Tagungsbericht: Ressourcen der Rechtskritik – Methodische Reflexion und Kritische Praxis

Am 26. August 2020 organisierten Dana Schmalz und Jörn Reinhardt eine halbtägige Online-Konferenz zu „Ressourcen der Rechtskritik“ an der Universität Bremen. Der Schwerpunkt lag darauf, das Verhältnis zwischen kritischer Theorie und Praxis zu reflektieren. Während der Tagung wurden Themen wie der gerichtliche Prozess, das juridische Urteilen, Dogmatik, die Ideologie des Rechtsstaates, sowie strategische Prozessführung aufgegriffen. Eine Besonderheit der Tagung war die Interaktion von Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Vertreter*innen der juristischen Praxis. Im Folgenden sollen vier zentrale Diskussionspunkte skizziert werden. Diese beziehen sich auf die epistemischen Asymmetrien und Rassismus im Recht, Typen der Rechtskritik, das Rechtssystem als Spiel, welches von Machthaber*innen flexibel für sie selbst gestaltet wird und die Frage nach der (un-)möglichen Emanzipation durch das Recht. In all diesen Punkten geht es darum, welche Rolle das Recht letztlich für Gesellschaftskritik und gesellschaftliche Transformation spielen kann.

Epistemische Asymmetrien und Rassismus im Recht

Robin Celikates begann das erste Panel damit, auf die epistemischen Asymmetrien hinzuweisen, die der Rechtskritik eigen sind. Er führte aus, wie diese zu einem Mangel an Objektivität und Neutralität beitragen. Dass kritische Theorie anti-emanzipatorisch und entmächtigend wirken kann, muss seiner Ansicht nach systematisch einbezogen werden. Das Recht beispielsweise zu kritisieren und es zugleich als neutral und ‚farbenblind‘ darzustellen, reproduziert Rassismus als strukturelles Herrschaftsverhältnis. Als Beispiel nannte Celikates die Verwendung der Begriffe ‚Xenophobie‘ oder ‚Fremdenfeindlichkeit‘ anstelle von ‚Rassismus‘. Um Selbstreflexion und eine Transformation kritischer Theorie zu erreichen, plädierte er für eine ‚Kritik der Kritik‘. Diese soll es ermöglichen, auf die Schattenseiten und Schwachstellen des Rechtes und des Rechtssystems hinzuweisen, um gegen Ignoranz und ideologische Verschleierung im juristischen Forschungsfeld zu arbeiten. Als Inspiration verwies Celikates auf das Forschungsfeld ‚Critical Race Theory‘ und auf kritische feministische Forschung, insbesondere die Standpunkttheorie.

Diese Forschungsfelder erlauben ein nuanciertes Verständnis des Standpunktes der Kritiker*in, sowie dafür, wie dieser Standpunkt die inhaltliche Kritik beeinflusst. Forscher*innen in dem Feld argumentieren, dass jene, die andere dominieren, aufgrund ihrer Positionalität epistemisch beschränkt sind. Im Gegensatz dazu können jene, die marginalisierten Gruppierungen zugewiesen werden, als epistemisch privilegiert aufgefasst werden. Laut der Theorie verfügen rassifizierte Menschen in Deutschland wegen ihrer tagtäglichen Auseinandersetzung mit ihren Symptomen beispielsweise über ein klareres Verständnis von strukturellem Rassismus. Diese Einsicht übersetzt sich jedoch nicht in einen Automatismus zwischen marginalisierter oder unterdrückter Positionalität und erweitertem Wissen. Laut der Theorie sind Standpunkte nicht durch Geburt gegeben, sondern werden aktiv durch die Analyse bestehender Gesellschaftsverhältnisse und Machtasymmetrien von marginalisierten Menschen eingenommen. Um zu illustrieren, welche epistemischen Standpunkte kritische Theorie bereichern können, bezog Celikates sich auf W.E.B. Du Bois‘ Konzept von “double consciousness”, Patricia Hill Collins‘ Konzept von “Outsider Within” und das Konzept der “meta lucidity”, eingeführt von Jose Medina.

Typen der Rechtskritik

Eine anschließende Diskussion betraf unterschiedliche Typen von Kritik. So unterschied beispielsweise Ino Augsberg aktivistische, kantische und selbstreflexive Formen der Kritik. Die aktivistische Form der Kritik ist von einer politischen Ethik und normativen Maßstäben geleitet und zielt darauf ab, ungerechte Gesellschaftszustände und Verhältnisse verändern. Für Augsberg verfängt sich diese Form der Kritik schnell in einer problematischen Binarität, die sich darauf beschränkt, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Die zweite Form der Kritik wurde als kantisches Modell vorgestellt. Diese Form beansprucht, objektiv und neutral zu sein, endet aber unweigerlich auch damit, einseitig normativ vorgebracht zu werden. Als letztes skizzierte er eine selbstreflexive Form der Kritik, die nicht binär ist, sondern eine Pluralität an Wegen öffnet, mit einer gewissen (Unrechts-) Situation umzugehen. Eine wichtige Frage im Laufe der Diskussion war, ob das Recht und Rechtssystem per definitionem binär sind, da darauf abgezielt wird, zwischen Recht und Unrecht, Legalität und Illegalität, sowie in der Mythologie des Rechtes zwischen gut und schlecht zu unterscheiden.

