Mit Ernesto Laclau ist eine gewichtige Stimme der politischen Theorie verstummt. Doch in den Würdigungen, die auf Laclaus Tod folgten, ist untergegangen, dass Laclaus begrifflicher Beitrag zum Verständnis des Politischen nicht nur in seinen Überlegungen zu Marxismus, Hegemonie und Demokratie besteht, sondern auch – vielleicht sogar zuallererst – in seiner Analyse des Populismus. Dabei ist diese gerade jetzt, wo das Schlagwort Populismus anlässlich der Europawahlen wieder in aller Munde ist, von bestechender Aktualität.
Wer die Berichterstattung zur Europawahl verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, dass es nicht in erster Linie die Hoffnung auf politische Durchbrüche oder auch nur tragfähige Problemlösungen ist, die Menschen an die Urne treiben könnte, sondern lediglich der Frust über die Verhältnisse – oder die Angst vor dessen Konsequenzen. Also gilt es nicht zu begeistern, es gilt zu warnen. Vor Populismus. Dem man nicht auf den Leim gehen darf, dem man nicht das Feld überlassen darf, der nicht triumphieren darf über vernünftige Politik.
All diese Warnungen sind zweifellos gut gemeint, doch sie bleiben seltsam stumpf. Kaum ein „Populist“, der sich angesprochen fühlt, kaum ein Anhänger eines Populisten, der sich eines Besseren belehren lässt. Stattdessen ersetzt häufig der Vorwurf die inhaltliche Auseinandersetzung. Und hinterlässt die Frage, warum „dumme Politik“ so viele zu begeistern vermag, und warum der Sex-Appeal vernünftiger Politik eigentlich so gering ist.
Dagegen wäre zu fragen, was unter „Populismus“ eigentlich sinnvoll zu verstehen ist, wer oder was darunter fällt und wie das zu bewerten ist. Doch als „populistisch“ gilt so ziemlich alles, was nicht bei Zwei auf dem Baum der Erkenntnis sitzt. Populisten, das sind immer die anderen, Populismus etwas, das man zwar schwer fassen kann, aber erkennt, wenn man es sieht. „Ich weiß nicht, was Populismus ist, aber ich weiß, dass er mir nicht gefällt“, wird der frühe italienische Populismusforscher Gino Germani zitiert.
Dieses Problem wird auch nicht dadurch gemildert, dass die politische Theorie seit jeher damit kämpft, eine auch nur einigermaßen befriedigende Definition zu finden. Eine Definition, die einerseits weit genug ist, um der Breite der Referenzphänomene – von Hugo Chavez bis zur Tea Party, von Haider bis Berlusconi – gerecht zu werden, die andererseits aber auch präzise genug ist, um noch etwas Aufschlussreiches über den Kern dieser Bewegungen, ihre Funktions- und Erfolgsbedingungen sagen zu können.
Besonders rätselhaft erscheint dabei die ideologische und organisatorische Wandlungsfähigkeit des Populismus. Es gibt ihn in linker wie rechter, sozialistischer wie marktradikaler, autoritärer wie demokratischer, oppositioneller wie regierender, parteilich wie außerparteilich organisierter Ausgabe. Was könnte all diesen Varianten gemein sein?
Einige Theoretiker haben versucht, das Problem dadurch zu lösen, dass sie die verschiedenen Ausprägungen von Populismus zu einem „Idealtyp“ eingekocht haben (beispielhaft etwa Wiles 1981), dem real existierende Populismen jeweils nur unvollständig entsprechen. Doch angesichts von deren Bandbreite haftet diesem Versuch unweigerlich etwas Willkürliches an, gerät das populistische Konzentrat entweder zu diffus oder zu akademisch, um einzelne Fälle wirklich erhellen zu können.
