transnationalen Konstellation. Politikwissenschaftlerinnen diskutierten dabei mit Juristen, Soziologen und Historikerinnen. Darin, dass ein Wandel vorlag, waren sich alle einig. Die Ansichten darüber, welche Begriffe und Betrachtungsweisen diesem Wandel angemessen sind, gingen jedoch auseinander. Können Konzepte aus der Ära des Nationalstaats, etwa die Souveränität oder der Gedanke der Einheit des Rechts, aktualisiert werden, oder sollten sie ganz aufgegeben werden? Ist die landläufige Gegenüberstellung des alten Nationalstaats und der neuen, transnationalen Konstellation analytisch überhaupt angemessen?

Den Anfang machte eine historische Kontextualisierung jener Grundbegriffe, um die sich die aktuelle Debatte rankt, also Begriffe wie Staat, Souveränität, Nation und (Trans-)Nationalismus. Ursula Lehmkuhl verfolgte in ihrem Eröffnungsvortrag die Ursprünge des Transnationalismusbegriffs zurück ins 19. Jahrhundert. Obwohl das Konzept schon damals bisweilen Verwendung fand, konnte der Begriff in der sozialwissenschaftlichen Forschung bis in die 1970er Jahre keinen konzeptionellen Einfluss ausüben. Trotz des gegenwärtigen „transnational turns“ bleibe der Begriff des Transnationalen in den Kultur- und Sozialwissenschaften unscharf. In der Soziologie dominiere ein Fortschrittsnarrativ; in der Geschichtswissenschaft ein Narrativ der Entstehung neuer Räume und Gelegenheiten. Hingegen sei das Transnationale in den Internationalen Beziehungen mit einem Krisennarrativ verbunden, da es den Staat als wichtigsten Untersuchungsgegenstand der Teildisziplin bedrohe. Friederike Kuntz ging noch einen Schritt weiter zurück und argumentierte dafür, das System der internationalen Beziehungen selbst als eine historisch kontingente, durch Praktiken konstituierte Konstellation zu begreifen. Ursprünglich umfasste der Begriff des „Internationalen“ nicht allein zwischenstaatliche, sondern auch grenzüberschreitende Beziehungen zwischen Individuen. Für die vorherigen Jahrhunderte rekonstruierte Kuntz ein Feld historischen Wissens über die Beziehungen zwischen ‚Souveränen‘. Dieses Wissen beruhte im 17. Jahrhundert auf der Vorstellung einer festgeschriebenen Hierarchie souveräner Herrscher auf Grund deren Nähe zu Gott, während im 18. Jahrhundert das Kräftemessen souveräner Staaten mittels Kriegen und Konferenzen die Basis für das Wissen bildete. Am Beispiel der internationalen Hygiene-Konferenzen im 19. Jahrhundert zeigte dann Douglas Howland, dass polizeiliche Kontrolle historisch nicht mit staatlicher Souveränität gleichzusetzen ist. Für Howland sind die Konferenzen beispielhaft für einen „eurozentrischen Internationalismus“ und dienten primär der Kontrolle muslimischer Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum. Daniel Chernilo wies seinerseits auf die Verwobenheit von Nationalismus und Kosmopolitismus hin, so dass sich am Ende dieses Panels bereits der Eindruck aufdrängte, dass der starre Gegensatz zwischen einer nationalstaatlich verfassten Vergangenheit und einer transnationalen Gegenwart zumindest schief ist.

Das zweite Panel widmete sich dem Wandel des Rechts in der transnationalen Konstellation. Lars Viellechner versuchte in seinem Vortrag, eine normative Konzeption zu entwerfen, die der Gleichzeitigkeit von nationalem Recht, internationalem Recht und transnationalem Privatrecht angemessen wäre. Ins Zentrum stellte er den Begriff der Responsivität: Jede Rechtsebene müsse ‚offen‘ bleiben und zur Selbstbeschränkungen bereit sein. Dazu bedürfe es eines „conflicts law“, das Regeln der Komplementarität und Subsidiarität festlegt. Responsivität eröffne dann einen dritten Weg jenseits monistischer und radikal pluralistischer Rechtskonzepte; eine vom juristischen Standpunkt aus wohl überzeugende Lösung, die allerdings die politikwissenschaftliche Frage übergeht, wer eigentlich wie über das Recht entscheidet. Maaike Voorhoeve ging in ihrem Vortrag auf die postrevolutionäre Verfassungsdiskussion in Tunesien ein. Streitpunkt ist hier der Artikel 20, der das internationale Recht der nationalen Verfassung unterordnet. Das von Voorhoeve als „human rights elite“ bezeichnete, westlich orientierte Lager sehe darin eine Gefahr für die Menschenrechte, ein rechtsgeschichtlicher Blick zeige jedoch, dass es sich nicht um einen eindeutigen Bruch handele. Voorhoeve enthielt sich eines normativen Urteils, nichtsdestoweniger erinnert die Kontroverse daran, dass die Rechtsentwicklung keineswegs linear in Richtung Transnationalisierung verläuft. Gegen eine naive Transnationalisierungseuphorie argumentierte auch Petra Gumplova, die sich mit der Regulierung natürlicher Ressourcen beschäftigte. Zwar sei es problematisch, dass Land, Wasser und Luft heute nahezu vollständig unter staatliche Souveränität fallen. Ein abstrakter Universalismus biete allerdings keine Lösung. Stattdessen sei eine tragfähige Neuinterpretation von Souveränität nötig: ein Konzept der Selbstbeschränkung der bestehenden Staaten im Umgang mit Ressourcen, in Analogie zur Selbstbeschränkung von Souveränität durch Menschenrechtsnormen.

