Bis vor kurzem konnte ich mir nicht vorstellen, das klassische Buchformat und das damit verbundene Leseerlebnis zugunsten der Lektüre von Ebooks auf einem digitalen Ebook-Reader wie dem Kindle aufzugeben. Und auch wenn ich immer noch sicher bin, dass ich auch in Jahrzehnten noch gedruckte Bücher lesen werde, habe ich mir doch zuletzt zunehmend die Frage gestellt, ob nicht gerade im wissenschaftlichen Alltag Ebook-Reader eine sinnvolle Ergänzung sein könnten. Seit zwei Wochen habe ich nun das Vergnügen, einen Kindle DX von Amazon benutzen zu können und so soll dieser Beitrag nun das Angebot für die Technik-Interessierten unter euch sein, ein wenig über die Vor- und Nachteile des Kindle im Besonderen und vielleicht auch von Ebooks im Allgemeinen zu diskutieren.
Zunächst zu den Vorteilen:
1.) Ganz weit vorne ist auf jeden Fall der Bildschirm. Bis ins letzte habe ich diese e-Ink-Technologie noch nicht verstanden, im Ergebnis hat man aber auf jeden Fall eine Darstellung, die tatsächlich „wie gedruckt“ erscheint und sich auch mindestens genauso gut lesen lässt. Wie Johnny Haeusler von Spreeblick schreibt:
„Mein erster Versuch, das Gerät zu benutzen, scheiterte einige Sekunden lang daran, dass ich die mit gestochen scharfer Schrift bedruckte Folie einfach nicht vom Kindle-Screen abgelöst bekam. Als ich feststellte, dass es sich keineswegs um eine Folie handelte, sondern bereits um den Screen des Kindle im Betriebszustand, war ich dann doch sehr beeindruckt.“
2.) Da ich den Kindle v.a. auch dafür nutzen wollte, nicht mehr so viele pdf-Dateien von Zeitschriften-Artikeln ausdrucken zu müssen, habe ich mich für die größere Variante, den Kindle DX, entschieden. Und tatsächlich lassen sich auf dem 9,7-Zoll-Bildschirm fast alle pdfs sehr gut darstellen. Der integrierte pdf-Reader schneidet dabei weißen Rand automatisch ab, so dass der eigentliche Text größer dargestellt werden kann. Bei den allermeisten Artikeln aus wissenschaftlichen Zeitschriften funktioniert das sehr gut. An die Grenzen gerät dieses System allerdings, wenn die pdf-Dateien Druckmarken enthalten. Dann kann der Kindle den weißen Rand nicht wegschneiden und stellt den Text dementsprechend kleiner da. In solchen Fällen bleibt dann aber immer noch die Möglichkeit, den Kindle seitlich zu drehen, so dass der horizontal verfügbare Platz größer wird. Normale Din A4-Seiten werden dann in der Regel zweigeteilt, was einen Klick mehr bedeutet, aber auch nicht wirklich stört. — So oder so, seit ich den Kindle benutze, habe ich keine pdf-Datei mehr ausgedruckt.
3.) Mit 4 GB Speicher bietet der Kindle die Möglichkeit, eine Unmenge an Dateien immer zur Hand zu haben. Ein normaler Artikel im pdf-Format liegt grob geschätzt im Schnitt bei 0,5 MB, bei 4 GB kann man also etwa 8.000 pdf-Dateien auf dem Kindle speichern. Ebooks brauchen meistens ein bis zwei MB, aber auch da braucht man eine ganze Weile, bis der Speicher voll ist.
4.) Immer mehr University Presses bieten ihre Bücher nun auch als Ebooks an. Besonders schön dabei ist, dass man sich bei allen Büchern immer ein Probekapitel herunterladen kann. Soweit ich das überblicke, gilt das auch für Bücher von deutschen Verlagen. Allerdings sind da noch nicht alle Verlage dabei, und gerade im Wissenschaftsbereich sieht es noch etwas mau aus.
5.) Der Kindle ist ein Gerät, mit dem man Texte lesen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Was ich als Vorteil verbuchen würde, kann man sich doch beim Lesen tatsächlich auf den Text konzentrieren.
