Politische Theorie vs. politische Praxis. Zwei Anregungen zu einem Brückenschlag

Ganz gleich wo man die Anfänge der Politischen Theorie verortet, ob auf dem Marktplatz von Athen, wo Sokrates die Bürger zum Hinterfragen althergebrachter Ansichten anstiftete (ein im Arendtschen Sinne durch und durch politischer Akt), bei Machiavelli, der Fürsten das Regieren lehren wollte, oder bei Hobbes, der sich zum Ziel setzte, das zu leisten, was seiner Ansicht nach weder Platon noch Aristoteles gelungen war, nämlich Politik wissenschaftlich zu ergründen, stets schien sich die Frage nach der Praxistauglichkeit politischer Theorien aufzudrängen (auch wenn sie bei Sokrates, jedenfalls Platos Darstellungen zufolge, zugegebenermaßen weniger zentral war als etwa bei Machiavelli). Seither begleitet diese Frage in mehr oder weniger offensichtlicher Form jegliche Beschäftigung mit politiktheoretischen Fragen: Eher selten stand sie so sehr im Mittelpunkt der Untersuchung wie bei Marx, doch sogar dort, wo sie vermeintlich gar nicht zur Disposition stand (manche sehen dies bei Kant gegeben, andere bei Hegel), wurde sie schließlich von Kritikern ins Feld geführt. Dies lässt vermuten, dass die Frage nach der Praktikabilität von Politischer Theorie untrennbar mit derselben verbunden ist.

So überrascht es wohl auch wenig, dass sie Einzug in das Selbstverständnis von Politischen Theoretikern ebenso wie in das Fremdverständnis derer gehalten hat, welche die Theorien von außen bewerten. Während das eigene Verständnis davon, was man als Politischer Theoretiker zur politischen Praxis beitragen kann, in nicht unerheblichem Maße die persönliche Auffassung von Politischer Theorie mitbestimmt (es gibt wohl wenige, die ihre eigene Arbeit so verstehen, dass sie ausschließlich der Politischen Theorie selbst dient), wird das theoretische Abdriften von realpolitischen Fragen in der Außenwahrnehmung – etwa durch Wissenschaftler anderer Fachbereiche, manche Hochschulgremien und Stiftungen o.ä. – als Manko wahrgenommen, wodurch sich der Druck auf Politische Theoretiker erhöht, „Resultate” mit praktischer Relevanz zu liefern. Für diesen wachsenden Druck von außen bietet die jüngste Zeit eine Vielzahl an Beispielen. Zwei seien hier erwähnt.

Das offensichtlichere Beispiel bezieht sich auf eine Gruppe von Ideengeschichtlern, die oftmals unter dem Label „Cambridge School” zusammengefasst werden, obgleich hier streng genommen von einer einheitlichen „Schule” kaum die Rede sein kann. Seit den 1960er Jahren haben sich Quentin Skinner und John Dunn, die zu den führenden Vertretern gezählt werden, immer wieder zu Wort gemeldet, um die Abgehobenheit vor allem normativer politischer Theorien von Realpolitik zu kritisieren (Für Skinner siehe das Vorwort zu The Foundations of Modern Political Thought, Volume 1 (1978), für Dunn siehe The History of Political Theory and Other Essays (1995), vor allem die Einleitung). Das subtilere Beispiel bezieht sich auf die Vergabe finanzieller Mittel durch manche Stiftungen und Hochschulgremien, welche die besagten Mittel mehr oder minder gezielt dazu einsetzen, politische Theorien von praktischer Relevanz zu fördern oder Stelleneinsparungen dort vorzunehmen, wo diese Relevanz bezweifelt wird. Beide Entwicklungen greifen schon seit einiger Zeit in den USA und in Großbritannien um sich und auch in Deutschland gibt es Anhaltspunkte, die für die Zukunft ähnliches befürchten lassen. (Ich möchte es hier bewusst bei diesen schwammigen Ausführungen belassen). Kurzum: Sowohl von Innen als auch von Außen wird die Praxistauglichkeit politischer Theorien thematisiert und problematisiert.

Doch trotz der kritischen Einwürfe der erwähnten Ideengeschichtler ist in den letzten Jahrzehnten innerhalb “der” normativen politischen Theorie die Frage, ob und was man denn zur praktischen Politik beitragen könne, kaum diskutiert worden. Im Anschluss an Rawls werden normative politische Theorien traditionell in zwei Lager eingeteilt: “ideal” oder “non-ideal theory” (A Theory of Justice, 1999: 216). (Weder die Art und Weise, in der diese Unterscheidung in der Folge verändert wurde, noch der Sinn und Zweck der Unterscheidung selbst, muss uns hier beschäftigen). Vertreter “idealer” Theorien unterstreichen in der Regel, dass die Hauptaufgabe normativer Theorie darin bestehe, Gerechtigkeit in Form von idealen Prinzipien zu ergründen und sie reflektieren erst in einem zweiten Schritt (wenn überhaupt) darüber, wie diese Prinzipien auf die politische Praxis einwirken könnten. Auf der anderen Seite betonen diejenigen, welche “non-ideal theory” verteidigen, dass politische Theorien dazu eingesetzt werden sollte, politische Handlungen im Hier und Jetzt anzuleiten, anstatt abstrakte Prinzipien zu entwickeln, wobei damit die angestrebte Praktikabilität der entworfenen Empfehlungen keineswegs feststeht.

