Optimistische wie pessimistische Szenarien zu den aktuellen Herausforderungen und langfristigen Folgen des „Digitalen Semesters“ haben eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie verweisen auf die klassische Vorlesung bzw. das klassische Seminar als Kontrastfolie. Aus hochschuldidaktischer Perspektive besteht hier Differenzierungsbedarf. Obgleich Konsens darüber bestehen dürfte, dass ‚das klassische Seminar‘ bzw. ‚die klassische Vorlesung‘ rhetorische Verkürzungen sind, lohnt sich die Frage: Was zeichnet die herkömmlichen Lehr-Lern-Formate der Theorielehre aus didaktischer Perspektive aus – über den bloßen Umstand hinaus, dass sie gewöhnlich im ‚analogen Raum‘ stattfinden?
Konkret stellen sich folgende Fragen: Welche Lehr-Lern-Formen werden in unterschiedlichen Lehrveranstaltungstypen im Fachbereich Politische Theorie angewendet? Welche didaktischen Mittel sind für die Vermittlung konkreter Inhalte und Kompetenzen, die Theorielehrende vermitteln möchten, geeignet? Deren Reflexion ist erforderlich, da eine Debatte über die ad hoc-Verlagerung von Lehrveranstaltungen in ‚den‘ ‚digitalen Raum‘ nicht alleine die Bandbreite zur Verfügung stehender online tools thematisieren muss. Debatten über die aktuellen Herausforderungen und die langfristigen Konsequenzen des Digitalen Semesters müssen vor allem die heterogenen Anforderungen und Herausforderungen für die Lehr-Lern-Formate unterschiedlicher Fächer bzw. Teildisziplinen reflektieren.
Herkömmliche Praktiken und Routinen
Für eine produktive(re) Diskussion über Chancen und Risiken des Digitalen Semesters ist vor allem die Differenzierung von frontalen, durch die Lehrperson dominierten (teacher-centered) und studierendenfokussierten (student-centered) Formaten entscheidend (s. Weimer 2002; Wright 2011). Herkömmliche Vorlesungen – bzw. allgemeiner: stark frontal organisierte Lehrveranstaltungen – lassen sich sowohl in synchroner als auch in asynchroner Form vergleichsweise leicht in den digitalen Raum überführen. Je nach technischer Ausstattung und Vorerfahrungen auf Seiten Lehrender und Studierender bietet sich hier ein breites Spektrum von technischen und didaktischen Optionen, das von PowerPoint-Präsentationen mit Audio-Spur über das gekonnt inszenierte Video bis zu Live-Vorlesungen auf verschiedenen Plattformen reicht. Bei aller Bedeutung, die face-to-face-Interaktionen auch in solchen Lehrsituationen haben mögen, erfordert die Übersetzung frontaler Lehrveranstaltungsformate in digitale Medien kein grundsätzliches Über- oder Neu-Denken von zuvor geplanten und praktizierten Veranstaltungen.
Deutlich herausfordernder gestaltet sich die Verlagerung von – insbesondere in geisteswissenschaftlichen Fächern und z.B. der Lehre Politischer Theorie essentiellen – Seminaren und Kolloquien in den „digitalen Raum“. Diese Veranstaltungen leben vom Diskurs bzw. Interaktionen der TeilnehmerInnen. Im besten Fall sind Seminardiskussionen dabei nicht durch die Lehrperson, sondern durch die Perspektiven, Fragen und Argumente dynamisch aufeinander reagierender Studierender dominiert. Aus didaktischer Perspektive wird hier ein „kollektive[r] Erkenntnisgewinn durch eine voranschreitende Diskussion“ angestrebt. Gerade diese „heuristische Dimension“ von Seminarraum-Diskussionen kann auf derzeit verfügbaren digitalen Plattformen jedoch nicht (bzw. nur bedingt) realisiert werden (Heinke et al. 2020).Vor diesem Hintergrund gilt: Je studentenzentrierter und interaktiver die „zu übersetzende“ analoge Lehrveranstaltung konzeptualisiert ist, desto größer werden die sich derzeit stellenden Herausforderungen.