6.) Die Batterien des Kindle halten sehr, sehr lange. Das liegt wiederum an der Art des Bildschirms. Hat der Kindle erst einmal eine Seite dargestellt, verbraucht er dann im Grunde kaum noch Energie, da er anders als normale Computerbildschirme keine Hintergrundbeleuchtung hat.
Die Nachteile des Kindle ergeben sich nach meinem Empfinden v.a. daraus, dass dieser zumindest bis jetzt nicht auf die professionelle Benutzung in wissenschaftlichen oder ähnlich text-zentrierten Kontexten ausgelegt ist. Vielmehr ist er im Moment noch v.a. dafür gedacht, dass man damit über Amazon einzelne Bücher zum privaten Gebrauch kauft. Konkret ergeben sich daraus die folgenden Schwächen:
1.) Wenn man den Kindle per USB-Kabel anschließt, erscheint er als USB-Laufwerk und man kann dann ganz einfach Dateien darauf laden. Diese Dateien kann man dann auch in Ordner sortieren, so wie wahrscheinlich jeder von uns seine pdf-Sammlung sortiert. Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen spiegelt der Kindle diese Ordner-Struktur aber nicht wieder. Macht man dem Kindle nach dem Beladen mit eigenen Dateien wieder an, erscheinen vielmehr alle Dateien im sogenannten „Home“-Ordner. Von dort aus kann man die Dateien dann wieder „Kollektionen“ zuordnen, allerdings auch nur einzeln. Bei fünf Dateien ist das unproblematisch, bei fünfhundert jedoch vollkommen unakzeptabel. Gerade für die Benutzung im wissenschaftlichen Kontext ist das meiner Meinung nach ein ernstes Problem. Es gibt da mittlerweile ein paar, allerdings etwas klapprige Workarounds. Ich selbst bin aber mittlerweile dazu übergegangen, Dateien nach Bedarf auf den Kindle zu packen. Wodurch der Vorteil des großen Speichers natürlich verloren geht… Andererseits ist die technische Lösung bei diesem Problem so naheliegend und einfach, dass Amazon das eigentlich zeitnah hinkriegen sollte.
2.) Damit verbunden könnte ich mir elegantere Möglichkeiten vorstellen, den Kindle mit Dateien zu beladen. Im Moment geht das nur per USB-Kabel oder per E-Mail, wobei bei der Zustellung per E-Mail zumindest beim Kindle DX (der über kein WLAN verfügt) immer Gebühren anfallen. Was also wenig attraktiv ist. Schöner wäre es, wenn der Kindle sich beim Anschließen per USB automatisch mit einem entsprechend vordefinierten Ordner synchronisieren würde. Und am allerschönsten wäre es natürlich, wenn ich den Kindle mit meiner Dropbox verbinden könnte!
3.) Ein großes Manko ist, dass man im Moment in pdf-Dateien weder Markierungen noch Notizen hinzufügen kann (was zumindest mit Adobe Acrobat Pro bei allen pdfs möglich ist). In richtigen Ebooks geht das, aus Gründen, die sich mir nicht erschließen bei pdfs aber nicht. Da ich sowieso die Neigung habe, mir wichtige Textstellen in Form von kurzen Exzerpten zu notieren, stört mich das nicht. Wer aber viel in Texten anstreicht oder auch mal eigene Gedanken am Rand festhalten will, wird mit dem Kindle in der jetzigen Form wohl eher nicht glücklich.
4.) Der Preis ist noch immer ziemlich hoch. Den „kleinen“ Kindle gibt es mittlerweile für 140 bis 190 Euro, den „großen“ Kindle DX muss man aber immer noch aus den USA bestellen und zahlt dann inkl. Versand und Zoll etwa 330 Euro.
Eignet sich der Kindle nun für den wissenschaftlichen Alltag? Noch kämpft das Gerät mit den beschriebenen Schwächen und lässt sich darum für wissenschaftliche Zwecke nur eingeschränkt empfehlen. Persönlich bin ich trotzdem recht begeistert und habe auch die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wenigstens einige der Probleme durch zukünftige Software-Updates behoben werden können. Vielleicht habt ihr aber ja auch noch andere Erfahrungen gemacht? Oder könnt einen anderen Ebook-Reader empfehlen? Oder seid überzeugt, dass das iPad für den wissenschaftlichen Betrieb besser geeignet ist?
