Vom Nutzen und Nachteil einer kritischen Sozialwissenschaft – Bericht von einer Aachener Podiumsdiskussion

Den ca. neunzig ZuhörerInnen im randvoll gefüllten Saal des Philosophischen Instituts der RWTH Aachen wurde ein gehaltvoller theoretischer Disput geboten: Neben Helmut König, dessen 60. Geburtstag den Anlass der Veranstaltung darstellte, nahmen mit Hauke Brunkhorst und Heinz Bude zwei Soziologen teil, die um bisweilen polarisierende Zeitdiagnosen nicht verlegen sind.

Brunkhorst machte den Auftakt und fragte nach Verbindungslinien zwischen den theoretischen Anknüpfungspunkten Helmut Königs. Herbert Marcuse und Hannah Arendt, eigentlich Antipoden, verbinde doch die kritische Rezeption Heideggers und die Idee, die ontologische Differenz von Sein und Seiendem umzukehren. Marcuse setze die revolutionäre Praxis, Arendt die politische Revolution an die Stelle des Heideggerschen Seins. Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Republikanismus schieden sich die beiden doch am Egalitarismus. Brunkhorst betonte, die kritische Theorie habe vom Republikanismus gelernt, dass sich eine weltverändernde Praxis im Sinne von Marx nur in den Formen öffentlichen demokratischen Handelns vollziehen, aber eben auch scheitern könne. Brunkhorst spitzte seine Gedanken in fünf Thesen zu: (1) „Kritische Theorie ist nur möglich, wenn die Leute selbst ihre Gesellschaft kritisieren“. (2) Von Walter Benjamin sei nicht nur zu lernen, dass Kritik stets einen Zeitkern habe, sondern auch, dass die Möglichkeit von Kritik auch aus einer Kritik der Kritik erwachse. (3) Soziologische Zeitdiagnose könne systemische Risiken oder Krisen in den Mittelpunkt rücken. Kritische Theorie aber „ist normativ motivierte Krisentheorie“ und nicht zu verwechseln etwa mit der Risikotheorie der „Schröder-Beck-Giddens-Ära“: „Ökologische Probleme sind in dieser Gesellschaft immer mit Klassendifferenzen verkoppelt“. (4) „Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ sei für ihn „die wichtigste Einsicht kritischer Gesellschaftswissenschaft“. Latente (Klassen-)Konflikte können nur manifest werden, „indem sie ins Arendt’sche Licht der Öffentlichkeit treten“. Dann würden sie zum Motor von gesellschaftlichen Lern- und normativ fortschreitenden Anpassungsprozessen und daher zu begrüßen. (5) Schließlich sei Kritische Theorie nicht mehr (allein) eine Theorie der Klassenkämpfe, sondern allgemeiner Theorie sozialer Konflikte, die aus der funktionalen Differenzierung entstehen.

Heinz Bude konstatierte, in der Soziologie sei nun das Projekt einer Gesellschaftstheorie wieder in den Vordergrund getreten, nachdem es zwanzig Jahre durch Differenzierungs- und Rational Choice-Theorie marginalisiert gewesen sei. Prominent würden nun wieder „Grundfragen“ der Soziologie, wie sie Ralf Dahrendorf u.a. thematisiert hatten. Begriffe wie Herrschaft, Ungleichheit, Ideologie seien wieder in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. „Die Leute wollen wissen, wer Gewinner und wer Verlierer ist, wer lügt und wer belogen wird“. Von der Soziologie werde wieder zunehmend die Benennung gesellschaftlicher Gegebenheiten erwartet. Die Soziologie laufe deswegen allerdings Gefahr, zu einer „Empörungs-Verstärkungs-Wissenschaft“ zu werden, die nur einem Ressentiment nachlaufe und keine praktische Aufklärung betreibe. Anhand der drei genannten Grundbegriffe illustrierte Bude, dass damit nicht weit zu kommen sei: das Problem der Ungleichheit am Beispiel von Partizipationssteigerung bei gleichzeitiger Exklusionsverstärkung; die Herrschaft anhand des Wechselspiels von ungezügelter territorialer Eliten (Wilders, Berlusconi, Sarkozy) und smarten administrativen Eliten, zwischen denen Herrschaft „zugleich gewildert und gezähmt werde“. Ideologiekritik schließlich brauche für eine „entlarvende Analyse“ irgendeinen Punkt der Wahrheit. Dieser entfalle jedoch ebenso, wie die Aussicht auf eine groß angelegte kritische Handlungsperspektive. Sozialwissenschaftler müssten sich der großen Unruhe öffnen: Es brauche Zusammenhangshypothesen, eine Klärung über die Entstehung kollektiver Akteure und einen normativen Horizont, „der sich an den großen Themen unserer Zeit schärft“ (Max Weber).

