Macht als immanente Dynamik. Lorina Buhr untersucht den aristotelischen Hintergrund des Machtbegriffs bei Hobbes und Foucault

Der Begriff der Macht hat längst eine unhintergehbare Stellung in der politischen Theorie eingenommen. Spätestens seit Michel Foucault die immersiven Wirkungen von Macht freigelegt hat, ist der Machtbegriff zu einem unabdingbaren grundbegrifflichen Werkzeug der Theoriebildung geworden. Die Öffnung philosophiegeschichtlicher Forschung und die Sichtbarmachung frühneuzeitlichen Denkens in der politischen Theorie der Gegenwart haben dazu beigetragen, den Machtbegriff wieder in seine historischen Bezüge einzurücken und von hier aus weiterzuentwickeln. Insbesondere Hobbes und Spinoza sind dabei zu wichtigen Referenzpunkten einer politischen Theorie der Gegenwart geworden, die die immanenten Konstitutionsprozesse des Politischen von einem dynamischen Machtgeschehen her zu denken erlauben. In einer umfangreichen Studie hat Lorina Buhr nun die Entwicklung des modernen Machtdenkens aus der aristotelischen Konzeption der dynamis hergleitet und bis in aktuelle Debatten der politischen Theorie und Sozialtheorie verfolgt.

Ausgangspunkt ihrer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion ist die Beobachtung, dass mit dem Begriff der Macht nicht nur die konkrete Macht einzelner Individuen bestimmt wird, sondern Macht auch in übergreifenden Kausalzusammenhängen und als ein elementares Prinzip der Potentialität verstanden wird. So finden sich gerade in jüngeren kritischen Diskussionen ontologisch oder auch epistemologisch ausgerichtete Analysen, die Macht als eine wirksame Kraft ausweisen, um den dynamischen Charakter von Konstitutionsprozessen deutlich zu machen. Eine solche Kraftsemantik fällt schon bei Nietzsche auf, der Macht von ihrer mechanistischen in eine vitalistische Deutung überführt und als ein schöpferisches Grundprinzip des Lebendigen behandelt hat. Sie setzt sich fort bei Foucault, der Subjektivierung in dynamischen Verhältnissen sich fördernder und hemmender Machtwirkungen bestimmt hat. Unter anderem aus dieser Linie des Machtdenkens haben sich zahlreiche Anschlüsse ergeben, in denen Macht als eine situierte und relationale Kraft immanent-kausaler Wirkungszusammenhänge ausgewiesen wird.  

Der Machtbegriff hat sich also gerade in seiner metaphysischen Semantik als höchst produktiv und anschlussfähig erwiesen und so ist es nur zu begrüßen, dass mit dem Buch von Lorina Buhr nun eine umfassende deutschsprachige Untersuchung vorliegt, die die begriffsgeschichtlichen Hintergründe des komplexen semantischen Feldes von Macht und Bewegung aufzeigt. Das ausgemachte Desiderat besteht für die Autorin darin, die Bezüge des modernen Machtbegriffs zu seiner naturphilosophischen, physikalischen und metaphysischen Vorgeschichte deutlich zu machen und so liegt der Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf der Verbindung von Aristoteles zu Hobbes und Foucault. Mit der Konzentration auf die Bewegungssemantik setzt sie den Ausgangspunkt nicht etwa in der Politik oder der Ethik des Aristoteles, sondern in dessen Physik und Metaphysik und entwickelt von hier aus die Frage nach einer kinetischen Dimension der Machtbegriffe bei Hobbes und Foucault. Auf diese Weise gelingt es ihr, den systematischen Zusammenhang von Bewegung und Möglichkeit in seiner Relevanz für die Analyse von Macht in sozialen und politischen Ordnungen auszuweisen.  