In der Diskussion wurde überlegt, wie das Recht produktiv zur Kritik genutzt werden kann. Von abolitionistischen Forscher*innen ausgehend könnte man die Temporalität der Kritik miteinbeziehen, um vereinfachte Binaritäten zu vermeiden: Kurzfristig kann Kritik dazu dienen, eine menschenverachtende Institution oder Praxis abzuschaffen. Sie agiert also binär, indem sie eine Gegebenheit für schlecht erklärt und zur Abschaffung plädiert. Langfristig würde diese Veränderung jedoch Raum dafür öffnen, komplett neue Strukturen aufzubauen, die lebensaffirmierend und plural sind. Die aktivistische Form der Kritik ist also nur dann in einer Binarität gefangen, wenn ihre Ziele kurzfristig betrachtet werden. Langfristig kann sie jedoch auch Pluralität, Selbstreflexion und Wandel ermöglichen.

Tim Wihl argumentierte für eine immanente Kritik des Rechts. Für ihn bedeutet eine immanente Kritik, die internen Widersprüche eines Normsystems zu benennen und deren unrealisierte normative Potenziale aufzuzeigen. Dem stellt er eine interne Kritik gegenüber, die eine Situation mit einem gegebenen Rechtssatz vergleicht und eine externe Kritik, die sich auf Moral beschränkt. Tatjana Sheplyakova vertrat hingegen eine immanent-transzendente Rechtskritik. Sie verwies dafür auf das Konzept von ‚Interregnum‘, wie es von Gramsci eingeführt wurde. Das Verschwinden des Alten, während wir noch nicht das Neue erreicht haben, verlangt ihrer Ansicht nach, das Alte mit immanenter Kritik zu verstehen, jedoch nicht aus den Augen zu verlieren, dass das Neue eintreten wird, welches das Recht transzendiert. Letztlich entscheidet sich die Frage der Form der Kritik damit, welches Ziel angestrebt wird.

Das Rechtssystem als Spiel, flexibel in den Händen der Machthaber*innen

Vor dem Hintergrund der Aufstände schwarzer Menschen gegen Polizeigewalt und die Morde an George Floyd, Breonna Taylor und unzähligen Anderen, thematisierte die Aktivistin Kimberly Latrice Jones in ihrer Rede Anfang Juni 2020 das Verhältnis von Recht und Protest. Sie verwies metaphorisch auf das Monopoly-Brettspiel, um zu illustrieren, wie schwarze Menschen im Laufe der US-Geschichte damit diszipliniert und in einem Unterdrückungsverhältnis gehalten wurden, dass sie sich an Spielregeln halten sollten, die von weißen Menschen diktiert, aber selbst nicht eingehalten wurden. Selbst wenn sich schwarze Menschen an diese Regeln hielten und versuchten so ein menschenwürdiges Leben aufzubauen, wurden sie ihrer Verdienste enteignet. Sie erklärte: „Du kannst nicht gewinnen. Das Spiel ist unbeweglich, es ist fixiert, der Ausgang ist klar. Wenn Ihr also fragt: Warum hast du deine Community abgebrannt? Warum hast du deine Nachbarschaft abgebrannt? Antworten wir: Es ist nicht unsere. Wir besitzen nichts. […] Es gibt einen Gesellschaftsvertrag zwischen uns allen, wenn du stiehlst, oder wenn ich stehle, dann kommt die Person mit Autorität und klärt die Situation. Aber die Person, die die Situation vermeintlich klären soll, tötet uns schwarze Menschen. Also ist der Gesellschaftsvertrag gebrochen. Ihr habt den Vertrag gebrochen, als wir für 400 Jahre euer Spiel gespielt haben und ihr euren Wohlstand angehäuft habt...“

