Interview mit Axel Honneth, Teil II: Wie kritisch ist die normative Rekonstruktion?

Im ersten Teil des Interviews mit Axel Honneth, das wir zum Abschluss unseres Online-Lesekreises zu seinem neuen Buch „Das Recht der Freiheit“ mit ihm führen konnten, war vor allem die Methode der normativen Rekonstruktion und die Herausforderungen einer solchen Herangehensweise zur Sprache gekommen. Im zweiten Teil steht nur vor allem das kritische Potential einer derart gewonnen Theorie und ihr Verhältnis zur politischen Praxis im Mittelpunkt.

 

Andreas Busen: Vielleicht können wir noch einmal darüber reden, was überhaupt das kritische Potenzial einer rekonstruktiv gewonnenen Theorie ist, und was die kritische Rolle des Philosophen ist, der so vorgeht? Im Buch schreiben Sie, dass es darum geht, bestimmte ungenutzte Praxispotenziale freizulegen. Geht das Aufweisen solcher Potenziale über ein Angebot hinaus, das man der Gesellschaft machen kann? Wie sehen Sie die gesellschaftliche Rolle des Philosophen vor dem Hintergrund einer solchen Herangehensweise?

Axel Honneth: Wahrscheinlich müsste ich auch hier wieder in zwei Stufen antworten. Einerseits legt die jeweilige normative Rekonstruktion sukzessiv in Erscheinung tretende Bedingungen der Realisierung von Freiheit in den entsprechenden Sphären frei. Und die Bedingungen, die auf diesem Wege rekonstruktiv freigelegt werden, sind insgesamt so anspruchsvoll, dass sie als solche schon Kriterien liefern, deren Realisierung weit über die Gegenwart hinauszielen würde. Man kann sich das am besten deutlich machen am Beispiel der Sphäre der politischen Öffentlichkeit. Es gibt dort eine Passage, in der ich auf fünf oder sechs Seiten versuche, die Bedingungen zu skizzieren, die nötig wären, um tatsächlich soziale Freiheit innerhalb der Öffentlichkeit zu garantieren. Das sind äußerst anspruchsvolle Bedingungen, die aber gewissermaßen nur rekonstruktiv freigelegt werden, indem sie immer wieder an bestimmten sozialen Ereignissen oder Einsichten deutlich gemacht werden, die im Prozess der Realisierung der politischen Öffentlichkeit gewonnen wurden. Wenn man sich diese Bedingungen zusammengenommen anschaut, ist hier bereits ein Anspruch formuliert und freigelegt, den zu erfüllen die Aufgabe zukünftiger Generationen sein wird – denken Sie nur an so etwas wie die Qualität der Medien, die eine solche Bedingung darstellt.

Dasselbe gilt aber auch für den Markt. Dort habe ich eine bestimmte Passage aus dem Grund eingefügt, die Ansprüche, die aus der bereits hinter uns liegenden Geschichte herausgezogen werden können, einmal gesammelt kurz darzustellen. Sie können als Hinweise auf normative Ansprüche gelten, die erfüllt sein müssten, wenn der Markt tatsächlich soziale Freiheit garantieren soll. Und dann macht man sich klar, dass dazu so etwas gehört wie eine Form der Demokratisierung der Wirtschaft, der Etablierung relativ sinnvoller Arbeitsplätze und so weiter, und dann sieht man, wie anspruchsvoll das Kriterium plötzlich ist. Und das ist allein auf rekonstruktivem Wege gewonnen. Das heißt, es ist gewonnen auf einem Wege, der sich zu vergegenwärtigen versucht, welche Forderungen mit guten Gründen im Laufe der Entwicklung der jeweiligen Sphäre erhoben wurden, um die Bedingungen dafür geltend zu machen, dass soziale Freiheit in der jeweiligen Sphäre möglich ist. Insofern ist es, glaube ich, eine Fehldeutung – ich nehme das immer als Fehldeutung wahr – wenn man mir sagen möchte, mehr als eine Rechtfertigung bereits in der Vergangenheit erreichter Formen der Realisierung von Freiheit werde hier gar nicht geliefert. Wenn man sich das genau anschaut, sind Kriterien freigelegt, die weit über das hinausweisen, was gegenwärtig oder auch in der Vergangenheit bereits etabliert war.

Das ist der erste Teil der Antwort. Der zweite Teil wäre, dass ich natürlich bewusst die Frage offenlasse, ob es nicht für die Verwirklichung der versprochenen sozialen Freiheit andere institutionelle Formen geben könnte als die, mit denen ich mich im Buch beschäftige. Das ist eine Frage, die, glaube ich, nicht in den Aufgabenbereich des Philosophen fällt, der diese Geschichte schreibt, weil er sie nur bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Und solange sich solche Alternativen nicht geschichtsmächtig auftun – wie etwa die Idee der Kibbuzim als Alternative für die etablierten Familienformen – würde das Berufen auf sie in den Hegelschen Worten ein bloßes Sollen sein. Deswegen beschränke ich mich darauf, sie historisch kurz zu erwähnen, sie aber nicht weiterzuverfolgen, weil sie bislang keine Geschichtsmächtigkeit angenommen haben.