Full Disclosure, um Missverständnissen vorzubeugen: Amazon hat mich in keiner Weise zu diesem Text aufgefordert, oder gar dafür entlohnt. Und auch an dem Link zu Amazon verdienen wir als Theorieblog nichts, das soll nur ein Service für Euch sein.
Update 1.7.2011: Auch nach mehr als einem Monat bin ich von dem Display des Kindle noch immer ziemlich begeistert; tatsächlich habe ich in der Zwischenzeit fast nichts mehr für die Uni ausgedruckt. Dafür bin ich aber mittlerweile auf zwei weitere Probleme gestoßen: (1) Die Tastatur des Kindle ist nahezu unbenutzbar. Die Tasten reagieren extrem schwerfällig und das gleichzeitige Drücken von Umschalttaste und einer weiteren Taste erfordert enorme akrobatische Fähigkeiten. Was vor allem ärgerlich ist, wenn man auf eine bestimmte Seite in einem längeren Dokument zugreifen will. (2) Es gibt in normalen Amazon Ebooks keinerlei Seitenangaben. So kriegt man zwar erfreulich viele wissenschaftliche Bücher für den Kindle, kann daraus dann aber nicht anständig zitieren. Dabei zeigt zum Beispiel Oxford Scholarship Online wie man Seitenangaben halbwegs elegant auch in andere Formate übernehmen kann.
Update 30.8.2012: Nachdem Thorsten vor kurzem über die Vor- und Nachteile des iPads für wissenschaftliches Arbeiten geschrieben hat, nun noch mal ein kurzes Update nach mittlerweile über einem Jahr Bekanntschaft mit dem Kindle DX. Im Wesentlichen hat sich meine Einschätzung kaum geändert, was vielleicht aber für sich genommen auch schon ein Problem ist: Was die Software des Kindle angeht hat sich im letzten Jahr nichts getan und so bestehen die oben genannten Probleme, z.B. bei der Dateiverwaltung weiter, fort. Eine positive Entwicklung ist, dass immer mehr Kindle-Ebooks jetzt auch Seitenzahlen angeben können. Das ist sicher kein großes neues Feature, aber für das wissenschaftliche Arbeiten enorm wichtig.
In Gesprächen mit interessierten Kollegen hat sich dabei für mich außerdem herausgestellt, dass zwei Dinge wichtig zu betonen sind: (1) Wenn ich von den Vorzügen des Kindle für wissenschaftliches Arbeiten spreche, meine ich den großen Kindle DX, den man immer noch über die USA bestellen muss. Mit dem „normalen“ Kindle sind pdfs ein Grauen und könnte ich mir darum nicht vorstellen, zu arbeiten. (2) Für die Entscheidung ob Kindle oder iPad scheint mir sehr wichtig zu sein, wie man Texte liest. Wer gerne viel unterstreicht, sich im Text Notizen macht und vielleicht auch gerne noch ein paar Zeichen an den Rand malt, wird mit dem Kindle unglücklich werden. Für diese Art der Nutzung ist dann das iPad sicherlich besser geeignet. Wer hingegen, wie ich, lieber Texte exzerpiert, sollte mit dem Kindle gut zurecht kommmen – und kann dann den wirklich großartigen e-Ink-Bildschirm genießen.
Würde der Rezension in jedem Punkt zustimmen. Man kann zwar einzelne Textpassagen durchaus unterstreichen, allerdings immer nur gleichartig markieren: nicht dick oder dünn oder gekringelt (wie etwa beim kostenlosen Foxit Reader) – das stört im Umgang mit Texten tatsächlich.
Dazumal empfinde ich die Format-Probleme nach wie vor als äußerst störend. Klar, man kann das Kindle auch seitlich „nehmen“ um fehlende Textpassagen besser lesen zu können: doch hilft all dies nichts, verbleibt nur die Möglichkeit des „Zooms“: das wiederum macht das Lesen eines Textes geradezu unmöglich, da jeder Seitenbereich einzeln vergrößert werden muss. Eine einzelne, ausgedruckte DIN-A4-Seite wird so am Kindle zur Tortur.
