Wir setzen unsere Debatte um den Begriff der Sorge heute mit einem Beitrag von Leonhard Riep fort, der Sorge im Anschluss an Jan Patočka als eine selbstreflexive Denk- und Lebenspraxis diskutiert.
Die politiktheoretischen bzw. sozialphilosophischen Debatten um den Begriff der Sorge lassen sich grob in drei Richtungen einteilen. Einerseits ist der Sorgebegriff positiver Bezugspunkt einer Reihe (queer-)feministischer Ansätze, mit dessen Hilfe die Bedeutung verschiedener Care-Tätigkeiten nicht nur für die kapitalistische Arbeitsteilung, sondern auch für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion des Lebens in den Fokus rückt. Andererseits wird der Sorgebegriff – etwa in Wendy Browns Analyse der self-care – in negativer Weise mit neoliberalen Subjektivierungsweisen verschaltet, in denen die Sorge als Selbstoptimierungsstrategie wirkt und Individuen die ökonomische wie moralische Verantwortung für die eigene soziale Lage überträgt. Diesen fruchtbaren Debattensträngen lässt sich eine ideengeschichtliche Linie hinzufügen, in der die Sorge als praxeologische Figur im Sinne einer auf spezifischen Praktiken basierenden Herausbildung des Sozialen und damit auch von Selbstverhältnissen verstanden wird. Diese Sozial- und Selbstverhältnisse sind demnach das Ergebnis verkörperter, teils unintendierter Alltagshandlungen, die in bestimmte Praxisgefüge – in diesem Falle der Sorge – eingelassen sind. Zentrale Referenzpunkte hierfür sind Hannah Arendt, Michel Foucault und Martin Heidegger. Die Sorgekonzeption des tschechischen Phänomenologen Jan Patočka ist hingegen unterrepräsentiert, obwohl sie eine spannende, eigenständige Perspektive auf den Gegenstand wirft. Patočkas „Sorge um die Seele“ bezeichnet eine reflexive Denk- und Lebenspraxis zur eigenangeleiteten Ausbildung eines nur vorläufig stabilen Selbst unter Bedingungen des „Zeitalters der Kontingenz“ (Zygmunt Baumann), in dem die epistemologischen wie lebensweltlichen Grundlagen der Selbst- und Weltverhältnisse fraglich geworden sind. Patočkas Überlegungen sind nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch für die gegenwärtige Debatte um das Politische relevant. Denn Patočkas Sorgekonzeption knüpft die theoretische Figur der Abwesenheit eines letzten Grundes an konkrete, als kontingent anerkannte Lebensvollzüge und eröffnet damit die Möglichkeit individuellen wie gemeinschaftlichen politischen Handelns angesichts der prinzipiellen Offenheit von Selbstverhältnissen und gesellschaftlichen Strukturen.
Platons „Sorge um die Seele“
Patočka entwickelt den Begriff der „Sorge um die Seele“ prominent in seiner Vorlesungsreihe Platon und Europa. Er versteht die platonische Sorge als einen reflexiven Prozess der Selbstformung, der hinsichtlich der prinzipiellen Fraglichkeit des Wissens und der Wirklichkeit einen stabilen Zustand der Seele anstrebt. Patočka bezieht sich hierbei auf die platonische Unterscheidung von doxa (Meinung) und episteme (Erkenntnis, Wissen). Während die doxa das Ergebnis zufälliger, verkörperter Wahrnehmungen ist und dem Bereich des Sinnlichen angehört, sind die nur denkerisch zugänglichen episteme im Bereich des Intelligiblen ansässig. Letzterer ist ontologisch höherwertiger, während der Bereich der Sinneswelt eine niedrigere Art des Seins darstellt. In dieser epistemologischen wie ontologischen Aufteilung hat die Seele eine Vermittlerrolle. Im „Affinitätsargument“ behauptet Platon eine Verwandtschaft zwischen den ‚intelligiblen Dingen‘, die nicht zusammengesetzt und daher unvergänglich seien, und der Seele. Der wahrnehmbare Körper sei hingegen aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und vom Verfall gezeichnet. Zwar strebt die Seele der höheren Seinsebene entgegen, doch ist zugleich eine spezifische Sorge nötig, um das Abgleiten in die Sphäre der doxa zu verhindern.
Die platonische Sorge interpretiert Patočka als Selbstformung der Seele: Mithilfe der philosophischen Reflexion setzt sich die Seele und versetzt sich zugleich in Bewegung, um sich als fest und unauflöslich zu formen und der intelligiblen Seinssphäre anzunähern. Zentral für Patočka ist, dass der Mensch, der sich um seine Seele sorgt, die ihm gegebenen Möglichkeiten zum Handeln und Denken inklusive der radikalen Infragestellung der Wirklichkeit aktiv annimmt und sich nicht dem Verfall und der Passivität – der Zerstreuung der Seele – übergibt.