Helmut König schickte seinem Beitrag voraus: „Ich bin ein Eklektiker. Mir leuchtet einfach viel zu vieles immer ein“. Er versuche auch nicht, „irgendeine Art von systematischer Gesellschaftskritik zu entwickeln“. Im Anschluss an Danny Trom bezeichnete er Geschichte, Wissenschaft und Empörung als die klassischen gemeinsamen Bezugspunkte kritischer Gesellschaftstheorie. Nachdem nun das Vertrauen in die Geschichte als Gewähr des Fortschritts und in die Wissenschaft als Möglichkeit, Gesellschaft als Zusammenhang zu erkennen, geschwunden sei, bleibe allerdings nur noch die „transzendental obdachlos gewordene“ Empörung, doch „wenn sich die Sozialwissenschaft der Empörung anschließt, dann haben wir unser Geld nicht verdient“. Die Aufgabe der Wissenschaft sei, Empörung vom Umschlagen in Raserei abzuhalten. Im Anschluss an Michael Walzer bezeichnete König drei idealtypische Weisen von Gesellschaftskritik: Die Offenbarung (man berufe sich auf eine Erleuchtung, überbringe Wahrheiten wie Moses die zehn Gebote), die Erfindung (man konfrontiere die Welt mit normativen Idealen, wie es populär John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit gelungen sei), und drittens die Interpretation, bei der man Motive aus dem Gegenstand selbst für Kritik heranziehe („immanente Kritik“ im Sinne von Marx). König bezog für eine Mischung aus der zweiten und dritten Variante Position. Der kritischen Theorie hielt er vor, keinen Begriff des Politischen und von Freiheit zu haben. Ihr wohne eine „Trauer des Animalischen“ inne, weil Gesellschaft „das eigentlich Geschlossene bleibe, das immer irgendwie weitergeht“.

In der Diskussion präzisierte Helmut König seine Kritik an Brunkhorsts Position. Dieser vertrete das Klassenkampf- und Fortschritts-Paradigma mit viel Emphase, doch „was ist eigentlich der Grund dafür, dass uns die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts so wenig interessiert?“ Ihm gehe das Wegwischen des stalinistischen Terrors zu schnell. Vorsichtig, aber entschieden formulierte König: „Ich bin kein Anhänger von Glucksman und anderen, die den Terror des Stalinismus bis Hegel zurückverfolgen. Aber ich glaube nicht, dass diese Schrecken mit dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie nichts zu tun haben“. Der Marxismus denke die Gestaltung der Gesellschaft wie die effektive Reorganisation eines Industriebetriebs, sowohl ihm als auch der Kritischen Theorie fehle ein originär politischer Freiheitsbegriff. Hauke Brunkhorst widersprach dem Widerspruch. Tatsächlich hafte der Kritischen Theorie die „tiefe Trauer des Animalischen“ an: „But don’t they have a point?“ Er halte der kritischen Theorie doch einen „sense of injustice“ zugute, den neuere Freiheitsbegriffe vernachlässigten.

Heinz Bude stimmte König zu: „Es ist wahr: Die Auseinandersetzung mit dem Gulag hat in Deutschland fast keine Rolle gespielt“. Gerade Marx sei allerdings im Kern ein Denker, der sich nicht mit der Geschichte abfinde. Bude bezog sich weiter auf Luc Boltanskis „Soziologie der Kritik“. Boltanskis Figur sei der kritisch agierende Alltagsmensch und der sei Realist und kritisiere nie überzogen. „Boltanski reagiert aber mit einem Kniefall davor“. Die Kritik dürfe sich aber nicht allein auf diesen Realismus stützen, schloss Bude und fügte an Helmut König gerichtet hinzu: „Der kritische Alltagsmensch ist nicht nur ein Realist, er ist immer auch ein Sehnsuchtsmensch“.