Seit ein paar Jahren jedoch ist unter normativen Politischen Theoretikern beider Lager ein Umdenken erkennbar, und die Frage, wie ein Brückenschlag zwischen “Theorie” und “Praxis” aussehen und funktionieren könnte, wird mehr und mehr auf die Tagesordnung gehoben. Dies gilt vor allem für den anglo-amerikanischen Sprachraum, allerdings hat sich die Debatte m. E. bereits auf Deutschland ausgeweitet. Zwei dieser Vorschläge seien hier kurz dargestellt (mit all den Vereinfachungen, die eine kurze Darstellung mitunter erfordern). Der erste Vorschlag stammt von den normativen Theoretikern Adam Swift und Stuart White, der zweite von Raymond Geuss, einem eher historisch ausgerichteten politischen Philosophen.

Normative Politische Theorie + Sozialwissenschaften= Politikberatung?
Adam Swift und Stuart White plädieren dafür, analytische Politische Theorie mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen anzureichern (Adam Swift & Stuart White (2008) „Political Theory, Social Science, and Real Politics“, in: David Leopold und Marc Stears (Hrsg.) Political Theory. Methods and Approaches, S. 49-69). Beide verweisen zunächst darauf, dass die Rolle der Politischen Theorie beschränkt sei durch zwei Faktoren: Zum einen würden normative Theorien sich in der Regel nicht in konkret verwertbare politische Empfehlungen niederschlagen, sodass diese Theorien um empirische, sozialwissenschaftliche Befunde ergänzt werden müssten, welche in einem bestimmten Kontext zu erarbeiten seien. Zum anderen erinnern sie uns daran, dass Theoretiker und Politiker auf sehr unterschiedlichem Terrain agieren: Politiker müssen Wahlen gewinnen und sich deshalb nach der öffentlichen Meinung richten. Das politisch Machbare richte sich nach der öffentlichen Akzeptanz. Politische Theoretiker unterliegen diesen Zwängen offensichtlich nicht. Warum sollten Politiker dennoch Politischen Theoretikern Gehör schenken? Swift und White zufolge basiert auch das politisch Machbare, so praxisorientiert es auch sein mag, stets auf einer normativen Beurteilung der Sachlage. Hier könnten Politische Theoretiker helfen, eine reflektierte Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Es gehe nicht darum, sich zu Philosophenkönigen aufzuschwingen, sondern lediglich darum, die Qualität des Argumentationsprozesses zu steigern und Ressourcen zu liefern. Im Gegenzug sollten Politische Theoretiker auch an praktischer Politik interessiert sein, schon allein wegen der politischen Implikationen ihrer eigenen Theorien. Swift und White sind sich jedoch gewisser Schwierigkeiten im Zusammenspiel von Theoretikern und Politikern bewusst: a) Politische Theoretiker neigen zu sehr starken Verallgemeinerungen, b) die Dinge, über die sie diskutieren stehen in der politischen Praxis selten zur Diskussion, c) und sie streiten nicht darüber, was gemacht werden soll, sondern warum. Swift und White sind allerdings überzeugt, dass der Brückenschlag von Politischer Theorie und politischer Praxis unter Einbeziehung von empirischen Befunden gelingen und diese Schwierigkeiten überbrücken könnte.

Allerdings sind diese Anregungen weder neu, noch ganz so unproblematisch wie Swift und White sie darstellen. Bernard Williams wies bereits 1980 darauf hin, dass „it is a marriage broker’s optimism to suppose that the mating of reflexive philosophy with the consciousness of social reality gives reflexive social consciousness: as Bernard Shaw said to the actress: suppose it has your brains and my looks“. Das bloße Zusammenspiel an sich taugt also nicht als adäquate Lösung des Problems. Vielmehr obliegt es wohl dem einzelnen Theoretiker, in einem bestimmten Kontext und mit Bezug auf eine konkrete Fragestellung eine Vermittlung von Theorie und Praxis vorzunehmen, und schließlich darauf zu hoffen, dass die daraus gewonnenen Empfehlungen einem Praxistest standhalten würden.

