Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart

Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von insgesamt drei Beiträgen rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch in den nächsten Wochen immer donnerstags veröffentlichen. Am 7.12. folgt ein Beitrag von Oliver Hidalgo zum Thema „Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?“ und am 14.12. gibt André Brodocz Antworten auf die Frage „Müssen in einer Demokratie immer alle mit allen reden? Über die Herausforderungen des Populismus an Universitäten„. 

(1) Die Gegenwart ist von einer Polykrise, von zeitgleich stattfindenden, existentiellen Krisen gezeichnet, die sich in ihrer Wirkung verstärken (Tooze 2022): Die Klimakrise wirft mit Extremwetterereignissen ihre Schatten auf eine Welt voraus, die nur mit großen Beeinträchtigungen bewohnbar sein wird; die Corona-Pandemie hat eine tiefgehende Verletzlichkeit selbst von Gesellschaften mit hoch entwickeltem Gesundheitssystem vor Augen geführt; und die Rückkehr des Eroberungskrieges in Europa durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und nun die terroristische Attacke der Hamas auf Israel mit jeweils gravierenden weltpolitischen Folgen stellen für die westlichen, liberalen Demokratien einen unvergleichlichen Schock dar.

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Denker des Staates und der Freiheit, Verfechter des Bürgerethos. Ein Nachruf auf Ernst-Wolfgang Böckenförde

Die Politikwissenschaft hat mehrere Nachbardisziplinen, mit denen sie Schnittmengen im Forschungsinteresse, im Gegenstand und auch einige der Grundbegriffe teilt. Für eine an politischer Ordnung orientierte Politische Theorie und Ideengeschichte ist besonders die Rechtswissenschaft von Interesse, die ebenso normative, systematische und historische Perspektiven vereint. Ein herausragender Vertreter seines Fachs, von dessen Werk die Politische Theorie und Ideengeschichte profitiert hat und weiterhin profitieren wird, ist Ernst-Wolfgang Böckenförde, der am 24.2.2019 im Alter von 88 Jahren in Au bei Freiburg verstorben ist. Er hat als ausgebildeter Rechtswissenschaftler und Historiker mit besonderem Interesse für die normativen Fragen der Begründung politischer Ordnung ein großes Oeuvre hinterlassen, das sich über mehr als fünf Jahrzehnte erstreckt. Zugleich hat er auch als politischer Denker den Lauf der Zeit kritisch begleitet und sich immer wieder mit Stellungnahmen in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet. Als Bundesverfassungsrichter übte er von 1983 bis 1996 eines der höchsten Ämter aus und wirkte an entscheidenden Urteilen mit. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass er neben wenigen anderen Vertretern seiner Generation, wie Jürgen Habermas oder Ralf Dahrendorf, zu den bekanntesten Wissenschaftlern und öffentlichen Intellektuellen in der siebzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik gehört.

Das Böckenförde-Diktum – eine liberale Formel

Dies hängt gewiss auch mit seinem berühmten Satz über die „nicht garantierbaren Voraussetzungen des freiheitlichen Staates“ zusammen. Das Böckenförde-Diktum ruft allerdings gerade bei vielen Angehörigen der Politikwissenschaft nicht nur angesichts der hohen Frequenz seiner Zitation in staatstragenden Sonntagsreden, sondern vor allem vor dem Hintergrund seines als konservativ wahrgenommenen Gehalts Kritik hervor. Auch der von Böckenförde verwandte Begriff der Homogenität gilt vielen als problematisch. Gegen Böckenförde wird die Auffassung vertreten, dass es keines einigenden Bandes für die Gesellschaft bedürfe und dass vielmehr die Verfahren der rechtsstaatlichen Demokratie in einer pluralen Gesellschaft hinreichend für die Produktion eines notwendigen Minimums an Konsens seien. In dieser Lesart geht aber ein entscheidender Zug seines Denkens verloren oder kommt gar nicht erst in den Blick: Böckenförde ist in seinem Plädoyer für die Freiheit ein zutiefst liberaler Denker, der zugleich von der sozialen Verantwortung des Staates ausgeht.

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Heimat. Ein vorpolitischer Begriff als Antwort auf die politischen Probleme der Zeit?

Das Bedürfnis nach Verortung in der Welt, nach Zugehörigkeit und kulturellen Ankerpunkten ist für moderne Gesellschaften grundlegend. Es geht um Identität in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft pluralisiert, Vertrautes sich verändert oder ganz verschwindet und neue Konflikte entstehen. Wir können dieses Bedürfnis als eines nach Heimat auf den Begriff bringen. Dabei handelt es sich um ein legitimes Bedürfnis, das wir politisch ernst nehmen müssen – auch wenn oder gerade weil die populistischen Bewegungen das Gefühl des Heimatverlusts für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen.

Der Populismus als politische Bewegung reagiert auf die beiden großen Signaturen unserer Zeit – auf die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Erfahrung von Entgrenzung und die Digitalisierung und die mit ihr einhergehende Erfahrung von Beschleunigung – mit dem Ruf nach Schließung von nationalstaatlichen Grenzen, nach autoritärer Herrschaftsausübung und Abwertung von allem, was als fremd wahr­genommen wird sowie mit der Aufwertung von allem, was als das Eigene gilt. Als populistisch werden diese Bewegung und die sie politisch organisierenden Parteien deswegen bezeichnet (Jan-Werner Müller), weil sie reklamieren, die einzig wahren Repräsentanten eines echten Volkswillens zu sein, was mit der Gefahr der Abschaffung der Demokratie einhergeht – im Namen eines vermeintlichen Volkswillens dient die Wahl als plebiszitäre Ermächtigung zur Einrichtung einer in Wahrheit autoritären Herrschaft.

Antworten auf die Repräsentationslücke

Warum hat sich dies so entwickelt? Eine Erklärung liegt in der These der Repräsentations­lücke (Wolfgang Merkel). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine wachsende Gruppe von Bürgerinnen und Bürger herausgebildet, die sich nicht mehr repräsentiert fühlt durch die etablierten Parteien und Eliten. Diese Bürger verstehen sich nicht als Kosmopoliten und Europäer, sondern in erster Linie als zugehörig zu einer Nation, deren Interessen sie nicht mehr angemessen berücksichtigt sehen. Aus der Wahrnehmung benachteiligt zu sein, dem Stress der dauernden Veränderungszumutung in der globalisierten Wirtschaft und nicht zuletzt durch die Veränderungen, die in der eigenen Gesellschaft durch Migration verursacht werden, entsteht das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein.

Aber müsste dann nicht die angemessene politische Antwort auf eine solche  Repräsentationslücke in einer staatlichen Offensive liegen, die die materiellen Lebensbedingungen verbessert, etwa in einem Programm gegen steigende Mieten, zudem in einer inklusiven Arbeitsmarktpolitik und auch in dem Ausbau statt Rückbau der öffentlichen Infrastruktur gerade im ländlichen Raum? Dieser Einwand aus einer die soziale Verantwortung von Politik betonenden Perspektive ist gewiss auch richtig, zumal nach den Jahrzehnten des Rückzugs des Staates. Aber es geht nicht nur um sozio-ökonomische, sondern auch um kulturelle Antworten – Heimat stellt hier eine dieser Antworten dar.

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