Alban Werner ist Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift “Das Argument”. Seine Dissertation befasst sich mit politischer Opposition in europäischen Wohlfahrtsstaaten im gesellschaftlich-politischen Strukturwandel. Er interessiert sich für die Grundfragen politischer Soziologie, insbesondere Demokratie-, Staats- und Herrschaftstheorien.

15 Kommentare zu “Vom Nutzen und Nachteil einer kritischen Sozialwissenschaft – Bericht von einer Aachener Podiumsdiskussion

  1. Vielen Dank für die schöne Zusammenfassung. Ich oute mich an dieser Stelle, dass ich vom ersten Beitrag von Brunkhorst nach etwa fünf Minuten kein einziges Wort mehr verstanden habe. Insgesamt war ich, auch nach dem Lesen dieses Berichtes, doch eher enttäuscht vom Ergebnis der Veranstaltung: das man immer noch nicht über die Argmentation „ja aber Stalin“ in Sachen kritischer Theorie hinaus ist, ist sehr schade und so wirklich klar ging für mich auch nicht hervor warum die Thematisierung von z.B. Exklusion, wie sie Heinz Bude als öffentliche Person und in seinen Publikationen vorantreibt, automatisch als kritische Theorie einzuordnen sei. Ich sehe weder das Neuartige daran (siehe die seit den 70ern anhaltende, mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten aber gleichem Inhalt operierende, Diskussion über die „neue Armut“) noch das Kritische (siehe Exklusion bei Luhmann).

  2. @S.V. Mich würde interessieren, wie eine über „ja aber Stalin“ hinausgehende Argumentation aussehen würde bzw. könnte. Es ginge doch eher um die Verständigung darüber, was aus dieser Erfahrung für die kritische Gesellschaftstheorie folgt, wie ist das Verhältnis von Kritik und Utopie, wie ist das Verhältnis von Kritik und Fortschritt. Kann man angesichts der Gewalterfahrung des 20. Jahrhundert noch umstandslos von geschichtlichen Lernprozessen sprechen? In wessen Namen kann die kritische Theorie noch sprechen, an wen kann sie sich wenden, wer ist der Adressat? Wo findet man die Debatten, die auf solche Fragen zu antworten versuchen? Wie kann man sich ernsthaft ein „ja aber Stalin“ vom Halse halten, ohne der Ideologie zu verfallen? Ich glaube übrigens nicht, dass der Hinweis von König mit dem eher lapidaren „ja aber Stalin“ angemessen charakterisiert ist, aber das nur nebenbei.

  3. Ich verstehe nicht auf wen sich dieser Einwand bezieht, von Seiten Horkheimers und Marcuses z.B. gab es früh Kritik am „intgralen Etatismus“ bzw. Stalinismus in Russland.

  4. Nun, es bezieht sich sicherlich auf die Vertreter der kritischen Gesellschaftstheorie bzw. der kritischen Sozialwissenschaft und vielleicht pauschal auf die „Linke“, wer immer das ist. Und da kann man sich fragen, ob die Arbeiten von Horkheimer und Marcuse ausreichen bzw. ob sie nachhaltige Wirkung auf die Verwendung von Begriffen, Theorie- und Utopieverständnis ausgelöst haben. Hatten diese Arbeiten selbstreflexive Wirkungen? Lösten sie Veränderungen der eigenen Weltsicht aus? Haben die alten Prämissen noch Bestand, sind sie noch tragfähig. Hat die Erfahrung mit den geteilten Überzeugungen nichts zutun? Lässt sich das, was in den Lagern passierte, mir dem Begriff des integralen Etatismus verstehen? Ich glaube, ein Beispiel für das, was König für eine Haltung meinen könnte, wäre einmal die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno oder die Auseinandersetzungen in Frankreich von Leuten wie Claude Lefort, Cornelius Castoriadis usw. Es geht also weniger um eine Kritik am Stalinismus usw., sondern um eine kritische Selbstüberprüfung.
    Vielleicht so.

  5. Laut Bericht hat König den „Schrecken des Stalinismus“ direkt mit dem „Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie“ in Zusammenhang gebracht. Dass große Teile der Linken ignorant gegenüber der Vernichtung der europäischen Juden und gegenüber dem stalinistischen Terror waren, kann man allerdings nicht der Kritischen Theorie anlasten.

