Die Gemeinschaft im Urteil: Sensus communis bei Kant und Arendt (Tagungsbericht)

Unter Rückgriff auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft bestimmt Hannah Arendt das subjektive Urteilsvermögen als konstitutiv überindividuell und intersubjektiv: „Wenn man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft“ (Arendt 2012 [1970], Das Urteilen, 113). Dieser Ansatz einer politischen Philosophie des Urteilens ist untrennbar verbunden mit Arendts Diagnose der ‚Krise der Moderne‘, in der die Urteilskraft des Subjekts und die sie ermöglichende Integration der Gemeinschaft in einem Missverhältnis stehen. Auch das seit Kurzem neu auftretende Interesse an Arendts Begriff des Urteilens ist angesichts gegenwärtiger Krisen als Versuch eines Brückenschlags zwischen partikularen, epistemischen Standpunkten und dem Bedürfnis nach einer allgemeingültigen, normativen Orientierung zu verstehen. In diesem Sinn organisierten Martin Baesler (Freiburg) und Kevin Licht (Bonn) am 4. Dezember 2024 an der Universität Freiburg die Tagung „Individueller Universalismus? Sensus communis und reflektierendes Urteilen bei Kant und Arendt“.

Die Struktur dieses Tagungsberichts folgt den teils expliziten, teils impliziten Zielen der Tagung, (1) Arendts Überlegungen über das Urteilen gegenüber bestehender Kritik und bisher relativ geringer Beachtung zu rehabilitieren, (2) einen wohlwollenden und zugleich nicht unkritischen Zugang zum Arendtschen Urteilen freizulegen und (3) die Bedeutung des Arendtschen Urteilens für die Gegenwart zu klären. In vielen Momenten der Tagung wurde deutlich, dass dem sozialkritischen Potential des Arendtschen Urteilens eine Doppelstellung der Gemeinschaft zu Grunde liegt. Die Gemeinschaft ist (in ihrem gegenwärtigen, krisenhaften Zustand) eine konstitutive Bedingung für das Urteilen und zugleich (in ihrem möglichen, versöhnten Zustand) das Ziel des Urteilens.

Arendts Rezeption der Kantischen Urteilskraft: Rettung eines umstrittenen Fragments

Arendts Denken über das Urteilen findet sich hauptsächlich in ihren New Yorker Vorlesungen von 1970/71. Ein Grund dafür, dass Arendts Gedanken zum Urteilen lange Zeit vernachlässigt wurden, liegt darin, dass sie aufgrund von Arendts Tod 1975 unvollständig und fragmentarisch blieben. In Freiburg erwies sich eben dieses Unfertige der Arendtschen Gedanken als produktiver Anstoß für Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen.

Kevin Licht (Bonn) arbeitete heraus, wie Arendt in Kants dritter Kritik eine Unterscheidung von handelnden AkteurInnen und urteilenden ZuschauerInnen expliziere, die Kant selbst im Streit der Fakultäten als Kommentar zur französischen Revolution macht. Entgegen der Intuition seien nicht das Handeln des kunstschaffenden Genies oder der historischen AkteurInnen das Erste, zu dem das Publikum dann nachrangig hinzutritt. Vielmehr bilden die ZuschauerInnen die Ermöglichungsbedingung für das Handeln, indem sie den öffentlichen Bereich als Ort des Sich-Verständlich-Machen-Könnens konstituieren (Arendt 2012 [1970], Das Urteilen, 99). Die ZuschauerInnenperspektive, so Licht, sei repräsentativ für die gesamte menschliche Gattung und damit zugleich auch für die Handelnden. Eine Vermittlung zwischen ZuschauerIn und AkteurIn, zwischen Urteilen und Handeln sei angelegt in der für das Urteilen konstitutiven Forderung, dass das Urteilen mitteilbar sein müsse – und zwar prinzipiell an die gesamte Menschheit.