Oder es wurden verschiedene Typen von Populismus identifiziert – um dann, wie Margaret Canovan, festzustellen, dass es sich bei diesen nicht nur um „verschiedene Varianten des gleichen Gegenstands“ handelt, „sondern in vielen Fällen um unterschiedliche Arten von Gegenständen“ die „überhaupt nicht direkt zu vergleichen“ seien (1981: 298). Was Canovan traurig befinden ließ: „Gäbe es das Konzept des Populismus nicht, kein Sozialwissenschaftlicher würde es erfinden. Es ist einfach viel zu vieldeutig.“ (ebd.: 301)
Dies hatte schließlich zur Folge, dass sich vielfach mit einer „Minimaldefinition“ von Populismus beschieden wurde. Danach ist dieser eine „schlanke Ideologie“, die die Herrschaft des Volkes gegenüber einer als korrupt oder unfähig verstandenen Elite betont. Doch erklärt das die Besonderheit populistischer Bewegungen? Oder gilt das nicht vielmehr für jede oppositionelle Politik? Und lässt sich überhaupt von einer Ideologie sprechen, also einem grundsätzlichen Glauben an die Weisheit des Volkes und die Unfähigkeit von Eliten? Auch hier scheint die Praxis – etwa, wenn die amerikanische Tea Party Bewegung auf die Autorität der Kirche, von Wirtschaftsführern wie Donald Trump oder der Gründerväter der amerikanischen Verfassung pocht – eher dagegen zu sprechen. Ist der populistische Appell an den Volkswillen also „bloße Rhetorik“?
Zu der Vielgestaltigkeit des Populismus tritt hier ein weiteres Problem hinzu, nämlich, dass er stets von vornherein als Kontrast zu „normaler“, rationaler Politik verstanden wird. Bereits 1986 schrieb Helmut Dubiel dazu in „Populismus und Aufklärung“ (S. 44), das den Kritiken des Populismus zugrunde liegende Schema sei „dadurch definiert, dass es glaubt, zwischen kognitiven und affektiven, zwischen rationalen und irrationalen Faktoren säuberlich unterscheiden zu können. Dieses Schema erlaubt im Grunde nur zwei Sichtweisen auf das Resultat politischer Willensbildungsprozesse: Entweder sind diese das Produkt einer rein rational, argumentativ gesteuerten Überzeugung oder Produkt einer die Irrationalität des Individuums anrufenden Manipulation“.
Die Kritik des Populismus fußt demnach auf einem Bild von Politik, das dem eines perfekten Wahl-o-Maten ähnelt, in dem alle Fragen durch kühle Abwägung der Argumente zweifelsfrei gelöst werden können. Vor diesem Hintergrund purer Berechenbarkeit muss jede Emotionalisiererung und Polarisierung von Politik unverständlich, verzichtbar oder gar schädlich erscheinen.
Das aber heißt zugleich, dass auch die besondere Logik und der wiederkehrende Erfolg der Populisten einer solchen Sicht fremd bleiben müssen. Populismus bleibt unverstanden – mit potenziell gefährlichen Folgen. Denn, wie Chantal Mouffe erklärt, „zu glauben, dass man die demokratische Mobilisierung von Affekten vernachlässigen könnte, heißt, dieses Feld denen zu überlassen, die die Demokratie untergraben wollen“ (2007: 40).
In diese Kerbe schlug stets auch Laclau, der sich Zeit seines Lebens der Erforschung des Populismus verschrieben hatte – von seiner ersten Monographie „Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus“ bis zu seiner letzten, dem noch immer unübersetzten „On Populist Reason“.
Darin beginnt Laclau seine Darstellung, indem er sich mit der Massenpsychologie von LeBon bis Freud auseinandersetzt. Deren Beschreibung populistischer Bewegungen in ihrer inhaltlichen Vagheit, ihrem Hang zu vereinfachenden Polarisierungen und ihrer affektiven Aufgeladenheit teilt Laclau einerseits, allerdings nur, um sich gleichzeitig gegen ihre beständige Pathologisierung des Phänomens zu verwehren. Er schlägt vor, “anstatt mit einem Modell politischer Rationalität zu beginnen, das Populismus nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was ihm fehlt – seine Vagheit, seine ideologische Leere, sein Anti-Intellektualismus, sein transitorischer Charakter – das Modell der Rationalität zu erweitern im Sinne einer generalisierten Rhetorik (die wir, wie wir sehen werden, Hegemonie nennen können), so dass Populismus als bestimmte und immer gegenwärtige Möglichkeit der Strukturierung politischen Lebens erscheint” (2005: 13).