Gegenstand des dritten Panels war die transnationale Neuordnung des Raumes. Auch hier war das Recht ein zentrales Thema. So analysierte Philip Liste die Produktion eines transnationalen Rechtsraumes anhand eines Schadensersatzprozesses, der in den U.S.A. über Menschenrechtsverletzungen eines transnationalen Unternehmens in Nigeria geführt wurde. Dabei wurden so die Bedeutung und die Vielzahl nicht-staatlicher Akteure anschaulich. Gavin Sullivan zeigte aus einer Menschenrechtsperspektive die Problematik der UN-Regime der „Terrorist Black Lists“ auf, in denen diverse Rechtsordnungen zusammenprallen. Die Unmöglichkeit, die Praktiken des Listings mit den Menschenrechten zu vereinbaren, ergeben sich daraus, dass die Aufnahme von Personen auf die Blacklists letztlich auf ausländischen Geheimdienstinformationen beruht, zu denen die beteiligten Gerichtsinstanzen keinen Zugang haben. David Featherstone argumentierte aus postkolonialer Perspektive gegen den Universalitätsanspruch westlicher politischer Theorien, die ihren räumlichen Kontext ausblende.

Den mit der Transnationalisierung verbundenen neuen Phänomenen von Inklusion und Exklusion widmeten sich Jens Wissel und Sébastien Chauvin. Ersterer argumentierte, dass mit der Europäisierung ein Prozess der Neuskalierung von Staatlichkeit stattfinde. Globale Mobilität werde in ein neues Kontrollregime eingebettet. Da Migrationsbewegungen nicht erfolgreich reguliert werden können, verschiebe sich die Kontrollpraxis auf den Zugang zu Staatsbürgerschaft bzw. zu einem legalen Aufenthaltsstatus. Der zweite Vortrag konzentrierte sich auf die Spannungen, die durch die widersprüchliche Integration undokumentierter MigrantInnen entstehen, die sich nicht allein auf informelle Netzwerke und die Schattenwirtschaft beschränkt, sondern auch die Integration in formale Institutionen umfasst.

Die Frage von Macht und Widerstand in der transnationalen Konstellation stand im Mittelpunkt des letzten Panels. Interessant war, wie Oliver Nachtwey die „Occupy“-Bewegung von der Antiglobalisierungsbewegung der späten neunziger Jahre abgrenzte: Letztere habe lokale Missstände auf einer globalen Bühne thematisiert, während die neueren Bewegungen globale Probleme wie die Finanzmarkregulierung im lokalen Kontext ansprechen. Aufgrund der individualistischen Ausrichtung gelinge es „Occupy“ aber nicht, handlungsfähig zu bleiben. Für Christian Volk waren diese konkreten Defizite hingegen sekundär. Vorrangiger sei es, ein adäquates Verständnis transnationalen Protests zu entwickeln. In der Politikwissenschaft werde letzterer aber ignoriert oder fehlgedeutet. Die Bedeutung transnationaler Protestbewegungen liege jedoch darin, dass sie Herrschaft, verstanden als Abschottung der Institutionen und Verunmöglichung politischen Handelns, kenntlich machten. Indem er die Alternativlosigkeit des Bestehenden öffentlich in Frage stellt, eröffne Protest einen politischen Raum. Es drängt sich allerdings die Frage auf, für welches Publikum Herrschaft enthüllt wird? Alle Betroffenen? Einzelne nationale Öffentlichkeiten? Oder eine im Entstehen begriffene transnationale Öffentlichkeit?

Fazit: Dem Workshopcharakter der Tagung entsprechend ergaben sich eine Vielzahl von Perspektiven, ohne dass sich unmittelbar ein kohärentes Gesamtbild vom Wandel der Staatlichkeit einstellte. In vielen Beiträgen zeichnete sich vielmehr eine gewisse Verschiebung ab, weg von der ursprünglichen Frage nach dem Staat und hin zu einer stärker an Netzwerken oder „Assemblagen“ (Sassen) orientierten Perspektive. Mehrere TeilnehmerInnen plädierten dafür, den „transnational turn“ als eine veränderte Reflexion der immer schon bestehenden „Unordnung“ im Verhältnis zwischen Territorium, Autorität und Rechten zu verstehen. Während diese Unordnung aus einer nationalstaatlichen Perspektive als Anomalie verstanden werden konnte, erscheint sie aus einer transnationalen Perspektive als Normalität, so dass nichtstaatliche Akteure, grenzüberschreitende Politikformen und Wissenstransfers aufgewertet werden. Deutlich wurde aber auch, dass die Frage der Macht, die einst mit der Frage der Souveränität zusammenzufallen schien, in neuen Formen wieder auftaucht.

 

Michel Dormal arbeitet am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier. Heike Mauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Gender, Migration and Diversity an der Universität Luxemburg.