Doch Patočka tritt nicht einfach für eine Reaktualisierung der platonischen Seelenkonzeption ein, sondern versucht diese in transformierter Weise für die Gegenwart brauchbar zu machen. Dementsprechend ist sich Patočka auch bewusst, dass das Anstreben eines festen Seelenzustands eine Sisyphusarbeit ist: Die Philosophie sei, wie er an einem schönen Bild verdeutlicht, „[e]in Kampf darum, […] ein festes Ufer zu finden, aber wiederum das zu problematisieren, was wie ein Ufer auftaucht“ (S. 109). Die Sorge ist ein steter unabgeschlossener Prozess, der beständig droht zu scheitern. Diese Einsicht führt Patočka nicht in den Nihilismus, sondern zu einer Lebenspraxis, die die Vorläufigkeit jedweder Selbstausbildung anerkennt.
Damit rücken Patočkas Überlegungen in die Nähe zu den Meditationspraktiken, die Foucault in seiner Analyse der „Sorge um sich“ beschreibt. Jene sind „Übung[en] des Denkens am Denken“ (S. 553), um sich selbst zu prüfen. Trotz zentraler Differenzen, bspw. in Bezug auf die platonische Sorgekonzeption, in der Foucault keine genuine Selbstpraxis, sondern eine bloße Sonderform der „Sorge um sich“ erblickt, lässt sich Patočkas „Sorge um die Seele“ als Selbsttechnologie im Foucault’schen Sinne deuten, also als Praktik, mit der ein Subjekt Veränderungen der Seinsweise anstrebt, um einen erwünschten Zustand (Glück, Wahrheit, Unsterblichkeit etc.) zu erreichen. Zwar ist Patočkas „Sorge um die Seele“ im Vergleich zu Foucaults „Sorge um sich“ deutlich intellektualistischer konzipiert, da sie stärker auf die denkerische Ausprägung der Sorge abhebt. Dennoch versteht auch Patočka diese nicht als bloße Aufgabe des Bewusstseins, sondern als stetige, sich selbst erprobende „geistige Denk- und Lebenspraxis“ (S. 102). Demzufolge wäre sie auch in Foucaults Verständnis ein Teil der asketischen Meditationen und damit einer genuinen Selbstpraxis.
Geschichtsphilosophie: Der Übergang vom Mythos zur Philosophie
Der Rückgang auf die sokratisch-platonische Philosophie, den Patočka im kritischen Anschluss an Edmund Husserl und Martin Heidegger vollzieht, ist geschichtsphilosophisch und zeitdiagnostisch motiviert. Laut Patočka bezeichnet das Aufkommen der platonischen Sorge den Moment des Übergangs vom Mythos zur Philosophie und damit die Quelle einer spezifischen Form europäischer Reflexivität. Die Philosophie Platons ist somit die Geburtsstunde „Europas“ – einer auf dieser philosophischen Reflexivität basierenden Lebenspraxis, die aufgrund des Aufkommens der neuen Naturwissenschaften allmählich verschwand.
Grundlegendes Kennzeichen dieser Reflexivität ist für Patočka das Offenhalten der prinzipiellen Fraglichkeit in dem Sinne, dass vermeintliche Gewissheiten immer wieder unterminiert werden. Denn während der Mythos eine Ursprungsgeschichte erzählt und damit eine spezifische Realität mit vermeintlichen Gewissheiten schafft, strebt die platonische Sorge Klarheit über das Wissen und die Welt an. In dieser Suche begegnet die Philosophie der prinzipiellen Fraglichkeit und schafft ein doppeltes Bewusstsein: der Problematizität der Welt einerseits, der Positionalität des Menschen in dieser Welt andererseits. Ein Leben in der mythischen Naivität ist damit nicht mehr möglich. Der Mythos ist demnach ein „fundamentalistisches“ Unterfangen, während die Philosophie eine grundsätzliche Offenheit verspricht. Die damit einhergehende „postfundamentalistische“ Situation – wie ich sie kennzeichnen würde – ist für Patočka eine anthropologische Tatsache, denn die prekäre Seinsweise des Menschen ist für ihn stets gefangen zwischen Kontingenz und Faktizität: Die Existenz der Welt, aber auch des Menschen, ist kontingent, tritt dem Menschen jedoch als Faktizität gegenüber; wie der Mensch mit der Problematizität der Welt verfährt, ist ebenfalls kontingent, liegt aber potentiell in seiner Macht. Die Sorge als reflexiver Umgang mit der prekären Situation des menschlichen Daseins sowie als Prozess der Ausbildung einer sich selbst begründenden Subjektivitätsform ist somit der Kern der geschichtsphilosophischen Überlegungen Patočkas.