Damit wird klar, dass es sich für Laclau beim Populismus nicht um ein spezifisch modernes Phänomen handelt, sondern dass es dabei um Grundfragen des Politischen geht, deren Analyse bis in die Antike zurück reicht und die unter verschiedenen Namen diskutiert wurden, sei es Demokratie (im aristotelischen Verständnis), Massenpsychologie oder Demagogie. Am Ende ist Populismus deshalb für Laclau keine bestimmte Ideologie oder Herrschaftsform mehr, sondern eine politische Logik, die in unterschiedlichem Maße im Sozialen präsent ist.
Laclau zufolge erhält die soziale Welt bekanntlich ihren Sinn durch die Unterscheidungen, die wir treffen – nicht nur zwischen Worten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Dingen, Handlungen oder Rollen. „Logik der Differenz“ nennt Laclau das. Indem wir so im Diskurs jedem Ding seinen Platz und jedem Schuster seinen Leisten zuweisen, richten wir uns in der Gesellschaft häuslich ein.
Allerdings – und an dieser Stelle verabschiedet sich Laclau vom rationalistischen Glauben an die vollständige Kalkulierbarkeit sozialer Verhältnisse – fühlen wir uns in dieser Welt niemals völlig zuhause. Immer kommt es in der Praxis zu Widersprüchen, Unklarheiten, Streitigkeiten um den Sinn von Handlungen, Begriffen, Dingen. „Dislokation“ heißt das bei Laclau. Ansprüche werden erhoben, werden zurückgewiesen und bleiben als unerfüllte Forderungen bestehen. Weil wir mit unserem Selbstverständnis überdies selbst in die soziale Bedeutungslandschaft verstrickt sind, und das auch noch körperlich, leiden wir an dieser Infragestellung. Enttäuschung, Frustration, Wut oder Empörung machen sich breit.
Idealerweise kann die Gesellschaft dieses Konfliktpotenzial entschärfen, indem sie die strittigen Fragen Stück für Stück abarbeitet. Doch wenn die Bereitschaft zu dieser mühsamen Aufgabe fehlt oder in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels die Gewissheiten im Dutzend fragwürdig werden, kann es zu einer Art Forderungsstau kommen.
Diesen Fall, in dem die herrschende Ordnung das Vertrauen und damit gewissermaßen ihren Boden verliert, hat der amerikanische Historiker Lawrence Goodwyn den „populistischen Moment“ genannt. „In solchen Momenten“, erklärt Helmut Dubiel, „geschieht es, dass die kollektiven Kränkungserfahrungen, die Statusängste und frustrierten Glückserwartungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen aus den etablierten Diskursen und Legitimationsmustern gleichsam herausfallen und den Status vagabundierender Potentiale gewinnen, die eigentümlich querliegen zum Spektrum politischer Richtungstraditionen“ (wie oben: 47). Mit anderen Worten: Die Frustrierten verlieren den Glauben an die Problemlösungsfähigkeiten des politischen Systems. Sie wollen ihr Zuhause nicht renovieren, sie wollen ein anderes Zuhause.
Laclau beschreibt dann, was passiert, wenn die Stunde der Populisten schlägt: Sie sammeln die Frustrierten ein, indem sie durch die vehemente Abgrenzung gegen einen gemeinsamen Gegner – etwa gegen „den Staat“, „das Establishment“, „den Kapitalismus“ oder „die Ausländer“ – ganz unterschiedliche, häufig sogar widersprüchliche Forderungen unter einem gemeinsamen Label versammeln. Dieses Komplement zur „Logik der Differenz“ nennt Laclau „Logik der Äquivalenz“, das Label dieser unerwarteten Gruppierung einen „leeren Signifikanten“. Letzterer funktioniert dabei gerade aufgrund seiner Unbestimmtheit als Projektionsfläche für alle möglichen enttäuschten Hoffnungen. Ob „Nation“ oder „Demokratie“, „neue Mitte“ oder „soziale Gerechtigkeit“, „Kaiser“ oder „Peron“ (der für Laclau der Populist schlechthin war): Immer ist es das Versprechen auf Ermöglichung des bisher Verwehrten, das starke Gefühle auslöst und die Menschen zu einer politischen Bewegung zusammenschweißt.