Kontext-gebundene Politische Theorie + (marxistisch-leninistische) Ideologieforschung = Realistische Einschätzung der politischen Welt?
Kontextbezogene Anregungen liefert Raymond Geuss in seinem Buch Philosophy and Real Politics (2008). Geuss sieht die Ursachen des Problems hauptsächlich bei einer Richtung des politischen Theoretisierens, einem starken Kantianismus, der sich dem Slogan “Politik ist angewandte Ethik” in einer bestimmten Richtung verpflichtet: nämlich als “ideal theory”, welche Ethik so versteht, als könne man sie betreiben, ohne sie in dem Rest des menschlichen Lebens zu verorten und ohne Beziehungen zu Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Psychologie und Wirtschaft herzustellen. Die Sicht, die er verurteilt “assumes that one can complete the work of ethics first, attaining an ideal theory of how we should act, and then in a second step, one can apply that ideal theory to the action of political agents” (ebd.: 8). Mit anderen Worten: Geuss lehnt die scharfe Unterscheidung von is and ought, von Sein und Sollen, sowie die Vorreiterrolle der Ethik gegenüber der Politik, ab. Zielscheiben seiner Kritik sind in erster Linie John Rawls, Robert Nozick und Jürgen Habermas. Sein von Lenin, Nietzsche und Weber inspirierter “realistischer” Ansatz basiert auf der Annahme, dass Politik nicht auf idealen Prinzipien basiere, sondern auf konkreten Machtverhältnissen. Demnach solle sich Politische Theorie mit fünf Aufgaben beschäftigen:

(1) Zu verstehen, wie soziale, wirtschaftliche, politische Institutionen und Akteure tatsächlich operieren, wie sie Entscheidungen treffen, und was sie wirklich dazu motiviert.
(2) Bürger in die Lage zu versetzen, politische Institutionen und politische Maßnahmen kritisch zu bewerten im Hinblick auf deren Sinnhaftigkeit und Effizienz. Dabei ist Politik historisch zu verorten und als ein Handwerk zu verstehen.
(3) Bürgern Orientierung zu bieten und ihnen dabei zu helfen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu finden.
(4) Konzeptionelle Innovationen einzuführen, um nicht nur darauf zu reflektieren, wie die Welt verstanden werden kann, sondern dieses Verständnis gegebenenfalls. zu verändern.
(5) Ideologien aufzudecken, die sich hinter der Ausübung von Macht verbergen, wenn etwa partikulare Interessen sich als Universalinteressen präsentieren.

Nun kann man sowohl gegen Geuss’ Vorschlagskatalog als auch gegen seine Ursachenanalyse mehrere Einwände erheben. Um mit Letzterer zu beginnen: Kant lehnt moralistische Politik ab und nicht nur Rawls‘, sondern auch Habermas‘ Theorien enthalten (kritische) Elemente, in welchen Idealisierungen die Funktion erfüllen, gegenwärtige politische Gewohnheiten zu ändern und Strukturen aufzubrechen. Sicherlich kann man mit Geuss bezweifeln, ob Rawls und Habermas die Verbindung von “Theorie” und “Praxis” geglückt ist. Im Hinblick auf Geuss’ Vorschläge ist anzumerken, dass man seine marxistische Auffassung von Ideologie nicht teilen muss, um in seinen Vorschlägen Sinnvolles entdecken zu können. Aber wenn Geuss sagt, dass politische Ansichten auf spezifische Konfigurationen von Macht zurückzuführen sind, die anderenfalls unbemerkt bleiben würden, so stellt sich die Frage, ob es nur Ansichten sind, die auf bestimmten ideologischen Machtkonfigurationen basieren (Kapitalismus), während andere (Marxismus) nicht-ideologisch und progressiv sind? Dies jedenfalls ist ein Eindruck, den man beim Lesen seines Buches gewinnen könnte.

In gewisser Hinsicht geht er von ähnlichen Ausgangspunkten aus wie Swift und White. Alle drei Autoren fordern, dass politische Theorie empirische Forschung ernst nehmen und miteinbeziehen sollte. Doch für Geuss bedeutet dies, dass sie kontext-orientierte und machtpolitisch informierte Thesen schmiedet, während sie nach Swift und White eher empirische Erkenntnisse mitverarbeitet, um nicht allzu sehr ins Abstrakte abzudriften. Während für Geuss Politische Theorie eine engagierte Disziplin ist (in dem Sinne, dass sie direkt in politische Fragen interveniert und die eigenen historisch-kulturellen Ansichten im Blick behält), verstehen Swift und White Politische Theoretiker als “demokratische Hilfsarbeiter”, als Zuarbeiter demokratischer Regierungen.

Inwiefern sind die hier dargestellten Anregungen hilfreich? Sprechen sie repräsentativ für Politische Theorie in anderen Ländern wie Deutschland? Oder haben wir es hier mit zwei Positionen zu tun, die ausdrücken, was nur an Instituten in Oxford und Cambridge gelehrt wird? Die aktuellen Diskussionen in Deutschland über Geuss’ Buch lassen vermuten, dass der Zusammenhang von Politischer Theorie und politischer Praxis nun auch hierzulande (wieder) schärfer in den Blickpunkt rückt.

Jens Olesen promoviert in Politischer Theorie am Department of Politics and International Relations der University of Oxford. Seine Dissertation befasst sich mit „Methods of Interpretation and their Significance for Political Theory“.