Am spezifischen Fall der „empirischen Beispiele“, die Kant und Arendt auf unterschiedliche Weise zur Bestimmung des Urteilens anführen, machte Samantha Faezkas (Dublin) ein generelles Ziel der Tagung deutlich: dem gegen Arendt häufig wiederholten Vorwurf der Fehldeutung der Kantischen Position zu begegnen, die frühzeitig geschlossene Diskussion wieder zu öffnen und die vernachlässigte Behandlung des sensus communis bei Arendt produktiv zu wenden. Fazekas argumentierte dafür, die umstrittene, „kreative Zerstörung des Kantischen Gemeinsinns“ (Matthew Weidenfeld) zu retten. Der spezifische Vorwurf gegen Arendt bezüglich ihrer Deutung der Funktion empirischer Beispiele bei Kant sei, dass sie diese de-transzendental missdeute. Dem bei Kant noch strikt apriorischen Urteilen würde Arendt – so Fazekas – zusätzlich einen Platz in der Welt geben.

Weltliche Beispiele – dies gelte für ästhetisches, wie für politisches Urteilen – ermöglichten es BürgerInnen, die Allgemeingültigkeit ihrer Urteile zu fundieren. So stellte Astrid Hähnlein (Freiburg) etwa dar, wie der Holocaust erinnerungskulturell so gedeutet würde, dass er als historisches ‚Beispiel‘ neue Maßstäbe des Urteilens für Verbrechen von zuvor unvorstellbarer Qualität und Dimension begründe. Die Katechismusdebatte und der zweite Historikerstreit über die Singularität des Holocausts angesichts seiner Bezüge zu kolonialen Verbrechen veranschauliche Arendts reflektierende, politische Urteilskraft. Denn auch die Maßstäbe oder Referenzpunkte politischen Urteilens seien keine feststehenden, allgemeinen Kategorien, sondern auch auf diese müsse intersubjektiv immer wieder neu reflektiert werden. Anders formuliert muss das verallgemeinerungsfähige Moment aus dem besonderen Beispiel heraus gedeutet werden.

Wie Fazekas argumentierte, liege hierin dann auch der Schlüssel, um vom Wollen zum Urteilen und vom Urteilen zum Handeln zu kommen. Die Deutung des Allgemeinen am Besonderen – in etwa der Amerikanischen Revolution – sei Ermöglichungsbedingung für weitere Realisierungen politischer Freiheit aus den vorherrschenden Lebensnotwendigkeiten heraus.

Als Schauplatz des Arendtschen sensus communis deutete Larissa Wallner (Frankfurt a. M.) das „Zuhause-Sein“. Die theoretische Perspektive des Gemeinsinns demonstriere, inwiefern die Möglichkeit, zuhause zu sein, nicht automatisch und notwendig durch das Privateigentum an Wohnraum erfüllt würde, sondern von einer breiter verstandenen „Freiheit als Geborgenheit“ abhänge. Die Idee des Zuhauses – im starken Gegensatz hierzu stehe seine gegenwärtige Wirklichkeit – sei ein herrschaftsfreier und intersubjektiv-kurierter Ort, an dem Selbstdenken möglich sei, an dem jeder und jede mit sich in Übereinstimmung denke und in dem an der Stelle eines jeden anderen gedacht würde.

Von Kant zu Arendt und wieder zurück

Neben der Verteidigung Arendts gegen die Vorwürfe, sie würde Kant missverstehen und neben produktiven Argumentationen ‚im Geiste‘ Arendts, fehlte auf der Tagung auch eine kritische Distanz zu Arendt nicht. Alexander Schwitteck (Berlin/Bonn) nahm sich den provokanten Ausgangspunkt der Vorlesungen Arendts vor, demzufolge „Kant niemals eine Politische Philosophie geschrieben [hat]“ (Arendt 2012 [1970], Das Urteilen, 16). Während Arendt ihren politischen Urteilsbegriff auf rezeptionsgeschichtlich problematische Weise aus Kants ästhetischer Urteilskraft heraus entwickele, fielen die explizit politikphilosophischen Texte Kants zu schnell unter den Tisch. Arendt übersehe, dass auch bei Kant das ‚politische Urteilen‘ – beispielsweise in seiner Diskussion des Gesetzgebungsprozesses in Was ist Aufklärung? – nicht in Isolation, sondern konstitutiv in der Öffentlichkeit stattfinde.