  6. Ich glaube auch nicht, dass es ihm um bloße Schuldzuweisung gegangen ist und schon gar nicht an die Adresse der Kritischen Theorie, allerdings, und das wäre ein spannender Punkt, kritisiert er die Kritische Theorie in ihrem unreflektierten Politikverständnis bzw. dafür, dass sie überhaupt keinen Begriff des Politischen hat. Es wäre also zu überlegen, ob und welche Rolle die Spähre der Politik und des Politischen in Bezug auf diese Erfahrung mit einem sozialistischen Projekt besitzt und welche Konsequenzen es hat, wenn man diese Sphäre nicht betritt. Das scheint mir nicht mal ebenso beantwortbar zu sein. Auch bin ich nicht ganz so überzeugt davon, dass die Kritische Theorie so abstinent in Bezug auf die Politik war und dass ihre Reflexionen auch von Relevanz für die Reflexion des Politischen sind. Dies müsste aber im Detail gezeigt werden und ist wohl doch auch sehr schwierig.

  7. Eine Theorie der Politik und der Demokratie gibt es in der Kritischen Theorie tatsächlich nicht. Ansätze und Bruchstücke zu einer Theorie der Politik finden sich allerdings schon (ich denke da an Horkheimers Rakettheorie). Auch in der Peripherie der Kritischen Theorie (Neumann, Kirchheimer) ließe sich in dieser Hinsicht einiges finden. Gleichwohl ging es bei der Kritischen Theorie ja in erster Linie nicht um sozialwissenschaftliche Theoriekonstruktion, sondern um immanente Kritik.

  8. Es ist ja schon was länger her, aber irgendwie reizt es mich doch, noch zu antworten, weil diese Hinweise ja immer wieder angeführt werden. Mir scheint aber, dass diese Hinweise, man könnte noch die Analyse von Marx im Achzehnten Brumaire hinzufügen und so wichtig diese auch sind, nicht in die Richtung führen, die oben angesprochen wurde. Mir scheint, dass sie nicht das Politische, sondern eher Verfallsformen derselben betreffen, insofern sie als Kern des Politischen die Herrschaft bestimmen, die nur die Verlängerung der Naturbeherrschung darstellt. Aber geht das Politische wirklich in Herrschaft auf? Dann wäre es wohl das Urübel und man müsste sich fragen, was an seine Stelle treten kann. Meines erachtens gibt es hier keine positive Bestimmung des Politischen; Begriffe wie Freiheit, Handeln, Gesetz, Zustimmung, Institution kommen, wenn überhaupt, dann nur einsinnig vor. Gerade an der Theorie der Gangs- and Rackets ließe sich die von König beklagte Geschlossenheit der Gesellschaft bzw. der Gesellschaftstheorie aufzeigen. Zumal die Rakettheorie auch wieder nur das Politische aus der Perspektive einer veränderten Klassenformation ableitet. Was aber mit dem Politischen wird, wenn die Klassengesellschaft mal aufgehoben ist, das bleibt doch sehr im Argen. Ist der Staat wirklich nur die Absicherung der Klassenherrschaft und muss er notwendig absterben? Was besteht jenseits des Rackets? An welche Ressourcen kann man anknüpfen? „Die Grenze zwischen drinnen und draußen zu durchbrechen, ist das Ziel der Politik, mit dessen Erfüllung die Welt sich verwandeln wird. In der wahren Idee der Demokratie, die in den Massen ein verdrängtes, unterirdisches Dasein führt, ist die Ahnung einer vom Racket freien Gesellschaft nie ganz erloschen. Die Idee zu entfalten, bedeutet freilich die Durchbrechung einer dicken Suggestion, die noch die wahre Kritik am Racket in seinen Dienst stellt“ (Horkheimer GS Bd. 12, 291). Das ist doch noch sehr abstrakt und mir scheint, man müsste noch mit Arendt und Walzer auch die Kunst der Grenzziehung zum Politischen hinzurechnen. EIne Welt ohne Grenzen erscheint mir nicht die Verwirklichung der Utopie, sondern eher noch zu sehr am Denken/Wahn der Unmittelbarkeit anzuknüpfen.
    Soviel erstmals.

