theorieblog.de | Forum e-Semester (2): Das Digitale Semester als Herausforderung, Chance, Risiko – aber für wen?

23. April 2020, Fleuß

Optimistische wie pessimistische Szenarien zu den aktuellen Herausforderungen und langfristigen Folgen des „Digitalen Semesters“ haben eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie verweisen auf die klassische Vorlesung bzw. das klassische Seminar als Kontrastfolie. Aus hochschuldidaktischer Perspektive besteht hier Differenzierungsbedarf. Obgleich Konsens darüber bestehen dürfte, dass ‚das klassische Seminar‘ bzw. ‚die klassische Vorlesung‘ rhetorische Verkürzungen sind, lohnt sich die Frage: Was zeichnet die herkömmlichen Lehr-Lern-Formate der Theorielehre aus didaktischer Perspektive aus – über den bloßen Umstand hinaus, dass sie gewöhnlich im ‚analogen Raum‘ stattfinden?

Konkret stellen sich folgende Fragen: Welche Lehr-Lern-Formen werden in unterschiedlichen Lehrveranstaltungstypen im Fachbereich Politische Theorie angewendet? Welche didaktischen Mittel sind für die Vermittlung konkreter Inhalte und Kompetenzen, die Theorielehrende vermitteln möchten, geeignet? Deren Reflexion ist erforderlich, da eine Debatte über die ad hoc-Verlagerung von Lehrveranstaltungen in ‚den‘ ‚digitalen Raum‘ nicht alleine die Bandbreite zur Verfügung stehender online tools thematisieren muss. Debatten über die aktuellen Herausforderungen und die langfristigen Konsequenzen des Digitalen Semesters müssen vor allem die heterogenen Anforderungen und Herausforderungen für die Lehr-Lern-Formate unterschiedlicher Fächer bzw. Teildisziplinen reflektieren.

Herkömmliche Praktiken und Routinen

Für eine produktive(re) Diskussion über Chancen und Risiken des Digitalen Semesters ist vor allem die Differenzierung von frontalen, durch die Lehrperson dominierten (teacher-centered) und studierendenfokussierten (student-centered) Formaten entscheidend (s. Weimer 2002; Wright 2011). Herkömmliche Vorlesungen – bzw. allgemeiner: stark frontal organisierte Lehrveranstaltungen – lassen sich sowohl in synchroner als auch in asynchroner Form vergleichsweise leicht in den digitalen Raum überführen. Je nach technischer Ausstattung und Vorerfahrungen auf Seiten Lehrender und Studierender bietet sich hier ein breites Spektrum von technischen und didaktischen Optionen, das von PowerPoint-Präsentationen mit Audio-Spur über das gekonnt inszenierte Video bis zu Live-Vorlesungen auf verschiedenen Plattformen reicht. Bei aller Bedeutung, die face-to-face-Interaktionen auch in solchen Lehrsituationen haben mögen, erfordert die Übersetzung frontaler Lehrveranstaltungsformate in digitale Medien kein grundsätzliches Über- oder Neu-Denken von zuvor geplanten und praktizierten Veranstaltungen.

Deutlich herausfordernder gestaltet sich die Verlagerung von – insbesondere in geisteswissenschaftlichen Fächern und z.B. der Lehre Politischer Theorie essentiellen – Seminaren und Kolloquien in den „digitalen Raum“. Diese Veranstaltungen leben vom Diskurs bzw. Interaktionen der TeilnehmerInnen. Im besten Fall sind Seminardiskussionen dabei nicht durch die Lehrperson, sondern durch die Perspektiven, Fragen und Argumente dynamisch aufeinander reagierender Studierender dominiert. Aus didaktischer Perspektive wird hier ein „kollektive[r] Erkenntnisgewinn durch eine voranschreitende Diskussion“ angestrebt. Gerade diese „heuristische Dimension“ von Seminarraum-Diskussionen kann auf derzeit verfügbaren digitalen Plattformen jedoch nicht (bzw. nur bedingt) realisiert werden (Heinke et al. 2020).Vor diesem Hintergrund gilt: Je studentenzentrierter und interaktiver die „zu übersetzende“ analoge Lehrveranstaltung konzeptualisiert ist, desto größer werden die sich derzeit stellenden Herausforderungen.

Dies hat – zum Teil aus der geforderten kurzfristigen Umsetzung resultierende – technische, auch aber prinzipiellere didaktische Gründe: Aus technischer Perspektive können Plattformen wie z.B. „MS Teams“ eine Strukturierung in kleine Breakout-Groups und damit einen Online-Diskurs in Kleingruppen ermöglichen. Selbst unter der Voraussetzung, dass alle Universitäten die Funktionalität der entsprechenden Plattformen pünktlich und zuverlässig gewährleisten können, bedarf eine konstruktive Nutzung dieser Möglichkeiten jedoch neben technischem Knowhow schlicht Praxiserfahrung – und damit Zeit. Ob diese Ressource im derzeitigen „Krisenalltag“ für alle Lehrenden und Seminarteilnehmenden in ausreichendem (und gleichem) Maße verfügbar ist, muss bezweifelt werden.