 

Das heißt, man muss sich im Prinzip auch auf eine gewisse kritische Praxis verlassen, oder hoffen, dass so etwas noch möglich ist?

Ich würde die beiden Schritte, die ich unterschieden habe, schon auseinanderhalten. Anweisungen dafür, wie die Sphären zu gestalten wären, gibt es aus der historischen Verfolgung der Auslegungsgeschichte und Konfliktgeschichte bereits genug. Das heißt, man hat ein Bündel von normativen Einsichten bereitstehen, die erst zukünftig abgearbeitet werden könnten. Damit geht man schon weit hinaus über das Netzwerk gegenwärtiger institutioneller Verhältnisse. Die Frage, ob es anderer Formen der institutionellen Realisierung der jeweiligen sozialen Freiheit bedürfte, fällt wirklich außerhalb meiner eigenen Regie. Das muss man der Imaginationsfähigkeit zukünftiger sozialer Bewegungen, der Imaginationsfähigkeit der sozialen Praxis, überlassen.

 

Soziale Bewegungen bzw. eine bestimmte Form von kritischer Praxis könnten sich also auf diesen Horizont berufen, der durch die normative Rekonstruktion aufgespannt wird. Aber was dann passiert ist in gewisser Weise kontingent, weil es zukunftsgewandt und entsprechend nicht absehbar ist? Oder ist möglicherweise mit Blick auf die gegenwärtige Situation und die Möglichkeiten, die sich für eine solche Praxis bieten, nur noch Resignation möglich?

Nein. Ich glaube ich hätte an einigen Stellen mehr tun müssen, um Keime einer zukunftsweisenden Realisierung der zugrundeliegenden Freiheitsversprechen schon in der Gegenwart auszumachen. Das gilt vor allen Dingen für die Sphäre des Marktes, das habe ich eben schon erwähnt. Hätte ich mir klar gemacht, dass es doch mehr Formen sozialer Experimente mit – sei es marktsozialistischen oder kooperativen – Formen der Einhegung  der Marktes gibt, als sie mir vor Augen standen, dann hätte ich stärker auf diese verweisen müssen, auch mit Ausblick auf die Zukunft – hier hat mir nach Abschluss meines Buches die Lektüre der eindrucksvollen Studie von Erik O. Wright, Envisioning Real Utopias, sehr weitergeholfen, in der eine Reihe von experimentellen Projekten aufgeführt werden, die heute in Richtung einer stärkeren Vergesellschaftung des Marktes unternommen werden. In keinem Fall scheint es mir geboten, Projekte rein theoretischer oder ideeller Art einfach noch dranzufügen. Das verträgt sich nicht mit dem Unternehmen. Aber das andere habe ich an bestimmten Stellen vielleicht zu stark vernachlässigt, am ehesten für den Bereich des Marktes. Man könnte sich fragen, ob ich nicht auch im Bereich der politischen Öffentlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit auf alternative Formen der Demokratie, die bereits in praktischer Überprüfung sind, hätte verweisen können. Was die persönliche Sphäre anbelangt, wüsste ich nicht, dass ich da etwas an gegenwärtigen Experimenten tatsächlich unterschlagen oder nicht hinreichend zur Kenntnis genommen habe, weil die Experimente mit anderen Formen der Institutionalisierung von Kindererziehung im Augenblick eher brachliegen, wie mir scheint.

 

Gerade der Punkt Familie ist im Lesekreis durchaus kritisch diskutiert worden. Auch hier stellt sich wieder die Frage, inwiefern der normative Horizont, den die Rekonstruktion aufspannen kann, nicht doch stärker an bestimmte Institutionen und deren historische Entwicklung gebunden ist, als man das möglicherweise zuerst denkt, und man doch sehr schwer darüber hinaus gehen kann. Gerade hier scheint das Verhältnis zwischen Fehlentwicklungen einerseits, und abweichenden Entwicklungen, die sich aber im Nachhinein als positiv erweisen, andererseits, interessant zu sein. Ist das nicht ein Hinweise darauf, dass auch zukünftige solche „neuen“ Institutionen möglich sind?