So vermag Laclau die Vielfalt an Populismen ebenso zu erklären wie ihre inhaltliche Leere, ihre Neigung zu Vereinfachungen, ihr zyklisches Auftreten und ihre Emotionalität. Zugleich aber identifiziert er Populismus als ein unvermeidliches Element des demokratischen Lebens. Denn eine Gesellschaft, die alle Forderungen zu erfüllen weiß, gibt es nicht. Deshalb stellt sich die Frage, wer „wir“ sind oder sein wollen, immer wieder neu. Und sie wird niemals unumstritten oder emotionslos zu beantworten sein.
Damit wird Populismus zu einem graduellen Phänomen. „Es gibt keine politische Intervention, die nicht in gewissem Maße populistisch ist“, schreibt Laclau (2005: 154). Auch noch in der kleinteiligsten Expertenäußerung zu irgendeiner EU-Richtlinie schwingt ein affektiv aufgeladenes Bild davon mit, wer wir sind – der Streit über Glühlampen, die Normierung von Gurken oder Kondomen spricht Bände.
Doch dass ein Mindestmaß an Populismus immer vorhanden ist, heißt eben nicht, dass Politik immer gleichermaßen populistisch ist. Die Frage des Ganzen kann gegenüber tagespolitischen Detailregelungen mehr oder weniger im Vordergrund stehen – abhängig auch davon, wie weit unausgesprochene Einigkeit darüber besteht, wer „wir“ sind.
Vor allem aber ist das Maß an Populismus nicht gleichzusetzen mit der Qualität der politischen Vorschläge. Allzu häufig wird aus der Einsicht in die Unvermeidlichkeit des „Populismus“ der falsche Schluss gezogen, dass auch konkrete Ausprägungen der Marke Wilders, Berlusconi oder Sarrazin unvermeidlich seien. Dabei ist keineswegs egal, ob „wir“ „uns“ als dies oder jenes, als Demokraten oder Volksgemeinschaft, als europäische Familie oder als deren Schröpfkuh verstehen – die Frage ist immer, wer dazu gehört und wer außen vor bleibt. Die Unvermeidlichkeit von Populismus zu konstatieren heißt nur, dass der bloße Nachweis, jemand handle populistisch, für sich genommen nicht ausreicht, um ihn zu diskreditieren. Doch das sollte nur umso mehr Grund sein, die inhaltliche Auseinandersetzung – in aller Gelassenheit – aufzunehmen.
Benjamin C. Seyd ist Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und Mitglied des Promotionskollegs „Zeitstrukturen des Sozialen“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort arbeitet er an seiner Dissertation über den sozial- und politiktheoretischen Wert der Gefühle. Daneben interessieren ihn besonders Theorien des Politischen, Globalisierung und der Gibraltarkonflikt.
„angesichts von deren Bandbreite haftet diesem Versuch unweigerlich etwas Willkürliches an, gerät das populistische Konzentrat entweder zu diffus oder zu akademisch, um einzelne Fälle wirklich erhellen zu können.“
Das mag auch am Anspruch liegen, den man stellt und den man daraufhin befragen muss, ob er nicht Auslegung mit Erklärung verwechselt. Der Anspruch auf vollständige Erklärung an ein Konzept, das eine bestimmte Hinsicht in den Blick nimmt, wird notwendig, an jedem Konzept, Mängel feststellen können, einfach deswegen, weil er selbst eine Idealvorstellung implizit voraussetzt, an die nur gleichsam infinit approximiert werden kann. Das verwechselt dann ggf. Logik mit Ontologie.
Eine Alternative: ‚Populismus‘ und die von ihm ausgebildeten Strukturen lässt sich beispielsweise hinsichtlich seiner Logik – und zwar phänomenübergreifend, aber in DIESER bestimmten Hinsicht – verstehen als ein reflexives Phänomen der Selbstermächtigung, die eine bestimmte Auslegung eines ‚Alles‘ – einer Immanenz wie ‚Geschichte‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Politik‘ usw. – dogmatisch in Geltung setzt. Diese In-Geltung-Setzung beansprucht dann a priori für alle anderen zu sprechen, wodurch sich bezüglich derer, die der dogmatischen Setzung widersprechen, der Schein ergeben kann, dass diese ‚verblendet‘ sind, weil sie die (selbst bekenntnishaft) angenommene ‚Wahrheit‘ nicht erkennen können; dass sie vielleicht sogar ‚Feinde‘ sind und dass natürlich Kritik im Bezug auf diese ‚Wahrheit‘ als Unmöglichkeit erscheinen muss. Eine Verschärfung dieser Selbstermächtigung kann sich dann dort ergeben, wo etwas in Geltung gesetzt wird und dann aber nachträglich die eigene Setzung durchgestrichen und einer ‚äußeren‘ Macht oder einem ‚objektiven‘ Faktum zugeschrieben wird (man denke z.B. an die Funktion der ‚objektiven Geschichte‘ im Stalinismus).