Dies hat – zum Teil aus der geforderten kurzfristigen Umsetzung resultierende – technische, auch aber prinzipiellere didaktische Gründe: Aus technischer Perspektive können Plattformen wie z.B. „MS Teams“ eine Strukturierung in kleine Breakout-Groups und damit einen Online-Diskurs in Kleingruppen ermöglichen. Selbst unter der Voraussetzung, dass alle Universitäten die Funktionalität der entsprechenden Plattformen pünktlich und zuverlässig gewährleisten können, bedarf eine konstruktive Nutzung dieser Möglichkeiten jedoch neben technischem Knowhow schlicht Praxiserfahrung – und damit Zeit. Ob diese Ressource im derzeitigen „Krisenalltag“ für alle Lehrenden und Seminarteilnehmenden in ausreichendem (und gleichem) Maße verfügbar ist, muss bezweifelt werden.
Aus didaktischer Perspektive gilt zudem: Eine gelingende Diskussion lebt nicht nur vom – wie auch immer technisch vermittelten – „Geben und Nehmen von Gründen“, sondern auch von nicht-sprachlichen, expressiven Interaktionsformen und dem ritualisierten Zusammenkommen an einem Ort, hier also dem analogen Seminarraum (z.B. Price 2009; Turner 2002). Vor allem sind Seminardiskussionen auf den spontanen Input der Teilnehmenden und flexible Reaktionen auf Seiten Lehrender angewiesen. Obgleich auch Diskussionsabläufe in „analogen Seminaren“ stets durch die Wahl bestimmter Lehr-Lern-Methoden bestimmt werden (Fleuß 2018), müssen Online-Diskussionen in einem deutlich größeren Ausmaß durch die Lehrperson „designt“, vorstrukturiert, moderiert werden (s. auch Heinke et al. 2020).
Rahmenbedingungen des Hochschulsystems
Aus hochschul- und professionspolitischer Perspektive ist entscheidend, diese didaktischen Herausforderungen für unterschiedliche Lehr-Lern-Formate im Kontext der strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen Hochschulsystems zu betrachten. Besonders ressourcenaufwändig, besonders didaktisch herausfordernd ist die Übersetzung von interaktiven Seminardiskussionen. Diskursive Seminarformate sind vor allem in geisteswissenschaftlichen Fächern ein zentraler Bestandteil des Studiums. In naturwissenschaftlichen Fächern, auch aber in stärker kanonisierten Fachbereichen der Politikwissenschaft (z.B. in der Methodenausbildung) sind die für das digitale Semester geforderten Anpassungen daher tendenziell mit einem deutlich geringen didaktisch-konzeptionellem Innovationsbedarf und Ressourcenaufwand assoziiert.
Dieser Zusammenhang droht ohnehin vorhandene strukturelle Ungleichheiten in der deutschen Hochschullandschaft zu verstärken: Erstens betreffen die geschilderten Herausforderungen und die mit ihrer Bewältigung verbundene Mehrarbeit maßgeblich Lehrende von Fächern, die ohnehin mit weniger Ressourcen ausgestattet sind. Zweitens gilt für ein Gros der an bundesdeutschen Universitäten durchgeführten Seminare und Übungen, dass sie – im Gegensatz zu Vorlesungen – maßgeblich durch den wissenschaftlichen Mittelbau und Lehrbeauftragte geleitet werden. Damit betreffen die derzeitigen besonders ressourcenaufwändigen Anpassungsleistungen und „Innovationen“ auch und vor allem befristet beschäftigte, in Qualifizierungsphasen befindliche WissenschaftlerInnen – denen zudem in vielen Fällen die Aufgabe zufallen dürfte, die technischen Voraussetzungen für von ProfessorInnen geleiteten Seminare zu schaffen.
Debatten über die Chancen bzw. Risiken eines „Digitalisierungsschubs“ für die Hochschullehre und Reflexionen auf die langfristigen Folgen eines „digitalen Semesters“ müssen diese Interaktionen mit strukturellen Rahmenbedingungen im Blick behalten. Wir sollten mit Blick auf die spezifischen Herausforderungen für unterschiedliche didaktische bzw. Lehr-Lern-Formate und Statusgruppen die Frage stellen: Für wen stellt das digitale Semester eine Chance, eine Herausforderung, ein Risiko dar? Wie gleich oder ungleich sind die Ressourcen für die Bewältigung der Herausforderungen verteilt? Wer ist derzeit aufgefordert, potentiell nicht der weiteren Karriere förderliche Mehrarbeit zu leisten? Wenn die Anforderungen an digitale Lehre diese Differenzierungen aus dem Blick verlieren, droht sonst vor allem eines: dass der situationsbedingte „Digitalisierungsschub“ bestehende strukturelle Ungleichheiten im deutschen Hochschulsystem verstärkt.