Vielleicht lässt sich das am besten am Beispiel der Kibbuzim erörtern. Man könnte rückblickend sagen, dass sich dort Experimente abgezeichnet haben, die darauf zielten, das Versprechen sozialer Freiheit in persönlichen Beziehungen noch viel radikaler zu interpretieren als es im Gehäuse der bürgerlichen Familie – auf die ich mich ja im Wesentlichen beziehe – möglich ist: andere Formen familiärer Strukturen, Preisgabe der Dreigliedrigkeit des Familiensystems, stattdessen Großgruppen, die gemeinsames Eigentum haben, die die Kindererziehung vergesellschaften, bei denen es gemeinsame Verantwortung unter verschiedenen Paaren für die Kindererziehung gibt – Experimente, die interessant sind, und die ich überhaupt nicht zur Erwähnung bringe. Das ist, könnte man sagen, eine bestimmte Beschränkung schon im Material. Die interessante Frage ist natürlich, systematisch gesehen, ob man das verstehen kann als Erweiterungen und Radikalisierungen des institutionellen Versprechens sozialer Freiheit in den jeweils angelegten institutionellen Sphären, von denen ich in den persönlichen Beziehungen drei unterscheide, oder ob das die Hervorbringung ganz neuer Institutionen ist. Das ist eine systematisch schwierige Frage. Wenn es eine soziale Bewegung in Richtung der Kibbuzim gäbe, müsste man sagen: hier wird experimentiert mit einer neuen sozialen Institution, und nicht: es ist bloß eine Erweiterung.

 

Und auch nicht nur eine Uminterpretation?

Und auch nicht nur eine Uminterpretation der vorherrschenden Institution. Ich glaube, es hängt mit den historischen Umständen zusammen, dass ich darauf nicht gestoßen bin. Ich sehe so etwas im Augenblick nicht. Ich hätte vielleicht ein bisschen stärker aufmerken müssen im historischen Durchgang, dass es solche Experimente gab. Ich weiß, dass ich die Wohngemeinschaften erwähnt habe, als Expansion oder Neudeutung. Aber die entscheidende Frage ist, systematisch gesehen: ab wann ist eine radikalisierte Ausdeutung der versprochenen sozialen Freiheit in sozialen Beziehungen dazu angetan, eine neue Institution hervorzubringen, die historisch noch gar nicht wahrnehmbar ist.

 

Die Frage stellt sich natürlich aus der Perspektive von Politik-Mitgestaltenden in etwas anderer Form. Wenn wir sagen, dass traditionelle Modelle einer bestimmten Kernfamilie an vielen Stellen nicht mehr verwirklicht oder verwirklichbar sind, wie versuchen wir dann als Politik-Gestalter damit umzugehen? Versuchen wir, das doch wieder irgendwie zu ermöglichen, oder überlegen wir uns, wie sich bestimmte Funktionen, die die Kernfamilie erfüllt hat, vielleicht anderweitig zur Verfügung stellen lassen? Hier könnte man ja mit neuen Ideen experimentieren und etwa sagen: wir können uns im Moment keine neue Institution vorstellen, die allein die Aufgabe der traditionellen Familie übernimmt, aber vielleicht lässt sich das auf verschiedene Institutionen aufteilen – etwa auf Kinderkrippen und ähnliche Institutionen. So oder so ähnlich könnte sich aus einer Politik-Gestaltungs-Perspektive die Situation darstellen, wenn man einerseits den – durch eine normative Rekonstruktion gewonnen – normativen Horizont ernstnimmt, andererseits aber sich von bestimmten Institutionen zu lösen versucht, weil man feststellt, dass diese nicht mehr funktionieren.

Vieles an der Beschreibung würde ich teilen. Und ich glaube ja auch, dass die normative Rekonstruktion immer wieder auf solche historischen Momente gestoßen ist, an denen tatsächlich Neues hervorgebracht worden ist. Nichts, was ich für würdig hielte, zu sagen: es ist eine neue Institution; wohl aber eine radikale Erweiterung. Die Hervorbringung der Institution der homosexuellen Ehe ist eine solche Neuerung, und sicherlich verdankt sie sich einer Neudeutung dessen, was soziale Freiheit in dieser Sphäre ausmachen sollte. Ich würde ein bisschen abweichen von dieser Perspektive, die in der Rede vom Politik-Gestalten angelegt ist. Ich glaube, dass sich das intentional nicht herstellen lässt, sondern dass es sich wenn überhaupt den Experimenten verdankt, mit denen die Betroffenen selbst es unternehmen, als zu eng empfundene Gehäuse aufzusprengen und neue institutionelle Formen zu finden. Da kommt die politische Gestaltung – und das ist hier im Wesentlichen die rechtliche Ausgestaltung – immer zu spät. Sie kann nachträglich solche Experimente in eine gewisse rechtliche Form gießen,. Aber ob man hier selbst unter dem Gesichtspunkt der experimentellen Politikgestaltung herangehen kann, ist mir eher unklar. Ich glaube eher, es verdankt sich immer der radikalen Imagination der Beteiligten, die so etwas hervorbringen. Noch ein Wort zu den Kibbuzim: Es spricht vieles dafür, auch wenn man die Dokumente des Untergangs der ganzen Bewegung liest, dass man es als eine fehlgeschlagenen Versuch der Neuinstitutionalisierung sozialer Freiheit in persönlichen Beziehungen verstehen kann. Ich bin mir aber unsicher. Wenn man diese Dokumente liest und sich versichert, was da stattgefunden hat, so stellt man ja relativ resignativ fest, dass diese Experimente gescheitert sind, wie auch viele Experimente einer radikalen Version der Wohngemeinschaft.

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