Ich lasse jetzt mal außen vor, dass ich – gerade bei wissenschaftlichen Texten – eine direkte Arbeit an und mit dem Text bevorzuge (bewaffnet mit einem Arsenal aus Textmarkern und Farbstiften). Dennoch: Die Praktikabilität ist auch aus normaler Lesersicht mehr als dürftig. Noch.
Ein schöner Artikel zum selbigen Thema findet sich im heutigen Feuilleton der SZ: „Karthographieren im Geiste.“ Hier wird auf Basis einer Studie die „Hochschultauglichkeit“ des Kindles in Frage gestellt respektive angezweifelt. Gerade beim „reagierenden Lesen“ stößt das Kindle an seine Grenzen. „Als „reagierendes Lesen“ bezeichnet man die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Text während des Lesevergnügens (…) Exzerpte, Visualisierungen und Lesezeichen. (…) Ein E-Book Reader erfüllt genau diese Bedingung offenbar sehr schlecht.“
@Gordibus: Vielen Dank für deine ergänzenden Hinweise! Hast du den SZ-Artikel auch irgendwo online finden können?
Wobei ich mich dem Befund ob der Unmöglichkeit „reagierenden Lesens“, so wie ich das jetzt aus dem kurzen Teil, den du zitiert hast, entnommen habe, nicht ganz anschließen würde. Lesezeichen sind bei Ebooks ja kein Problem und erst recht nicht das Anfertigen von Exzerpten. Ich würde also eher sagen, dass bestimmte Formen reagierenden Lesens wie Anstreichen oder eben auch Visualisierungen im Moment technisch nicht möglich sind — und Ebook-Reader wie „das“ Kindle (habe ich jetzt gelernt…) darum eben für Leute mit dieser Art von Leseverhalten nur bedingt geeignet sind.
Was das Zitieren angeht, muss sich die wissenschaftliche Welt dann wohl an das Zeitalter der E-Reader gewöhnen und „Locations“ akzeptieren 😉
Wie man vernünftiger Weise Exzerpte macht, habe ich allerdings nicht herausgefunden. Screenshots in Text umwandeln ist doch affig. Natürlich kann man wie in alten Zeiten, Text abschreiben, aber auch das ist doch Mist. Es müsste doch möglich sein, Textpassagen irgendwo zu zitieren. Ich weiß schon, warum Amazon das verhindern möchte, aber dann kann ich mir Kindle auch sparen.
Vielen Dank für den Review.
Ich nutze den Kindle Reader auf meinem Android-Tablet; bin ebenfalls begeistert vom Handling und dem eigentlichen Lesen.
Ich bin jedoch entsetzt, dass es auch jetzt noch keine gescheite (und vor allem wissenschaftlich tragfähige) Möglichkeit des Zitieren von Textpassagen gibt.
Es mag schon sein, dass irgendwann einmal „locaction“ akzeptiert werden (insbesondere bei ausschließlich elektronisch veröffentlichten Werken), aber bis dahin ist diese Kindle-Lösung eine reine Sackgasse.
SCHADE SCHADE!
>> Oder hat jemand da etwas geeignetes gefunden? (Muß nicht kostenlos sein!)
Enjoy
Christian
Danke für den Bericht. Da ich auch nicht ständig pdf-Dateien für den wissenschaftlichen Bereich ausdrucken möchte, suche ich nach einer E-Ink alternative, die der Kindle DX nur fast zu sein scheint.
Kann jemand etwas zur Eignung insbesondere zu pdf’s bei den 9,7-Zoll-Geräten von PocketBook sagen? Der Preis von ca. 300 € und Linux als Betriebssystem klingen erstmal ganz gut. Via Bluetooth soll auch eine Tastatur angeschlossen werden können. Aber pdf’s kann man offenbar nicht bearbeiten (also keine Notizen, Markierungen, etc. speichern).
Der Onyx M90 kann das angeblich. Mit Wacoom-Touchscreen für handschriftliche Notizen scheint das Geräte auch interessant. Hat hier jemand Erfahrung, insbesondere bzgl. „reaktivem Lesen“?
PDF-Dateien können über die kostenlose Send-to-Kindle-Adresse bei Amazon ganz einfach ins ebook-Format umgewandelt werden. Dann stehen alle Funktionen wie Unterstreichen, Annotieren, Zoom, etc. zur Verfügung.