Demokratietheorie im Digitalen: Ein Reflexionsdiskurs über nachhaltige Updates und disruptive Innovation (Replik)

Dennis Rudolf und Robert Brumme antworten heute auf den Kommentar von Ann-Kathrin Koster und Sebastian Berg auf ihren ZPTh-Artikel, den wir am Montag veröffentlicht haben.

 

“Paradigmata können durch normale Wissenschaft überhaupt nicht korrigiert werden. Vielmehr führt die normale Wissenschaft […] letztendlich nur zum Erkennen von Anomalien und zu Krisen.“
(Kuhn 1976: 134)

Finden sich im Zuge eines Kommentars gleich mehrere Einsprüche substantieller Natur gegenüber den Definitionen, Rekonstruktionen, Interpretationen und Argumenten eines wissenschaftlichen Artikels, muss in der Tat dessen Relevanz für die übergeordnete Debatte hinterfragt werden. Mit Blick auf die Potentiale einer fruchtbaren Auseinandersetzung, wollen wir mit unserer Replik jedoch die Lesart unterstreichen, dass sich dieser Umstand auf ein tieferliegendes Problem hinsichtlich der Rolle der Politischen Theorie und der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zurückführen lässt. Schließlich gilt auch für die demokratietheoretische Debatte die Erkenntnis „that our scientific knowledge is fallible, and that even cherished truths may be overthrown by future research means, that we never now anything” (Moon 2004: 26). Uns erscheint es insofern konsequent und folgerichtig, dass wir mit unserer kritischen Befragung Einsprüche substantieller Art bei den Kommentator:innen hervorgerufen haben. Wir erkennen in unseren Ausführungen aber weder eine Abwertung bestehender Perspektiven in der Digitalisierungsforschung (S. 5) noch die sprichwörtliche Notwendigkeit, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vielmehr wollen wir einen Beitrag zur Bearbeitung eines demokratietheoretischen Pluralismus leisten, in welchem Schwerpunktsetzungen mit ihren jeweiligen ‚Stärken‘ über mögliche ‚Schwächen‘ hinwegtrösten müssen.

Mit Blick auf die sogenannte Realismus-Debatte (u.a. Hall 2015) zielt unser Argument auf das prinzipielle Problem, das sich ergibt, wenn zur Lösung vordigitaler Krisen auf machtvermittelte Deutungen der Demokratie bzw. vorgelagerte Realitäten des Digitalen zurückgegriffen wird. Besonders eindrücklich wird dies im Zuge eines digitalen Solutionismus (Schulz 2021), wenn bspw. die liberal-repräsentative Demokratie ‚westlicher‘ Bauart zum alternativlosen Referenzpunkt für die Forterzählung im Digitalen wird. Denn durch den Rückzug auf etablierte Modelle und Rechtfertigungen (Achen/Bartels 2016) können entsprechende Ansätze hier Gefahr laufen, gerade keine nachhaltigen Lösungen für ausgebliebene demokratische Versprechen zu liefern, sondern primär das normative Paradigma zu reproduzieren. Worauf wir mit unserem Beitrag aufmerksam machen wollen, ist, dass eine Demokratietheorie, die als Reflexionsdiskurs fungieren soll, ihre Antworten im Zuge einer digitalen Transformation nicht auf dem Feld der Macht suchen sollte. Schließlich gibt es, nicht zuletzt mit Blick auf die weltpolitische Lage, in der Tat viele gute Gründe für Demokratie (S. 5) – als scientific community verteidigen wir deren Gültigkeit jedoch auch im Digitalen nicht durch bloße Affirmation, sondern durch Reflexion und immanente Kritik (Jaeggi 2009; Jörke 2011; Runciman 2017).

Um zu unterstreichen, warum es gerade angesichts der Konstruiertheit von Politischer Theorie, digitaler Technik und sozialer Realität wichtig ist, an der Balance zwischen kritischer Reflexion und technologischer Aktualität zu arbeiten, möchten wir drei Punkten des Kommentars nachgehen. Der Forderung nach klaren Begriffen bzw. der Verwendung eines klaren Begriffs des Digitalen, dem Strohmann einer digitalen Demokratietheorie sowie der Frage nach Realität und Reflexion eines offenen Betriebssystems der Demokratie.