Aus didaktischer Perspektive gilt zudem: Eine gelingende Diskussion lebt nicht nur vom – wie auch immer technisch vermittelten – „Geben und Nehmen von Gründen“, sondern auch von nicht-sprachlichen, expressiven Interaktionsformen und dem ritualisierten Zusammenkommen an einem Ort, hier also dem analogen Seminarraum (z.B. Price 2009; Turner 2002). Vor allem sind Seminardiskussionen auf den spontanen Input der Teilnehmenden und flexible Reaktionen auf Seiten Lehrender angewiesen. Obgleich auch Diskussionsabläufe in „analogen Seminaren“ stets durch die Wahl bestimmter Lehr-Lern-Methoden bestimmt werden (Fleuß 2018), müssen Online-Diskussionen in einem deutlich größeren Ausmaß durch die Lehrperson „designt“, vorstrukturiert, moderiert werden (s. auch Heinke et al. 2020).

Rahmenbedingungen des Hochschulsystems

Aus hochschul- und professionspolitischer Perspektive ist entscheidend, diese didaktischen Herausforderungen für unterschiedliche Lehr-Lern-Formate im Kontext der strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen Hochschulsystems zu betrachten. Besonders ressourcenaufwändig, besonders didaktisch herausfordernd ist die Übersetzung von interaktiven Seminardiskussionen. Diskursive Seminarformate sind vor allem in geisteswissenschaftlichen Fächern ein zentraler Bestandteil des Studiums. In naturwissenschaftlichen Fächern, auch aber in stärker kanonisierten Fachbereichen der Politikwissenschaft (z.B. in der Methodenausbildung) sind die für das digitale Semester geforderten Anpassungen daher tendenziell mit einem deutlich geringen didaktisch-konzeptionellem Innovationsbedarf und Ressourcenaufwand assoziiert.

Dieser Zusammenhang droht ohnehin vorhandene strukturelle Ungleichheiten in der deutschen Hochschullandschaft zu verstärken: Erstens betreffen die geschilderten Herausforderungen und die mit ihrer Bewältigung verbundene Mehrarbeit maßgeblich Lehrende von Fächern, die ohnehin mit weniger Ressourcen ausgestattet sind. Zweitens gilt für ein Gros der an bundesdeutschen Universitäten durchgeführten Seminare und Übungen, dass sie – im Gegensatz zu Vorlesungen – maßgeblich durch den wissenschaftlichen Mittelbau und Lehrbeauftragte geleitet werden. Damit betreffen die derzeitigen besonders ressourcenaufwändigen Anpassungsleistungen und „Innovationen“ auch und vor allem befristet beschäftigte, in Qualifizierungsphasen befindliche WissenschaftlerInnen – denen zudem in vielen Fällen die Aufgabe zufallen dürfte, die technischen Voraussetzungen für von ProfessorInnen geleiteten Seminare zu schaffen.

Debatten über die Chancen bzw. Risiken eines „Digitalisierungsschubs“ für die Hochschullehre und Reflexionen auf die langfristigen Folgen eines „digitalen Semesters“ müssen diese Interaktionen mit strukturellen Rahmenbedingungen im Blick behalten. Wir sollten mit Blick auf die spezifischen Herausforderungen für unterschiedliche didaktische bzw. Lehr-Lern-Formate und Statusgruppen die Frage stellen: Für wen stellt das digitale Semester eine Chance, eine Herausforderung, ein Risiko dar? Wie gleich oder ungleich sind die Ressourcen für die Bewältigung der Herausforderungen verteilt? Wer ist derzeit aufgefordert, potentiell nicht der weiteren Karriere förderliche Mehrarbeit zu leisten? Wenn die Anforderungen an digitale Lehre diese Differenzierungen aus dem Blick verlieren, droht sonst vor allem eines: dass der situationsbedingte „Digitalisierungsschub“ bestehende strukturelle Ungleichheiten im deutschen Hochschulsystem verstärkt.

 

Dannica Fleuß arbeitet seit ihrer Promotion 2016 in Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und ist seit 2018 außerdem Research Associate am Centre for Deliberative Democracy & Global Governance (University of Canberra). Zudem ist sie Sprecherin des PostDoc-Rats der Hamburg Research Academy. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit Theorie und Methoden der Deliberationsforschung. 

 


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