In vergleichbarer Stoßrichtung plädierte Elena Romano (Berlin) dafür, Arendt mit Kant und Kant mit Arendt zu lesen, um den Schwächen beider mit den Stärken des bzw. der jeweils anderen zu Hilfe zu kommen. So könne Arendts Betonung der empirischen Seite des Gemeinsinns Kants universellen Standpunkt davor bewahren, die empirische Vielfalt individueller Standpunkte apriorisch zu übergehen. Kant erinnere daran, dass Intersubjektivität kein Ersatz sei für Selbstdenken und Autonomie und dass die Gemeinschaft, in der das Urteilen stattfinde – letztlich auch bei Arendt – die ideale Gemeinschaft der menschlichen Gattung sei. Donna Harraways (1988) berühmt gewordenen Begriff der „situated knowledge“ aufgreifend, verspreche eine Kombination von Arendt und Kant eine Lösung des Puzzles, das das subjektive, situierte und zugleich universelle Urteilen darstelle.

Die Aktualität Arendts als Krisenphilosophie

Die Aktualität des Arendtschen Urteilens wurde besonders deutlich als Mittel zur Diagnostik von Krisen im geteilten Bezugsrahmen politischen Urteilens. Martin Baesler (Freiburg) arbeitete heraus, inwiefern die politische Urteilskraft – wenn unzureichend entwickelt und verbreitet – Krisen sowohl mitbegründe, als auch die Lösung selbiger verspreche. Der für die Urteilskraft konstitutive, intersubjektive Gemeinsinn würde durch die Abstandnahme – nicht Ausblendung! – von privaten Bedingungen erreicht. Dabei angetrieben werde er davon, andere überzeugen zu wollen und bei anderen Zustimmung zu suchen. Ein wichtiges Mittel für den Erhalt von Freiheit sei der Gemeinsinn insofern, als dass er das kollektive Vermögen sicherstelle, sich im gegenseitigen Meinungsaustausch auf die Wirklichkeit der Welt beziehen zu können.

An dieser Stelle der geteilten Wirklichkeit ansetzend, argumentierte Zanan Akin (Hagen), dass das gegenwärtige Phänomen der ‚alternativen Fakten‘ eine bisher unerkannte, implizite Prämisse in Arendts Weltbezug aufwerfe. Dass die Wirklichkeit zum Gegenstand von privaten Mein-ungen (Hegel) werden könne, hätte Arendt sich zu ihrer Zeit nicht vorstellen können. Der Gemeinsinn sei heute nicht mehr automatisch überall dort gegeben, wo geurteilt wird. Er selbst sei zu einem privatistischen Ge-mein-Sinn degeneriert und müsse politisch wiederhergestellt werden.

Der sensus communis sei außerdem in einen sensus communis materialis weiterzuentwickeln, argumentierte Waltraud Meints-Stender (Hochschule Niederrhein). Wie Marx damals Hegel, müsse man Kant und Arendt heute „vom Kopf auf die Füße stellen“. Die Reflexion im Urteil auf seine privaten Bedingungen müsse in den soziokulturellen Strukturen der Gesellschaft verortet werden. Meints-Stender betonte die von Arendt nur am Rande erwähnten (Arendt, Das Urteilen, 69) gesellschaftlichen Bedingungen des Gemeinsinns.

Abschließend ist festzuhalten, dass der sensus communis aufgrund der Doppelstellung von Gemeinschaft als Bedingung und zugleich als Ziel des Urteilens fasziniert. Als ein kollektives Vermögen ist er heute – zwar in einem imperfekten, konfliktbehafteten Zustand, aber dennoch – überall dort erfahrbar, wo geurteilt wird. Stets drängend auf gesellschaftliche Selbstverständigung, weist er über seinen heutigen Zustand hinaus.

 

Dominik Buhl studiert Philosophie im Master an der Humboldt Universität zu Berlin.

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