Wer nach der Zukunft der Religionen fragt, wird sich auch um ihre Gestalten in Vergangenheit und Gegenwart Gedanken machen müssen. Das im Oktober erschienene Buch des Soziologen Hans Joas über „Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“ führt die LeserInnen in einer intellektuellen tour de force durch die Geschichte des modernen Nachdenkens über Religion und wartet mit einer fulminanten These auf: Max Webers durch sämtliche Proseminare geisternde These von der „Entzauberung der Welt“ habe den Blick auf eine auch in der Gegenwart präsente „Macht des Heiligen“ verstellt. Diese Macht sei durch Webers suggestives Entzauberungsnarrativ weder historisch noch sozialtheoretisch richtig begriffen worden. Das zweite Ziel des Buches ist es dann auch gleich, eine solche historisch informierte Sozialtheorie des Heiligen zu entwickeln.
Kann es eine Wissenschaft von der Religion geben?
Ein solch ambitioniertes Vorhaben mag verdächtig erscheinen: Versucht hier ein sozialphilosophisch hochversierter Katholik, seinen persönlichen Glauben in einer weitestgehend säkularen Theorielandschaft zu verteidigen oder gar zu universalisieren? Joas antizipiert diesen Einwand und kommt ihm dadurch zuvor, dass er zuerst die Frage behandelt, wie überhaupt wissenschaftlich über Religion nachgedacht werden kann. Er hebt dabei insbesondere drei Disziplinen hervor, die in ihrer Entstehungsphase methodisch innovative Einsichten über Religionen hervorbrachten, ohne dabei unmittelbar in einen religiösen (oder antireligiösen) Partikularismus zu verfallen: die Geschichtswissenschaft, die Psychologie und die Soziologie.
Zuerst nennt Joas die radikale Historisierung der Religion durch David Hume. Auch das Christentum habe laut Hume eine eigene kontingente und – vor allem im Vergleich zu polytheistischen Religionen – gewaltgetränkte Geschichte. Zwar habe Humes Naturgeschichte der Religion prinzipiell religionsskeptische Einseitigkeiten zur Folge gehabt, aber das Verdienst von Hume sei es, Religion überhaupt jenseits der Heilsgeschichte zum Gegenstand historischer Forschung zu machen. Eine zweite innovative Betrachtungsweise der Religion findet Joas im amerikanischen Pragmatismus, insbesondere bei William James und dem weniger bekannten Josiah Royce. James habe die Besonderheit der leiblichen religiösen Erfahrung herausgearbeitet, während Royce die Symbolhaftigkeit noch der individuellsten Erfahrung betonte, die überhaupt erklärt, wie Religion zwischen individueller Erfahrung und Institutionen vermittelt sein kann. Der dritte methodisch innovative Anknüpfungspunkt für Joas ist Durkheims Theorie des Rituals. Joas übernimmt von Durkheim, dass durch Rituale „Idealzustände erlebbar gemacht werden“ (163) können und somit in die soziale Praxis des Rituals Erfahrungen der Heiligkeit eingebettet seien. Insofern sind für Joas Heiligkeit und Religion keinesfalls identisch. Auch Liebe oder Patriotismus könnten demnach für Joas als Teil ritueller Erfahrung verstanden werden. Entscheidend für die Heiligkeit sind demnach die Selbsttranszendenz und die Irreduzibilität der Erfahrung auf instrumentelles Handeln.
Die drei hier nur angerissenen methodischen Anknüpfungspunkte sind laut Joas nicht durch persönliche religiöse Motive der Autoren erklärt, sondern lassen sich zu einer anspruchsvollen Sozialtheorie des Heiligen synthetisieren. Dies sei die große Leistung der Soziologie in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen – allen voran Ernst Troeltschs. Dieser habe es verstanden, das „Faktum der Idealbildung“ (170) in Verbindung mit der Genese von Institutionen als kreativen historischen Prozess nachzuzeichnen. Und er habe vermieden, wie sein heute weitaus berühmterer Kollege Max Weber ein lineares Bild von Geschichte der Religion zu zeichnen. Webers suggestiver Begriff der Entzauberung vereine nämlich, wie Joas im längsten Kapitel des Buches minutiös nachzeichnet, gewaltsam Entwicklungen, die der Sache nach getrennt sind. So sei der Begriff der Entzauberung eigentlich ein Konglomerat aus mindestens drei unterschiedlichen Konzepten, nämlich der „Entmagisierung“, dem Verlust der Sinnquelle Magie, der „Entsakralisierung“, also dem Verlust dessen, was als an sich wertvoll erfahren wird, und der „Enttranszendentalisierung“, d.h. Verlust der „Trennung zwischen dem Reich des Göttlichen und dem Reich des Irdischen“ (254). Diese drei Prozesse seien allerdings deutlich unterscheidbar und gingen keineswegs notwendig miteinander einher. Dies sei schon in Webers Studie zum Calvinismus deutlich – schließlich sei dessen Kampf gegen jede innerweltliche Magie zugleich eine Forderung nach einer „ausschließliche[n] Sakralisierung Gottes“ und seiner „radikale[n] Transzendentalisierung“ (255) gewesen. Webers „gefährlicher Prozeßbegriff“ (356) von Entzauberung verwische aber solche Unterschiede und suggeriere eine allzu deutliche Zurückdrängung des Heiligen, wie Joas textnah nachzeichnet. Die Kritik an Webers Entzauberungsthese, die in der Wirkungsgeschichte ein ungeheures Eigenleben entwickelt hat, ist nicht ganz neu. Aber Joas‘ Ziel ist eigentlich auch kein rein exegetisches, sondern der Versuch, Webers Fragestellungen nach dem Verhältnis zwischen dem Heiligen und der Macht überzeugend weiterzudenken.
