Die Bedeutung imaginativer Prozesse für die Konstitution politischer Ordnungen stand im Mittelpunkt eines Workshops, der im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Freiheit und Gesetz“ an der Goethe-Universität Frankfurt/Main stattfand. Unterstützt wurde die Veranstaltung (21.-22- Oktober) von dem ansässigen Exzellenzcluster „Normative Orders“. Das Imaginäre, welches von den Teilnehmern vor allem als ästhetisch-schöpferisches Moment der Einbildungskraft zugeordnet wurde, entfaltet dabei seine Wirkung jenseits der Dichotomie von Wirklichkeit und Vorstellung. Zu unscharf, um empirisch als bildhafte Repräsentation dauerhaft festgehalten zu werden und doch wirkmächtig in seinem Verhältnis zu den materiellen Reproduktionsverhältnissen einer Gesellschaft, verläuft das Imaginäre quer zu den Differenzen von Wahrheit und Fiktion. Folgt man Castoriadis, Lefort und Rancière, die mit ihren Überlegungen zu einer neuen theoretischen Ernsthaftigkeit des Imaginären in der politischen Philosophie beigetragen haben, so geht das imaginative Moment im Politischen nicht in der Sichtbarkeit von Repräsentationsverhältnissen auf, sondern schwankt zwischen Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit und hat damit wesentlichen Anteil am Schwanken politischer Ordnungen. Politische Umbrüche sind daher nicht als Freimachen von Illusionen und Aufdecken der „wirklichen“ Verhältnisse zu verstehen, sondern sind selbst stets imaginär angeordnet. Da in demokratischen Verhältnissen die Besetzung und strukturelle Ordnung politischer Macht dauerhaft oder zumindest periodisch zur Disposition steht (Leforts „leerer Ort der Macht“), rückt hier die Bedeutung des Imaginären in eine prominente Position, insofern sich für die Erscheinungsweisen politischer Artikulation neue Beschreibungsformen eröffnen.
Ethel Matala de Mazza (Berlin) leitete in die Arbeiten des französischen Semiotikers Louis Marins über den Fabeldichter Jean de La Fontaine und die bildhaften Verkörperungsstrategien der Macht im politischen Repräsentationsverhältnis des Absolutismus ein. Sie machte dabei anhand der Fontaineschen Fabelkönige deutlich, dass Illusionierung und Desillusionierung von Allmacht unweigerlich zusammengehören. Das schöne Bild der Macht korrespondiert mit dem hässlichen Bild des königlichen Exempels, beschrieben als Coup oder Eklat. Dabei stehen sich nicht Fiktion und Wirklichkeit, göttliche Allmacht und sterblicher Körper gegenüber, sondern beide Bilder sind als Bilder imaginativ und real zugleich. Offen blieb bisweilen, wie diese nahezu „perfekte Logik“ des Absolutismus durchbrochen werden kann und welche Rolle das Imaginäre in der Neukonstituierung der Gesellschaft durch die Französische Revolution spielt.
Hier setzte Oliver Marchart (Luzern) in seinem Vortrag über das „David´sche Moment“ der Revolution in Frankreich an. Der neoklassische Maler Jacques-Louis David kann als revolutionärer Repräsentant in doppelter Hinsicht verstanden werden: Als aktiver Revolutionär und „Parteikünstler“ sowie malender Kommentator der politischen Verhältnisse zwischen Terror und Neu-Konstitution. Die Enthauptung des Königs versinnbildlicht die unumkehrbare „Mutation“ der politischen Repräsentationsverhältnisse: Die Gesellschaft verbleibt kopflos, die Stelle der Macht bleibt latent leer und entzieht sich durch das demokratische Dispositiv einer permanenten Neubesetzung. Vereinheitlichende Momente sind nur noch imaginär, als „Repräsentation der Anwesenheit der Abwesenheit“ eines letzten Grundes des Sozialen möglich – und zwar, so Marcharts These, als ästhetisches Moment.
Eine materialistische Perspektive des Imaginären nahm Martin Saar (Frankfurt/Main) mit einem Beitrag über Politik und die Einbildungskraft bei Spinoza ein. Im Anschluss an Deleuze und Balke zeigte er Spinozas Vorreiterrolle für die Theorien des Unbestimmbaren des Sozialen auf. Trotz ihrer mechanistischen Prämissen lässt Spinozas Theorie der „epistemischen Psychodynamik“ Raum für Fehler, Ungenauigkeiten und Unschärfen. Dieses imaginäre Potential entfaltet sich dann in der Gesellschaft als Aufeinandertreffen von Körpern und verbindet sich mit der Möglichkeit reflexiver Mäßigung der eigenen Affektivität durch „epistemische Arbeit an sich selbst“. Es wurde anschaulich, wie Spinozas Erkenntnistheorie ins Praktisch-Politische gewendet werden kann, doch kam die Frage auf, ob dieser Übergang bei Übernahme der erkenntnistheoretischen Prämissen Spinozas schlüssig ist.