Zeitdiagnose: „Sorge um die Seele“ vs. „Sorge um die äußere Welt“
Damit zeigt sich zugleich die zeitdiagnostische Orientierung. Patočka hegt die Hoffnung, den modernen Krisenerfahrungen ökonomischer, ökologischer, sozialer und kriegerischer Art durch die „Sorge um die Seele“ sinnvoll begegnen zu können. Als Ursache dieser Vielfachkrisen sieht er die „Sorge um die äußere Welt und ihre Beherrschung“ (S. 103). Mit dieser euphemistischen Bezeichnung meint Patočka die kapitalistische und kolonialistische Expansionspolitik Europas seit dem 15. Jahrhundert. Diese basiert für ihn auf einer Verschiebung von philosophischer Reflexion zu naturwissenschaftlichen Objektivitätsvorstellungen, wodurch gesellschaftlicher Fortschritt vorwiegend quantitativ in Form von Wirtschaftswachstum aufgefasst wird. Einher damit geht eine Vorstellung von Wissen als Ausdruck des sinnlich Erfahrbarem, welches effizient und anwendbar zu sein hat und eine technische Herrschaftsform begründet. Der platonischen doxa–episteme-Unterscheidung folgend, ist dieses Wissen jedoch beschränkt und krisenanfällig. Hatte Platons Philosophie mithilfe der Seelenmetaphysik, das Christentum wiederum durch das Dogma versucht, diese Krisenanfälligkeit zu überdecken, habe nun die neuzeitliche Wissenschaft den Anspruch, eine solche Sicherheit zu gewährleisten. In der „Sorge um die Seele“ erblickt Patočka ein Gegenprinzip zur „Sorge um die Welt“. Denn wenn die Welt als solche fraglich geworden ist und kein Fundament bietet, dann bleibt als vorläufige Instanz nur die Selbstausbildung des Selbst.
Zur politischen Bedeutung der Sorge
Patočkas Rückgang auf die platonische Sorge ist keine Flucht in eine „goldene Vergangenheit“. Dies zeigt auch der historisch-lebensweltliche Hintergrund der platonischen Überlegungen: die Hinrichtung Sokrates‘ und die damit notwendig gewordene Reflexion auf eine Gesellschaftsform, in der Philosoph*innen wörtlich leben können. Die Sorge soll die gesellschaftlichen Bedingungen ausloten, um angesichts tatsächlicher Gefahr – wie der griechischen Tyrannis – standhaft bleiben zu können. Sie ist dementsprechend kein privatistisches Unterfangen, sondern der Nexus, der individuelles und politisches Leben verbindet.
Doch Patočkas Sorgekonzeption ist auch fruchtbar für die Diskussion um das Politische: Folgt man Oliver Flügel-Martinsen oder Oliver Marchart, so ist ein Kennzeichen des Politischen – in Abgrenzung zur Politik als etablierter Teilbereich der Gesellschaft mit spezifischen Handlungsformen – die Notwendigkeit partieller, kontingenter Gründungen im Angesicht der Abwesenheit von letzten Gründen. Anders ausgedrückt führt die Infragestellung jedweder Gewissheiten, Institutionen oder Handlungsweisen zur Einsicht, dass diese auf keinem gesicherten Fundament stehen. In letzter Konsequenz erweist sich das Politische (die Abwesenheit eines letzten Grundes) als die Ermöglichungsbedingung der Politik (eine spezifische Gründung im Sozialen). Das Politische ist demnach durch Kontingenzerfahrung sowie die prinzipielle Grundlosigkeit des Sozialen charakterisiert.
Dies deckt sich weitestgehend mit Patočkas Sorgekonzeption, macht er doch eine Kontingenzperspektive sowie die daraus resultierende Notwendigkeit der Sorge zur Etablierung eines vorläufigen, festen Standpunkts stark. Tatsächlich interessant für die Debatte um das Politische wird die Sorgekonzeption aber erst, wenn zusätzlich auf die Einbindung in spezifische Lebensvollzüge abgehoben wird. Denn die im Diskurs um den Begriff des Politischen theoretisch konstatierte Kontingenzperspektive ist erstaunlich blutleer für eine Behauptung über konkrete Erfahrungsweisen. Die „Sorge um die Seele“ zielt auf die kritische Befragung, eventuell sogar Etablierung von solchen Lebensvollzügen, die die eigene Fraglichkeit nicht verdecken, sondern anhand einer praxisorientierten Sorge offenhalten. Durch die Rückbindung an spezifische Lebensvollzüge kann das abstrakte Konzept des Politischen mit Leben gefüllt werden. Übersetzt in das Vokabular des Politischen geht es um Lebensweisen, die die Versuche von Letzt(be)gründungen zugunsten von bloß partiellen Gründungen aufgeben. Damit wird zugleich die selbsttransformatorische Ausrichtung deutlich, denn eine Lebenspraxis, die die Fraglichkeit der eigenen wie gesellschaftlichen (Lebens‑)Grundlagen anerkennt, ist ständig gezwungen, über sich und die Welt zu reflektieren und die eigene Seinsweise entsprechend anzupassen. Die Sorge bietet damit eine der philosophischen Ressourcen, um ein denkerisches wie gesellschaftliches Fundament – wie vorläufig auch immer – überhaupt erst zu errichten und ein (gesellschafts‑)politisches Projekt anzuvisieren.
Leonhard Riep promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. zur Frage nach einer „Politik der Erfahrung“ im Anschluss an Walter Benjamin und Michel Foucault. In seiner Masterarbeit entwickelte er eine politische Lesweise der Sorgekonzeptionen Patočkas und Foucaults.
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