‚Populismus‘, so als eine mögliche Auslegung einer selbstwidersprüchlichen dogmatischen Logik betrachtet (selbstwidersprüchlich darin, dass eine partikuläre Setzung keine absolute ist; dass die eigene Setzung zugleich nicht die eigene ist usw.), bildet dann genau die selbstaffirmativen Strukturen heraus, die es beinahe unmöglich machen, den Selbstwiderspruch zu sehen, gerade deswegen, weil er die Position ist, von der aus man spricht. – Ich habe das in meiner Dissertation ausführlicher analysiert, wenn diesbezüglich Interesse besteht.
Man könnte sich also darauf konzentrieren, was eigentlich das Gemeinsame ist, was Laclau, Zizek, Badiou (z.B. im Paulus-Buch), Arendt usw. als Populismus, Dogmatismus, Ideologie, Totalitarismus usw. beschreiben, in Absehung von einem bereits ausdifferenzierten Begriffsfeld und im Hinblick auf die gemeinsame Struktur, die immer wieder beschrieben wird.
Mag am Anspruch liegen, tut es aber nicht… Natürlich sind Konzepte nicht wahr oder falsch, sondern immer nur mehr oder weniger nützlich. Gerade unter diesem Gesichtspunkt aber sind sie natürlich auf ihre Brauchbarkeit, ihren analytischen Mehrwert zu befragen. Im Fall der Konzeptionalisierung des Populismus anhand von Idealtypen, auf die sich das angeführte Zitat bezieht, ist das Problem nun nicht, dass die Wirklichkeit dem Ideal nicht entspricht (welche Wirklichkeit entspricht schon einem Ideal) – sondern dass der Abstand zwischen Idealtyp und einzelnen Fällen zu groß wird, um letztere durch erstere zu erhellen.
Davon abgesehen liegen wir ja soweit nicht auseinander: Ich schlage ja, im Anschluss an Laclau, gerade vor, Populismus „phänomenübergreifend“ als politische Logik gesellschaftlicher Grenzbestimmung zu verstehen, die also die Frage nach dem „Ganzen“ stellt. Und ich bin auch vollkommen einverstanden, dass diese „Struktur, die immer wieder beschrieben wird“, auch noch unter anderen Namen verhandelt wird. Aber warum sollte mich das abhalten, mit diesem Wissen in eine laufende Debatte einzugreifen, die eben unter dem Stichwort „Populismus“ geführt wird? Und was spricht dagegen, zunächst die Engstirnigkeit bestehender Definitionen offen zu legen, wenn es mir doch gerade darum geht, Populismus als etwas Allgemeineres zu verstehen?
Im Übrigen sind selbstaffirmative Strukturen keine exklusive Eigenschaft totalitärer Regime – auch demokratische Gesellschaften bleiben stets ein Stück weit darauf angewiesen, vgl. etwa Derridas Ausführungen zum Paradox der Verfassung, die sich ein Volk gibt, dass sich eben dadurch erst als solches konstituiert. Zwar kann man sich die Kontingenz kollektiver Entscheidungen bewusst halten, und genau das versteht Laclau ja auch unter „radikaler Demokratie“. Aber treffen kann man kollektive Entscheidungen eben nicht nur aufgrund von Kontingenzbewusstsein. Insofern würde ich auch differenzieren zwischen der dogmatischen, ideologischen, populistischen Logik einerseits, die niemals restlos zu vermeiden ist, weil sie eine sozialstabilisierende Funktion erfüllen, und einer totalitären Gesellschaft, die alles dieser Logik zu unterwerfen versucht.
„Mag am Anspruch liegen, tut es aber nicht“ – Einer Regel folgen glauben ist nicht: einer Regel folgen.