 Digitale Diffusität: Die Grenzen klarer Begriffe für einen überkomplexen Gegenstand

Die Debatte um die richtige Umschreibung des Digitalen ist so alt wie die Digitalisierung selbst. Zwar mag es sich hier in der Tat um eine Floskel handeln, diese ist jedoch nicht ohne Relevanz für die Umschreibung einer gelungenen Perspektive (S. 2). In der Forschungsliteratur besteht einerseits Einigkeit darüber, dass aufgrund der Komplexität und hohen Veränderungsraten des Digitalen möglichst präzise semantische und strukturelle Grenzen definiert werden müssen. Andererseits bleibt jedoch unklar, wie trennscharf und einheitlich Konzepte des Digitalen für den wissenschaftlichen Austausch überhaupt sein können oder müssen. Wir argumentieren diesbezüglich, dass Beschreibungen des Digitalen mitunter dazu tendieren, bereits angenommene Folgen und Erwartungen in Rechnung zu stellen, um daraus selektive Konzepte abzuleiten. Als „radikale Verfügbarkeitstechnik“ (Schulz 2021) erscheint das Digitale dann bspw. als ermöglichendes, integratives und egalisierendes Tool, als universelles Überwachungs- und Kontrollorgan oder als eine Lösung für viele gesellschaftliche Probleme. Jeder Zugriff und jede analytisch starke Fassung des Digitalen erweist sich insofern als hilfreich, als sie bestimmte Probleme und Lösungen sehen und bearbeiten lässt.

Dass wir hier augenscheinlich keinen konkurrierenden Begriff des Digitalen einführen, liegt daran, dass wir mitnichten einen Mangel konstatieren (S. 1), sondern die unauflösbare Diffusität des Untersuchungsgegenstands akzentuieren wollen. Schließlich ergibt sich diese nicht nur aus der Komplexität, den Ambivalenzen, der Gemachtheit und dem Gedeutet-Sein des Digitalen selbst, sondern bietet eine Erklärung für unterschiedliche Zugriffe auf einer übergeordneten Ebene. Wenn das Digitale nicht als etwas (Ab‑)Geschlossenes zu verstehen ist, sondern sich dessen Ausbreitung und Veränderung stets mit spezifischen Technologien, Strukturen, Logiken, Bewertungen und Weltsichten verbindet, entfaltet sich eine gelungene Perspektive gerade aus der Betonung der Unterschiedlichkeit. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil eine entsprechende Reflexion darüber Aufschluss geben kann, welche Probleme und Lösungen uns spezifische, analytisch scharfe Begrifflichkeiten nicht sehen lassen bzw. sie nicht sehen können. Wir teilen damit die Forderung, klare Begriffe anzustreben, plädieren jedoch für Pluralität und gegen Tendenzen, die spezifische Begriffe des Digitalen für die politikwissenschaftliche oder politiktheoretische Auseinandersetzung verbindlich machen würden.

Der Strohmann der (digitalen) Demokratietheorie

Für die Frage nach der Relevanz einer dezidiert demokratietheoretischen Perspektive (S. 4) greift der Kommentar treffend auf, dass unsere Rekonstruktion der Debatte, nicht zuletzt mit Blick auf das übergeordnete Thema des Sonderheftes, grundlegend ist – allerdings weniger im Sinne einer Abgrenzung, sondern als Teil der Standortbestimmung einer historischen Kategorie. Dass sich die Krise der Demokratie in der Spätmoderne als derart ergiebig erweist, erklärt sich erst im Rahmen semantischer Transformationen, die einen umkämpften Begriff in eine weitgehend „hegemoniale Einheitsvorstellung“ (Brodocz 2015: 24) überführt haben. Inwiefern die digitale Transformation der Demokratie hier das Potential besitzt, zu Wiederbelebung, Innovation oder Überwindung beizutragen, bleibt Teil der offenen Forschungsdebatte. Um diesbezüglich jedoch alle Möglichkeiten auszuloten, geht es nicht um Abgrenzung oder Abwertung bestehender Forschungsperspektiven, sondern um das (trans‑)disziplinäre Zusammenspiel und Wechselverhältnis unterschiedlicher Theorietypen.

Die Rekonstruktion einer zweiten Welle digitaler Demokratie (Deseriis 2021), die sich mit einem pragmatischen oder netzrealistischen Fokus den Potentialen eines ko-evolutionären Prozesses zwischen Demokratie und Digitalisierung widmet, bildet daher in keiner Weise einen Strohmann (S. 5), den es abzuschießen gilt. Ebensowenig unterstellen wir damit Unreflektiertheit oder gar das Fehlen normativer Fundamente. Wir verweisen hier lediglich auf eine wahrgenommene Imbalance zugunsten technologischer Aktualität, die sich aus einer notwendigen Schwerpunktsetzung und damit verbundenen systematischen Erkenntnisgrenzen ergibt. Um nicht immunisierend zu wirken (S. 3), können stark anwendungsbezogene bzw. empirische Demokratietheorien, die versuchen den Begriff der Demokratie auf veränderte Umwelt- und Kontextbedingungen des 21. Jahrhunderts einzustellen, nicht ihre eigene Kritik leisten, weil sie die Diskussion über angemessene normative Kriterien stets um eine Ebene verschieben müssen (Buchstein 2013: 122).