  9. Tja, die Kritischen Theorie hat eben den bösen Blick. Da gibts über das ja so oft geforderte „Positive“, von ein paar kryptischen Bemerkungen abgesehen, nichts zu lesen.
    Gestehe ich sofort zu, ein sonderlich erhellender Blick auf Politik lässt sich mit der Kritischen Theorie nicht gerade werfen, da sind wohl ergänzende Theorien notwendig. Die marxsche Tradition hat hier eine gewisse Blindheit. Allerdings gehört zum „Achzehnten Brumaire“ auch der „Bürgerkrieg in Frankreich“ und da findet sich sehr wohl eine positive Bestimmung der Politik. Politik streift in der radikaldemokratischen Räterepublik ihren Herrschaftscharakter ab und wird zu Koordination sozialen Handelns in solidarischer Gemeinschaft der Produzenten. So jedenfalls Marx. Dieses Bild ist allerdings auch noch stark nach dem Modell der Koordination von Produktionsprozesses gezeichnet.

  10. Der Hinweis auf eine positive Bestimmung des Politischen war nicht so gemeint, dass man doch auch mal konstruktive Kritik üben sollen, d.h. positiv denken solle. Vielmehr wollte ich damit andeuten, dass es vielleicht wichtig wäre, das Politische als eine Sphäre zu betrachten, die eigenen „Gesetzen“ folgt, die also nicht abhängig ist vom Sozialen und Ökonomischen, sondern als eigener Bereich ernst genommen werden sollte. Vielleicht ist die sozialistische Praxis gerade am Mangel dieser Reflexion so katastrophal gescheitert. Und vielleicht wird der böse Blick nicht nur böse, sondern falsch und verzerrend, wenn man diese Eigenständigkeit des Politischen nicht sehen kann. „Dieses Bild ist allerdings auch noch stark nach dem Modell der Koordination von Produktionsprozesses gezeichnet.“ Genau hierin liegt wohl ein schwieriges Problem, nämlich das Problem der Neubestimmung von Praxis, des Konfliktpotentials und das Verhältnis zur Theorie. Ich denke, hier lag auch ein Schwerpunkt des Abends.
    Generell glaube ich, werden diese Probleme nicht durch eine bloße Ergänzung zu lösen sein, sondern es bedarf einer grundlegenden Revision der Grundkategorien, in deren Zentrum der Begriff der Freiheit und der Kontingenz stehen müsste. Ein weiterer Schwerpunkt sehe ich in der Kritik der Gewalt.
    Es ist m. E. kein Zufall, dass es bei den einzelnen Hinweisen geblieben ist und diese weder bei Marx noch in der Kritischen Theorie noch bei den Nachfolgern weitergewirkt hätten und zu einer eigenständigen politischen Theorie ausgeweitet wurden. Laclau und Mouffe haben das ja unlängst in ihrem Buch über die Hegemonie versucht, was für meine Begriffe, dann doch äußerst abstrakt geblieben ist.

  11. Wenn ichs mir recht überlege, gibt es natürlich doch eine „politikzentrierte“ Tradition im Marxismus: Lenin bzw. der Leninismus. Lenin hatte von der Politik als „eigenständiger Sphäre“ mit eigenen „Gesetzen“ zwar keinen besonders ausgefeilten Begriff, aber hat von Politik doch recht viel verstanden. Stalin auf seine Art auch.

  12. Tja, was sollen wir damit anfangen? Wie stet es da mit der Freiheit und der Schönheit? Ist das wirklich das, was uns die Utopie verheißen hat? Dafür sollen wir kämpfen? Nein danke! Solange die Agitation und die Idelologiekritik (als die Logik des universalen Verdachts) die einzige Form der politischen Kommunikation ist, glaube ich, ist die Lage hoffnungslos. Da halte ich es doch eher mit Rosa Luxemburg.