“ Natürlich sind Konzepte nicht wahr oder falsch, sondern immer nur mehr oder weniger nützlich.“ – Wer legt das fest?
„… ist das Problem nun nicht, dass die Wirklichkeit dem Ideal nicht entspricht … sondern dass der Abstand zwischen Idealtyp und einzelnen Fällen zu groß wird…“ – Also mit anderen Worten: Dass der Abstand zwischen den wirklichen Fällen und dem Ideal eine Entsprechung von Wirklichkeit und Ideal eher eher verunmöglicht. Und wo ist jetzt der Unterschied zu meinem Einwand – außer dass Du es in Deinen eigenen Worten ausgedrückt hast? Wer bestimmt eigentlich, wann und nach welchen Kriterien die „einzelnen Fälle“ einem Idealtyp genügen? Sind diese Fälle dann nicht eigentlich Fälle von x, also einem Idealtyp?
„… warum sollte mich das abhalten, mit diesem Wissen in eine laufende Debatte einzugreifen…?“ – Keine Ahnung. Warum sollte es Dich abhalten? Ich habe das jedenfalls nicht behauptet – sondern schlicht eine Alternative vorgeschlagen.
„… was spricht dagegen, zunächst die Engstirnigkeit bestehender Definitionen offen zu legen…“ – Gar nichts. Aber Du „legst“ diese Engstirnigkeit nicht „offen“, sondern behauptest sie einfach, ohne Angabe von Kriterien.
„Im Übrigen sind selbstaffirmative Strukturen keine exklusive Eigenschaft totalitärer Regime…“ – Ja. Habe ich das behauptet? Nein.
„… auch demokratische Gesellschaften bleiben stets ein Stück weit darauf angewiesen, vgl. etwa Derridas Ausführungen zum Paradox der Verfassung, die sich ein Volk gibt, dass sich eben dadurch erst als solches konstituiert…“ – Auch wenn Autoritätsargumente in den PoWi irgendwie zum guten Stil geworden sind (was sie nicht sind), verwechselt dieses Argument die Setzung eines nur bestimmte Möglichkeiten setzenden Dogmas mit der Setzung eines alle Möglichkeiten ermöglichenden (ja, das ist reflexiv) Postulates. Das heißt: Im Gegensatz zum Totalitarismus, der z. B. ein kontingentes Kriterium als Definition der Zugehörigkeit zu „Allen“ an den Anfang setzt, zeigt a) das Postulat seine Setzung im Status eines „als-ob“ an (vgl. die angeblich „naturgegebene“ Rasse des NS und die „objektive“ Geschichte des Stalinismus mit der Präambel des GG – aber das schreibst Du ja selbst: „…kann man sich die Kontingenz kollektiver Entscheidungen bewusst halten…“) und ermöglicht b) auch noch den Widerspruch gegen sich selbst (weil aber dafür das Postulat in Anspruch genommen werden kann, ist dieser Widerspruch zugleich ein Selbstwiderspruch). Hier wäre also zu differenzieren. Oder kurz: Ja, Postulate haben gewisse Ähnlichkeiten mit Dogmatismen. Aber sie sind nicht mit ihnen identisch.
„… treffen kann man kollektive Entscheidungen eben nicht nur aufgrund von Kontingenzbewusstsein…“ – Aber selbstverständlich kann man das, denn die kontingente Setzung z. B. von bürgerlichen Grundrechten gewinnt durch den Souverän eben den Status eines reflexiven Postulates: Jede weitere Diskussion wird erst durch DIESE Setzungen ermöglicht. Deswegen heißt das ja auch „Gesellschaftsvertrag“…
„… die niemals restlos zu vermeiden ist, weil sie eine sozialstabilisierende Funktion erfüllen…“ – Ja: stabilisierend. Aber eben nicht konstitutiv. Dogmatische Strukturen sind wesentlich für unseren Umgang miteinander im Alltag. Aber die Postulate unserer demokratischen Grundordnung sind – inklusive übrigens der „Demokratie“ selbst – allesamt reflexiv: Meinungsfreiheit, Nicht-Intoleranz (via Anerkennung der Menschenrechte), „Würde“ (die ich mit Pico als „liberalitas“ verstehe) usw.