Weniger vermögenstheoretisch als „archäologisch“ trat Friedrich Balke (Weimar) dem Übergang von der Figur der fiktiven Person des Königs zur imaginären Gesellschaft entgegen. Die doppelte Figuration der königlichen Körpers bei Kantorowicz weicht der „Gesellschaft als imaginäre Institution“ bei Castoriadis. Im historischen Übergang von der fiktionalen Allmacht des Königs zur Fiktion der „unkonditionierten Dogmatik“ der Gesellschaft löst sich das Imaginäre aus seinen fundierungstheoretischen Fesseln und radikalisiert sich in einer Artistik von Symbolsprachen. Die fragile Dauerhaftigkeit instituierter Macht kann damit nicht mehr als staunend hingenommen werden.
Castoriadis stand auch im Zentrum des Beitrags von Gerhard Gamm (Darmstadt). Als neuzeitlicher Denker weiß Castoriadis um die Kontingenz theoretischer Erkenntnis und den Pragmatismus praktischer Erfahrung. Dennoch hält er an der Hoffnung auf eine revolutionäre Gesellschaft fest, allerdings ohne dabei den marxistischen Geschichtsdeterminismus aufzunehmen. Die „Autonomie Aller“, Bedingung und Ziel jeder revolutionären Praxis, bewahrt die Gesellschaft vor dem Zerfall in reine Kontingenz. Die Diskutanten waren sich weitestgehend einig, dass sich Castoriadis mit dem emphatischen Autonomie-Begriff eine begründungstheoretische Last aufhalst, unter der seine Konstruktion zusammenzubrechen droht.
Ähnlichen Begründungsschwierigkeiten sah sich auch Waltraud Meints-Stender (Hannover) in ihrem Vortrag über den Zusammenhang von politischer Freiheit und Einbildungskraft bei Hannah Arendt ausgesetzt. Schwierig ist hier weniger die transzendentale Begründung der Freiheit durch die Prinzipien der Natalität und Pluralität, sondern der Übergang vom präpolitischen Gründungsakt zur politischen Freiheit als Artikulation im öffentlichen Raum. Die Praxis der politischen Freiheit scheint von einer Ethik des Blickwechsels eingeschlossen, was jene zu voraussetzungsvoll erscheinen lässt, um die Exklusion derer, die vom Erscheinungsraum des Kommunikativen ausgeschlossen bleiben, zu vermeiden.
Einen Versuch, die Unangemessenheit bezüglich des Politischen bei Arendt zu überwinden, stellte Juliane Rebentischs (Offenbach) Vortrag über Erscheinungsweisen des Politischen dar. Der „Erscheinungsraum des Miteinander“ wird dabei einer möglichen Transformation geöffnet, in der Umverteilungen der Anerkennung politischer Subjekte nicht ausgeschlossen werden. Diese Volte gelang Rebentisch unter Heranziehung der Theorie des Politischen von Jacques Rancière. Dessen Trennung von „Polizei“ als Ordnungsregime des Sichtbaren und „Politik“ als Moment der Neustrukturierung der Sichtbarkeitsregime ermöglichen die Problematisierung des öffentlichen Raums und dessen Veränderbarkeit.
Isolde Charim (Wien) beschloss den Workshop mit ihren Überlegungen zum „demokratischen Glauben“ im Anschluss an Claude Lefort. Charim fragte, wie ein demokratisches Subjekt möglich ist, wenn es keine identitätsstiftende Mitte der Gesellschaft gibt, auf das sich das Subjekt beziehen kann. Ihre Antwort: Durch einen Glauben an etwas Imaginäres, an eine Bühne, auf der sich die gesellschaftlichen Konflikte darstellen, ohne auf Dauer gelöst zu werden. Dieser demokratische Glaube ist säkularer Glaube an eine Instanz, die so wenig göttlich wie allmächtig ist. Das hat zur Folge, dass das demokratische Subjekt ein Weniger an Identität aber ein Mehr an Möglichkeitssinn besitzt, eine Figuration, die an Rortys „liberale Ironikerin“ erinnert.
Jan Obracaj ist Doktorand am Konstanzer Exzellenzcluster “Kulturelle Grundlagen von Integration”. Er promoviert zum Verhältnis von Kontingenzbewusstsein und Demokratie.
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