  13. Was mir dabei noch einfällt. Eine kritische Selbstreflexion mit dem Ziel emanzipatorischer politischer Praxis müsste sich sehr intensiv mit dem Begriff des Verrats und des Verräters beschäftigen. Die schwierige Aufgabe könnte man mit Klaus Heinrich in etwa so formulieren: Es gehe darum einen Bund gegen den Verrat zu schließen, der aber den Verräter noch mit einschließt. Ihn also nicht ausgrenzt und vernichtet. (Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Basel, Frankfurt/M. 1964) Ein Buch, das in dem hier verhandelten Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat. Die Schwierigkeit besteht nämlich im Nein das Ja vernehmlich zu machen.
    Da ich ja nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe und nicht weiß, ob wir uns kennen, wird unser Austausch natürlich immer schwierig bleiben. Aber mir will scheinen, dass die „linke“ Politik, was immer man darunter versteht, es doch an der nötigen (Selbst-)Ironie hat fehlen lassen. Die Ironiker hatten keinen guten Stand in dieser Tradition.
    Kurz: Ich denke, der Umgang mit und die Reflexion auf die Begriffe Verrat, Opfer und Ironie sind zentral. Ob sich nach dieser Reflexion noch im Sinne des Marxismus „revolutionär“ Handeln lässt, weiß ich allerdings nicht.
    Was mich an Ihrer Antwort stört ist, dass sie (ein wenig provokativ) genau das Problem als „Lösung“ vorschlagen. Wenn Lenin und Stalin einen Begriff von linker, emanzipatorischer Politik hatten, ja dann weiß ich nicht, worüber wir dann noch reden. Ich glaube nicht, dass die Beiden wussten, was Politik ist und sie hatten auch keine Ahnung davon, wie man das, was sie erstrebten, verwirklichen könnte. Wobei ja in Bezug auf Stalin überhaupt nicht fraglich ist, ob er die normative Folie des Marxismus überhaupt noch teilte. Ich denke, das tat er nicht.

  14. Lenin war Utopist, Stalin Zyniker. Ich glaube beide wussten sehr gut, was Politik ist, oder genauer formuliert: sein kann; deshalb waren sie ja auch erfoglreich. Wenn man der Kürze wegen ausnahmsweise mal personalisierend spricht: Lenin war der Führer einer welthistorisch gewordenen Revolution, Stalin hat diese Revolution konsolidiert und Russland zur Weltmacht gemacht. Gleichwohl handelt es sich, vor allem im Falle Stalins, um Tyrannen. Der Gulag, die Säuberungen, der Massenterror, das alles sind erschreckende Verbrechen, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Sie haben das emanzipatorische Projekt des Kommunismus unglaublich beschädigt, aber im Vergleich zu all den Toten und dem Leid ist das noch das Unbedeutendste. Worauf ich hinauswill ist nur: Es handelte sich gleichwohl um Politik. Was auch sonst? Auch wenn es eben keine demokratische, gute, erstrebenswerte usw. Politik gewesen ist.

    Hm. Heinrich, ja den wollte ich eigentlich immer mal lesen. Hat so schöne Buchtitel: „Tertium datur!“

    Eine sehr gute Frage, gibt es linke Ironiker? Sicher finden sich gerade unter den Postmodernen so einige. Vielleicht ist Ironie auch wirklich nur was für Intellektuelle und eignet sich nicht für politische Massenbewegungen, wie Rorty meint.

  15. Mich beschäftigt die aktualität der kritischen theorie, besonders die frage, wie man sie mit der diskursanalyse sinnvoll verbinden kann, ohne konzepte wie die ideologikritik aufzugeben, aber doch nah am diskurs, nah am wissen, nah an sozialen beziehungen zu bleiben. das heisst nah an der praxis zu bleiben, in der (auch) ideologie hergestellt wird, s. prokla 2008, heft 2.

    als hypothese habe ich, dass die ideologiekritik immer noch eine wichtige theoretische rahmung liefert, die diskursanalyse in den sozialwissenschaften und der geschichtswissenschaft die herstellung von gesellschaftlichem wissen und eben auch ideologie nachzuvollziehen versucht.
    unter ideologie verstehe ich kurz gesagt: legitimierung oder verschleierung von herrschaftlichen sozialen verhältnissen.
    dann wäre in der sozialwissenschaftlichen diskursanalyse dekonstruktion und rekonstruktion z.b. von anerkennungsbedürfnissen im sinne honneths keine gegensatz, sondern ergänzen sich.
    die diskursanalyse verfeinert so verstanden den blick auf das soziale und die herstellung von wissen in der gesellschaftlichen praxis, ein weg, das
    soziale in die kt zu integrieren, auf dem habermas pionier war.

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