Dannica Fleuß arbeitet seit ihrer Promotion 2016 in Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und ist seit 2018 außerdem Research Associate am Centre for Deliberative Democracy & Global Governance (University of Canberra). Zudem ist sie Sprecherin des PostDoc-Rats der Hamburg Research Academy. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit Theorie und Methoden der Deliberationsforschung.
Der DVPW-Arbeitskreis „Hochschullehre“ hat am 24. April weitere Hilfestellungen zur Verfügung gestellt, unter anderem „13 Tipps zur digitalen politikwissenschaftlichen Lehre“:
https://www.dvpw.de/fileadmin/docs/Lehre/DVPW_13Tipps.pdf
Zudem wird zur Beteiligung am Erstellen einer „Toolbox digitale politikwissenschaftliche Lehre“ aufgerufen:
https://forms.office.com/Pages/ResponsePage.aspx?id=DQSIkWdsW0yxEjajBLZtrQAAAAAAAAAAAAO__f3IvVJUQ09KR0FLSEpRNVNYUVpHS1MyQlFOODRHSi4u
Überdies informiert der AK über folgende zwei Veranstaltungen:
„(1) Thema: Politikwissenschaftliche Schreibübungen in Corona-Zeiten
Referentin: Kathrin Loer, Fernuniversität Hagen
Termin: Dienstag, 28. April 2020 um 17.30-18.30 Uhr
Ort: Zoom
Meeting-ID: 951 5750 0049
Passwort: 009866
[Abstract] Wissenschaftlich zu schreiben ist eine zentrale Kompetenz, die Studierende der Politikwissenschaft erwerben müssen. Damit, wie diese Kompetenz auch digital vermittelt werden kann, hat Kathrin Loer an der Fernuniversität Hagen schon einige Erfahrung gesammelt. In diesem Workshop gibt sie einen Einblick.
(2) Thema: Politische Theorie(n) digital lehren
Referentin: Dannica Fleuß, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Termin: Mittwoch, 29. April 2020 um 16.00-17.00 Uhr
Ort: Zoom
Meeting-ID: 931 9460 2918
Passwort: 025243
[Abstract] Die Arbeit mit komplexen Theorien ist in der Lehre oft nicht einfach. Viele Verständnisfragen tauchen auf, umfangreiche Texte müssen durchgearbeitet werden. Intensive Diskussionen sind erwünscht – doch wie geht dies alles digital? Dannica Fleuß gibt ausgehend von der Politischen Theorie, aber auch darüber hinaus, Einblicke in synchrone und asynchrone Methoden der digitalen Lehre von Theorien.“
Wenn wir über Herausforderungen, Chancen und Risiken „für wen“ reden – drängt sich als zusätzliche Reflektionsperspektive schon nach Woche eins zudem dringend die Frage auf, wie stark sozioökonomische, aber auch geographische Unterschiede zwischen Stadt und Land die Lehr-Lern-Kontexte verändern. Diese bestehen nicht nur, aber oft in besonderem Maße auf Studierendenseite. Das wiederum „interferiert“ zugleich wieder mit den im Text unterschiedenen Lernumgebungen, insofern es interaktive Umgebungen – insbesondere Live-Konferenzen – sind, bei denen die Zugangsschwelle „Internetqualität“ besonders hoch ist.
Hier wird der Mythos des perfekten analogen (Seminar-)Raumes aufgebaut. Ein realer Ort, der in seiner real-räumlichen Struktur Interaktivität fördert (vgl. die dominierende Bestuhlungsordnung in Seminarräumen: Frontalunterricht). Ein realer Ort, in dem alle Lehrenden stets perfekt vorbereitet sind und immer hochgradig engagiert motivierende Diskussionsrunden initiieren. Wo gibt es diesen (realen) Seminarraum?
https://www.praesenzlehre.com/
Dieser Aufruf „Zur Verteidigung der Präsenzlehre“ ist jetzt von über 2000 Profs, Dozenten u. wiss. MA gezeichnet, u. a. auch von S. Huhnholz, wozu anzumerken/zu fragen wäre:
1. Wieso/wodurch ist die Präsenzlehre so angegriffen oder ein Angriff absehbar, dass man jetzt zu ihrer „Verteidigung“ genötigt wäre ? – Corona-Digital-Semester sind ja passagere Notlösungen und noch kein Angriff o. dessen Vorbereitung, und
2. warum/wie mit den wenig zutreffenden 5 Punkten, die die Präsenzlehre einfach m. o. w. positiv „begründen“ sollen, diese Verteidigung geschehen – zumindest initiiert werden – kann/soll/darf/muss usw.