Begriffsgeschichtliche Kartierungen   

Methodisch folgt Lorina Buhr der diagrammatischen Begriffskonzeption von Deleuze und Guattari, die wiederholt haben, dass die Welt nicht Gegenstand der Philosophie und Philosophie keine Wissenschaft, sondern reine Begriffsarbeit sei (67ff.)  Begriffe bilden sich in multiplen Resonanzverhältnissen und dementsprechend können auch die historischen Begriffe der dynamis und der potentia in der Theoriebildung der Gegenwart aufgezeigt werden. Lorina Buhr hat eine große „kartografisch angeleitete Erkundung“ (13) vorgelegt, um ihre Wirkung im zeitgenössischen Machtdenken zu durchleuchten und die Beziehungen philosophischer und nicht-philosophischer, wie politischer und nicht-politischer Begriffe der Macht heuristisch abzubilden. Anhand eines Modells begrifflicher Diagrammatik von Macht und Bewegung untersucht sie die heterogenen Einflüsse, die aus metaphysischen oder naturphilosophischen Traditionen in den Machtbegriff eingegangen sind. So zeigen sich die historischen Machtbegriffe als spezifische Topologien, die die Autorin an zwölf Komponenten entfaltet, um die Komplexität des Begriffsfeldes von Macht und Bewegung aus der aristotelischen Konzeption der dynamis herzuleiten. Buhr unterscheidet aktuelle Diskussionen nach einem weiten und einem engen Gebrauch des Machtbegriffs und so haben wir es etwa in wissenschaftstheoretischen und naturphilosophischen Diskussionen angloamerikanischer Prägung mit einem weiten Begriff der Macht zu tun. Powers werden hier als reale kausale Kräfte und Dispositionen behandelt und es findet sich ein metaphysischer Kräfterealismus, der auch explizit als neo-aristotelisch ausgewiesen wird. Ein engerer Begriff von Macht kommt hingegen in der politischen Theorie und Ideengeschichte zur Wirkung, wo die aus der mittelalterlichen Teilung von potentia und potestas hervorgegangenen Begriffe der Verhältnisbildung staatlicher und politischer Macht zu einer Verengung des Machtdenkens und einem Zurücktreten des metaphysischen und naturphilosophischen Gehalts der aristotelischen dynamis geführt hat.  

Nach einigen Vorbemerkungen zu den semantischen Kontexten im antiken alltagsweltlichen und vorphilosophischen Gebrauch, geht es um den Begriff der dynamis im Kontext grundlegender ontologischer Fragen. Buhr unterscheidet hier zwischen aktiver und passiver dynamis, also einer bewegenden und einer bewegten Bewegung, und stellt anhand der aristotelischen Metaphysik die verbreitete Unterscheidung einer kinetischen und einer ontologischen Auffassung von dynamis vor. Gegen die Priorisierung von Substanz betont sie, dass der bewegungsbezogene Begriff dem seinsbezogenen Begriff der dynamis voran gehe und die Bewegungsdimension für Aristoteles in die substanzielle Bestimmung des Seienden eingelassen sei. Die Kartierung des Begriffs der dynamis erfolgt in Zonen, des Denkmilieus, des Begriffsmilieus und des Begriffskorpus und so entsteht ein Bild situierten Denkens und Wissens, indem das historisch-geografische Milieu Athens, die frühen Regierungsformen und die wissenskulturelle Umwälzung des Denkens vom Mythos zum Logos im Umfeld des Aristoteles deutlich gemacht werden.  

Die Kraft der Bewegung von Hobbes zu Foucault und darüber hinaus 

Ausgehend vom Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Staatsphilosophie betont Buhr die theoretische und begriffliche Kontinuität der beiden Elemente bei Thomas Hobbes und sieht einen schwachen Systemcharakter in ihrer Verbindung. Hobbes politische Philosophie könne zwar nicht aus der Naturphilosophie hergeleitet werden, da die Voraussetzungen der Natur den Staat hier nicht determinieren, aber es gibt eine methodische und begriffliche Kontinuität zwischen seinem Natur- und seinem Staatsverständnis. Die Unterscheidung von potentia und potestas wird bei Hobbes zunächst gegliedert, um Macht als metaphysische potentia, als natürliches Vermögen der Menschen und als Macht des Souveräns zu unterschieden. So legt die Autorin die Tiefenschichten dieses Machtdenkens in ihrer Kontinuität zu Aristoteles frei und zeigt zudem, dass die Aufnahme der aristotelischen Metaphysik und Naturphilosophie auch im Zusammenhang einer allgemeinen Logifizierung des Naturdenkens steht. Mathematik, Physik und Mechanik dienen hier zur Erklärung natürlicher Wirkungszusammenhänge von Bewegung und führen nicht nur zu einer Orientierung an mechanistischen, sondern damit zugleich auch materialistischen Grundlagen, die sich auch in der Philosophie des politischen Raums und der Regierung zeigen. Die universale Kategorie der Bewegung steht bei Hobbes im Hintergrund der Erkenntnis und als Gegenstand der Erkenntnis ist die Welt auch für Hobbes eine „Gesamtheit immanent bewegt-bewegender Körper“ (259). Buhr bezeichnet dieses spezifisch naturphilosophische Denkmilieu sehr treffend als einen „Konstruktionsraum mechanisch und materialistisch konfigurierter (signierter) Immanenzebenen“ (247). Der Begriff der Immanenz verdeutlicht hier nicht allein die anti-theologische Ausrichtung auf eine aus sich selbst (und nicht aus Gott) zu erklärende Natur und ihre immanente Kausalität, sondern vielmehr auch die horizontale Anlage kausaler Wirkungszusammenhänge, die als immanente Konstitutionswirkungen zwischen situierten Körpern untersucht werden können.  