Die Wandelbarkeit des Heiligen
Wie lässt sich eine historische Soziologie des Heiligen ohne dieses Metanarrativ schreiben? Joas‘ Vorschlag: Indem das „Faktum der Idealbildung“ als Teil genuin menschlichen Handelns in einer offenen Geschichte begriffen wird. Das Heilige fasst Joas dabei als „universales anthropologisches Phänomen“, das in achsenzeitlichen Kulturen insbesondere durch einen gesteigerten Grad an Reflexivität, einen moralischen Universalismus und Transzendenzvorstellungen charakterisiert sei. Joas insistiert darauf, dass es historisch ganz unterschiedliche und komplexe Wechselverhältnisse zwischen dem reflexiv gesteigerten Heiligen und der Macht gegeben habe und gebe. Das Heilige könne ebenso machtstützend wie -kritisch wirken. Das hinge damit zusammen, dass der Gegenstand des Heiligen selbst historisch wandelbar sei: Unter Bedingungen der achsenzeitlichen „reflexive[n] Sakralität“ (466) sei Herrschaft nicht nur durch die Infragestellung des Sakralen angefochten worden, sondern auch durch vielfältige neue Sakralisierungen. Exemplarisch nennt Joas die „Sakralisierung des Volkes [, die] gegen die Sakralisierung des Herrschers ausgespielt werden [kann]“ (473) oder die Sakralisierung des Individuums, die sich mit der Entstehung der Menschenrechte vollzogen habe.
Dieses weniger teleologische, aber dennoch universal angelegte Metanarrativ wirft natürlich Fragen auf: Man würde sich eine klarere Bestimmung wünschen, was genau mit „reflexiv“ gemeint ist – und kann Reflexivität nicht in bestimmten Konstellationen auch wieder gänzlich verloren gehen? Weiterhin wäre das Verhältnis des sehr breit angelegten Begriffs des Sakralen zu verwandten Begriffen wie dem der Autorität noch genauer zu bestimmen. Auch über den normativen Schluss, dass die „jeweilige richtige Balance moralisch rechtfertigbarer Sakralisierungen[…] institutionell und individuell immer erst zu finden [ist]“ (488) lässt sich sicher diskutieren, da die Erfahrung der Sakralität eben auch eine Erfahrung des Unverfügbaren ist, die sich dem Rechtfertigungsimperativ entzieht.
Alles in allem aber ist die Lektüre äußerst lohnenswert und weist implizit auf säkularistische Einseitigkeiten in der kritischen Gesellschaftstheorie hin: Spätestens seit Marx‘ Rede vom „Opium des Volkes“ ist Religion meist auf seine (ideologische) Funktion reduziert worden. Joas rezipiert in seiner Studie praktisch keine kritische Gesellschaftstheorie, und das aus gutem Grund: Diese hat, so ließe sich Joas zuspitzen, die fundamentale Bedeutung der Erfahrung des Heiligen machttheoretisch noch nicht hinreichend durchdacht. Damit öffnet Joas ein weites Feld für die gegenwärtige Gesellschaftstheorie und Ideengeschichte.
Carsten Flaig studiert im Master Philosophie an der Freien Universität Berlin.
Ja, das 70ger-Jahre Diktum Andre Malraux‘, das 21. Jh. werde religiös oder nicht sein, findet spät, vlt. zu spät, hier womöglich den Anfang seiner Einführung als diskurierbares Sujet.