Natürlich ist an nahezu jedem dieser Pro-Punkte „auch was dran“, aber keiner trifft doch die Dispositive/Leitgedanken/Tragbalken im Lernen & Lehren so, dass ein überzeugender, vor allem im Vergleich zum Möglichkeitsraum der Digitalpräsenz/’Real’absenz beständiger, tragfähiger Kern der Präsenzlehre (PL) erkennbar würde. So gleicht das dem Unterfangen, einem Feld, das man als digital-/medial basiertes Lernen bezeichnen müsste und dem im öff. Sektor der Bildung seit Jahrzehnten allergrößte Vernachlässigung – von den quantifizierbaren Ressourcen um den Faktor 10.000 bis zur unterirdischen „Qualität“ der Player/Autoren u. deren Ergebnissen – zuteil wird, den vergleichsweise wohlgenährten Zwilling der Präsenzlehre gegenüberzustellen und dann zu „meckern“, was das unterernährte Geschwisterchen im Vergleich so alles nicht könnte.
Zum „Feld“ zunächst folgende Eigenbeobachtungen u. Erfahrungen:
1. Schon Ende der 80ger Jahre gab es hervorragende Lernsysteme (zumindest im Bereich US-geführter Konzerne in der BRD) die seit Beginn der 80ger entstanden waren, – trotz der extrem beschränkten Technik der Mikrocomputer, auf denen die liefen: Nichtmal Diskettenbetrieb, also kein schneller, „wahlfreier“ Zugriff, sondern ewiges Kassettengespule, – um von der „Grafikkarte“ noch gar nicht zu reden …
Dennoch war es ein Vergnügen, damit zu arbeiten, konnte man doch ein gutes bis sehr gutes Verständnis u. operat. Skills für eine komplexe Technik und ihre Wechselwirkungen mit der Vitalmedizin (es ging um Beatmungs- u. Narkosegeräte/mediz. Gasmanagement) in viel kürzerer Zeit (ein sechstel der PL!) konzentriert erwerben.
2. Diese Dinge sind bis heute kaum weiterentwickelt worden, meines Eindrucks nach auch nicht in den Konzernen. Eine Ausnahme dazu bildet das digitale u. oft remote Prüfungswesen der IT-Firmen, – da hat es sagenhafte Fortschritte gegeben, was Technik und Struktur/Aufbau der Prüfungen angeht, und das von daher schon aus strukturwiss. Sicht ein hochergiebiges Analysefeld für denkbare Transfers in die öff. Bildung ergibt, aber offenbar unbearbeitet bleibt.
Man vergleiche das mal mit dem Müll, der digitalerweise von den hoch angesehenen Schulbuchverlagen, vulgo: vom „Establishment“, – zumindest bis ca. 2005, danach habe ich dort keinen Einblick mehr genommen: ZU SCHEUßLICH! – , über unsere Grundschüler so ausgekippt wird: 11 * 3 = 33 aber demnach auch 333, 33333, 333333 usw., so als hätte es den Ergonomie-Standard der Enter-Taste, um technisch eine gültige Eingabe zu erzeugen, davor die Gelegenheit zur eig. Überprüfung der Gesamteingabe usw., nie gegeben.
3. Sicher ist es gerade für Beginners oft unzureichend, sich die manchmal eben wirklich schwierigen Texte der jeweiligen Kanonik allein durch eigenes, stilles Lesen zu erschließen, so dass die verständig intonierte „Vorlesung“ durch versierte Text- u. Feld-Kenner als gleichzeitig auch versiert-motivierte SPRECHER zumindest anfangs z. B. einer Kant-, Hegel- o. ä. -Lektüre sehr sinnvoll sein kann, – das stille o. laute Selbstlesen BEGLEITEND, nicht ersetzend. Aber wo sind die dazu tauglichen Konserven/Aufnahmen? Stattdessen rumpeln die Lehrkörper seit Jahrzehnten oft nur pflichtschuldigst ihre Basis-Sujets herunter, vieltausendfach von immer dem Selben …
Um von der Pflege eines eigenen Sprech-Profils für die TTS-Markup-Language(s), ja dem Einsatz von TTS-ML überhaupt für die – meist noch nicht kanonischen – aktuellen Eigenproduktionen der Lehr- u. Forschungskörper, Integration der autom. Übersetzungen usw. noch gar nicht zu reden.