Auch bei Foucault geht es bekanntlich immer wieder um Machtwirkungen als Kraftwirkungen und um Kräfteverhältnisse als Machtverhältnisse. Foucaults Studien kreisen darum, Macht in ihren unterschiedlichen ontologischen und epistemologischen Erscheinungsformen zu erfassen und ihren zugleich aktivierenden und passivierenden Charakter in sozialen und politischen Kontexten zu beschreiben. Lorina Buhr rekonstruiert auch dieses Machtdenken aus seinem Ursprung in der aristotelischen dynamis und legt den Begriffskorpus von Foucaults Machtbegriff in seinen Bezügen frei. Foucault selbst hat den Hinweis gegeben, keine systematische Theorie der Macht vorlegen zu wollen und meinte damit wohl vor allem, dass Macht nicht wie eine objektiv bestimmbare Einheit der Wirklichkeit behandelt werden könne. Möglicherweise liegt es daran, dass die Frage nach der Herkunft des Machtbegriffs selbst in den ausgedehnten Debatten um Foucaults Machtdenken so in den Hintergrund gerückt ist. Eine Bestimmung von Macht als Bewegung ist aber wesentlich, um den Möglichkeitscharakter von Macht aufzuzeigen. Es geht darum, die Stellung der Individuen zwischen Aktivität und Passivität erkennbar zu machen, sie als Subjekte und als Objekte von Macht zu verstehen und damit die grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit zu erkennen. 

Es geht in dieser umfangreichen Arbeit bei weitem nicht nur um die Entwicklung metaphysischen und naturphilosophischen Bewegungsdenkens seit Aristoteles. Es zeigt sich auch, dass sich das frühneuzeitliche Denken natürlicher Bewegung mit der Konzentration auf mechanische Bewegungszusammenhänge zugleich auf die materiellen Grundlagen des Zusammenhangs von Individuen ausgerichtet hat. Dieser Einsatzpunkt in der materiellen Wirklichkeit kausaler Relationen von Körpern ist zentral für die produktive Aufnahme des Machtdenkens in der langen Tradition von Aristoteles über Spinoza und Hobbes bis zu Nietzsche, Deleuze und Foucault. Lorina Buhr macht also implizit auch deutlich, warum der Machtbegriff in den Analysen der Konstitutionsverhältnisse des politischen und des sozialen Raums so produktiv einzusetzen ist: Er erlaubt es, die körperlichen und damit auch affektiven Verbindungen menschlicher Individuen in ihren praktischen Zusammenhängen aufzuzeigen. Man könnte also durchaus behaupten, dass das mechanistische Kausalitätsdenken der Frühneuzeit zur Grundlage einer materialistischen Wende in der aktuellen Theoriebildung geworden ist. 

Lorina Buhr hat eine außerordentlich kenntnisreiche und engagierte Studie vorgelegt und zentrale Elemente einer philosophiegeschichtlich orientierten Erschließung des Machtdenkens aufgearbeitet. Vielleicht wäre die eine oder andere Ausführung in ihrer umfangreichen diagrammatischen Erhebung verzichtbar gewesen, aber wesentlich ist, dass dieses Buch aktuelle theoretische Einsatzpunkte mit einer historischen Ausrichtung verbindet und aktuelle Diskussionen politischer Theorie begriffsgeschichtlich erläutert. Deutlich wird dabei vor allem, dass das historische Emanzipationsprinzip der Immanenz, durch das die Philosophie der Frühneuzeit zu dem Punkt gelangt ist, den kausalen Bewegungszusammenhang der Welt aus sich selbst erklären zu können, heute als eine Ausrichtung auf die immanenten Wirkungszusammenhänge relational situierter Individuen wiedergekehrt ist. Unter der Bezeichnung der new materialisms hat eine paradigmatische Verschiebung stattgefunden, durch die die Stellung des menschlichen Individuums in einer horizontalen Wendung der Konstitutionsverhältnisse enthierarchisiert und auf die Konstitutionsbedingungen der dynamischen Existenz ausgerichtet wird. Durch diese Perspektive schließt die historische Untersuchung von Macht als Bewegung an die Frage nach den metaphysischen Grundlagen der Wissenschaften vom Menschen an. Das Buch von Lorina Buhr bildet damit einen wertvollen Beitrag für alle, die sich historisch informiert aktuellen sozialtheoretischen, kulturtheoretischen und wissenstheoretischen Fragen zuwenden wollen.  

Kerstin Andermann arbeitet als Lektorin im Arbeitsbereich Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Leipzig. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Metaphysik und Ethik. 

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