Unsere normative Referenz zur Realismus-Debatte unterstreicht, dass Rechtfertigungsstandards für die Ausgestaltung politischer Ordnung und Macht nicht über den Verweis zu einem vermeintlichen Konsens oder Gold-Standard zu finden sind, sondern durch eine (ideologie‑)kritische bzw. genealogische Auseinandersetzung mit politischen Werten oder den Versuch des Zugriffs auf nicht-politische Werte. Kann die digitale Adaption vordigitaler Institutionen und Prozesse also tatsächlich die Versprechen der Demokratie nach mehr Partizipation, Freiheit, Gleichheit usw. einlösen oder liefert sie angesichts ungelöster vordigitaler Krisen und struktureller Probleme nur die Affirmation eines normativen Paradigmas im Digitalen? Die Frage nach Autonomie stellt hier kein neues oder nun zentrales Kriterium demokratietheoretischer Bewertung dar, sondern einen nicht-politischen Wert für die Reflexion und Kritik digitaler Innovationen. Ermöglichen sie tatsächlich mehr Autonomie in Bezug auf die Selbstbestimmung bzw. -wirksamkeit im politischen Prozess oder liefern damit verbundene Erzählungen des Digitalen vor allem Ressourcen im Kampf um spezifische Realitätsdeutungen, die anschließende Folgehandlungen im Sinne des eigenen Modells determinieren und verschleiern?

Für uns ändern sich die Ziele und Operationsmodi der Demokratietheorie (S. 4) demnach ebensowenig wie die Aufgaben des Teilbereichs: „it cannot replace conflict with harmony, it can only project a rational utopia, but not one in which our different ends and aspirations can be finally resolved“ (Moon 2004: 26). Erst im produktiven Verhältnis zwischen historischen, empirischen, formalen und normativen Theorietypen kann daher der Ertrag der Demokratietheorie maximiert werden.

Realismus und Reflexion inside the box

Das von uns vorgetragene Argument hinsichtlich der Gefahr einer Verquickung machtdurchzogener Erzählungen der Demokratie und des Digitalen erkennt im Plädoyer für eine Reflexion daher keine Grundsatzkritik, durch die „alles ‚vordigitale‘ gleich abgewertet oder aufgegeben“ (S. 5) wird. Wir begrüßen und schätzen jeden Beitrag, der sich mit den Problemen und Herausforderungen für Demokratie und Gesellschaft im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.

Als offenes Betriebssystem, welches seine eigenen Grenzen jedoch mitunter sehr genau kennt und teilweise recht eng führt, muss sich die Demokratie im Zuge digitaler Updates jedoch nicht nur der Frage stellen, wie innovations- und reformfähig sie tatsächlich ist, sondern ob damit Lösungen erreicht werden können, welche die Versprechen der Demokratie und des Digitalen nachhaltig(er) einzulösen vermögen. Formen immanenter Kritik und realistischer Theoriebildung stellen hier ein Angebot für den disziplinären Austausch dar. Zu einem Realismus in der demokratietheoretischen Debatte gehört jedoch auch, dass disruptive Optionen zur Diskussion auf dem Tisch bleiben müssen. Etwa, wenn die Affirmation eines alten Paradigmas (Levitzky/Ziblatt 2019) im Kontext neuer Gegebenheiten (Castells 2017; Stalder 2017) gerade keine nachhaltigen Lösungen mehr ermöglicht. Wiederum auf einem anderen Blatt steht, ob disruptive Konsequenzen, wie das Sterben der Demokratie als Beginn von etwas Neuem (Runciman 2018), überhaupt als wünschenswert erachtet werden können oder ob, im Vergleich dazu, nicht doch ein Nachvornestolpern die beste, wenn auch nicht ideale Option bleibt. Demnach geht es aber nicht darum, sich besonders innovativ und disruptiv zu geben, sondern Reflexion darüber zuzulassen.

Insofern teilen wir abschließend gerade nicht die Einschätzung, dass sich die Zielsetzungen der Autoren und Kommentator:innen „sehr nahe“ (S. 5) sind. Damit gehen aber eben keine grundlegenden Schwächen der einen oder der anderen Forschungsarbeit einher, sondern spezifische Stärken. Um diese für eine demokratietheoretische Debatte konstruktiv zu wenden, gilt es jedoch die Unwägbarkeiten eines ausdifferenzierten und kompetitiven Wissenschaftssystems zu umschiffen, in dem „political theorists have come to speak only to themselves, and even more narrowly, to those who share their own particular discourse [… ,] predilections and footnotes” (Moon 2004: 26f.).

Robert Brumme ist Postdoc am Lehrstuhl für Soziologische Theorien und Theoriegeschichte der Universität Rostock, Dennis Bastian Rudolf Postdoc am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Rostock.

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