Diese Kritik ist relevant, da sie während des Workshops anhand einer These des marxistischen Historikers E.P. Thompson diskutiert wurde. Dieser These zufolge haben Machthaber*innen gewisse Spielregeln in der Form eines rechtlichen Systems eingeführt, um andere besser auszubeuten und zu beherrschen. Letztlich müssen sie sich nach Thompson jedoch für die Validität dieses Systems auch selbst an diese Regeln halten. Hier bergen Recht und Rechtsstaatlichkeit in seinen Augen emanzipatorisches Potenzial. Hannah Birkenkötter warf selbst jedoch Zweifel auf mit Verweis auf einen Rechtsfall gegen die UN, in dem es um den Choleraausbruch in Haiti ging. In diesem Fall forderte Philip Alston, der UN Menschenrechtsexperte, die internationale Organisation auf, sich an ihre eigenen Spielregeln zu halten. Auch Bernard Harcourt stellt die Aussage Thompsons in Frage, indem er argumentierte, dass die Machthaber*innen nicht unbedingt an ihre eigenen Regeln gebunden sind, sobald sie nicht mehr von ihnen profitieren und damit ihre Interessen verteidigen können. Statt sich an für sie unangenehm werdende Spielregeln zu halten, ändern sie diese einfach, sodass sie wieder ihren Interessen entsprechen und sie weiterhin Macht über andere ausüben können.

Emanzipation durch das Recht?

In seinem Keynote-Vortrag argumentierte Bernard Harcourt, dass die abstrakte Idee von Rechtsstaatlichkeit niemals ein stabiler Schutz gegen Faschismus und Autoritarismus sein wird. Er meinte: „Eine der größten Illusionen, die die Menschen demobilisiert und von Verfechterinnen der Ideologie von ‚Recht und Ordnung‘ vorgebracht wird, ist, dass der Rechtsstaat uns beschützt. Dabei sind wir es eigentlich und was wir tun und unser politischer Kampf und die Kritik des Rechts das, was uns auf irgendeine Weise beschützen könnte.“ Harcourt argumentierte dafür, neue Ressourcen der rechtlichen Kritik und Praxis zu entwickeln. Eines seiner Hauptanliegen war, zu überlegen, wie Rechtskritik und juristische Interventionen in ein produktives Verhältnis mit politischer Praxis und Transformation gesetzt werden können. Für Harcourt gehen Theorie und Praxis Hand in Hand als Werkzeuge für Emanzipation. Dieses Verhältnis von Theorie und Praxis zu analysieren bedeutet auch, zu untersuchen, wie politische Bewegungen wie Occupy und Black Lives Matter die Ambitionen der Kritik durch präfigurative Praxen realisieren.

Vor diesem Hintergrund ist auch die strategische Prozessführung von Bedeutung. Reflexionen dazu teilten Boris Burghardt und Pauline Weller von der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“. In Burghardts Augen kann strategische Prozessführung als eine Ressource der Rechtskritik gesehen werden, da sie theoretische Fragen der Potenziale des Rechts und der Widersprüche zwischen Möglichkeit und Realität in den Gerichtssaal trägt. Er warnte jedoch auch zur Vorsicht, da strategische Prozessführung auch den Status quo reproduzieren und affirmieren kann. Reflexion ist also notwendig, um Prozesse in einer Weise zu führen, dass sie emanzipatorische Transformation anstoßen. Weller betonte die Notwendigkeit, eine Strategie zu entwickeln, die über den Gerichtssaal hinausweist und durch die Anwält*innen in Koalition mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen kooperieren, um Wandel über den einzelnen Fall hinaus zu ermöglichen.

Ein Zyklisches Aufheben der Illusionen des Rechts

Der Workshop war sehr hilfreich dafür, einige Illusionen des Rechtes zur Sprache zu bringen und über Methoden nachzudenken, wie diesen aufgedeckt und transformiert werden können. Es wurde gemeinsam zwischen Theoretiker*innen und Praktiker*innen über eine mögliche Emanzipation durch das Recht reflektiert, wobei nicht aus dem Blick verloren wurde, in welchem Sinn das Recht selbst ein oppressives System darstellt, welches nicht unbedingt als Mittel für Widerstand oder Befreiung konzipiert wurde. Einsichtsreich war auch, miteinzubeziehen, aus welcher Positionalität heraus Rechtskritik artikuliert wird und für welche Ziele, Rechtsstaatlichkeit oder Emanzipation marginalisierter Menschen. Dabei war wichtig, auf die Fülle oder aber eigentliche Leere von Begriffen wie Rechtsstaatlichkeit einzugehen. Abschließend ist Harcourts Kommentar von Bedeutung, dass das Aufdecken von Illusionen zwar zentral ist, jedoch nicht unbedingt Wahrheit hervorbringt. Stattdessen könne das Aufheben dieser Trugschlüsse in zyklischer Weise zu neuen Formen von Hierarchien und Enteignung führen, welche wiederum in einer Symbiose von Theorie und Praxis kritisiert und transformiert werden müssen.

Nerges Azizi macht gerade ihren PhD in Law an der Birkbeck, University of London. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit Formen des Widerstandes gegen das europäische Grenzregime. Sie ist besonders an abolitionistischer Theorie und Critical Race Theory interessiert. Freiberuflich arbeitet Nerges als Sprachmittlerin für Geflüchtete.