Lesenotiz zu Grit Straßenbergers „Hannah Arendt zur Einführung“

Noch eine Einführung?

Kaum einer politischen Theoretikerin wird so viel Aufmerksamkeit zuteil wie Hannah Arendt. Spätestens seit der Verfilmung von Arendts Verarbeitung des Eichmann-Prozesses durch Margarethe von Trotta aus dem Jahr 2013 ist sie auch außerhalb des akademischen Betriebs bekannt. Im Kontext dieses, ja fast schon Arendt-Hypes, hat Grit Straßenberger 2015 eine neue Einführung in Arendts Denken vorgelegt; noch dazu im Junius-Verlag, der mit Karl-Heinz Breiers älterem aber bisher stets wieder neu aufgelegten Band schon eine Einführung im Programm hatte. Angesichts der ohnehin schon inflationär anmutenden Arendt-Publikationen stellt sich die Frage: noch eine Einführung? Macht das Sinn? Um das Ergebnis dieser Lesenotiz vorwegzunehmen: Ja, das tut es! Die Gründe dafür liegen sowohl in der Rezeptionsgeschichte Arendts, die einer ständigen Revision unterliegt, als auch in der Qualität von Straßenbergers Buch.

Arendts Rezeption – Eine Geschichte für sich

Das Vorwort, das die Herausgeber_innen der Junius-Reihe „zur Einführung“ jedem Buch voranstellen, verweist auf die „erneute Inventur“ von Reihe und einzelnen Bänden, die veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, aber auch die sich ständig wandelnde Theorielandschaft immer wieder erfordert. Von Zeit zu Zeit eine Inventur durchzuführen – einen Schritt vom Geschehen zurückzutreten und dieses zu überblicken, „klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form“ (6) zu sehen – mag Grundanforderung an jegliche Theoriebildung sein, macht aber im Fall von Hannah Arendts politischem Denken besonders viel Sinn. Das hat mit ihrer Rezeptionsgeschichte zu tun. Denn nicht nur verdeckt Arendts aktuelle Popularität möglicherweise, dass sie lange Zeit eine hoch umstrittene Autorin und ihr Weg zur Klassikerin des politischen Denkens keinesfalls vorgezeichnet war; auch wird sie, wie Straßenberger zu Recht bemerkt, immer noch „für ganz unterschiedliche und miteinander um die richtige Deutung der sozialen Welt konkurrierende Theoriemodelle in Anspruch genommen“ (14).

Zwar sind die Zeiten lange vorbei, in denen Arendt als nostalgische Denkerin galt, die sich mehr für die antike Polis, denn zeitgenössische politische Theoriebildung zu interessieren schien. Spätestens im Zuge der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa Mitte der 1990er Jahre ist diese Ansicht von affirmativeren Lesarten abgelöst worden. Mehr noch: Arendt erfährt seitdem einen mittlerweile zwanzig Jahren anhaltenden, wenn auch leichten Konjunkturen unterliegenden Rezeptionsboom. Während sich die Autor_innen dieser „Arendt-Renaissance“ (Benhabib) jedoch von Anfang an darüber einig waren, dass Arendt eine moderne Denkerin ist, deren Konzept politischen Handelns auch aktuelle politische Theoriebildung inspirieren könnte, war (und ist) man sich uneinig, warum das so ist. Bis heute konkurrieren zwei Lesarten, die an entgegengesetzten Enden eines Spektrums liegen. Am einen Ende dieses Spektrum stehen Autor_innen, denen Arendt als Verfechterin einer agonalen Politikauffassung gilt. Am anderen Ende stehen Leser_innen, die die kommunikative Dimension ihres Handlungsbegriffs betont wissen möchten.

Die erste Lesart geht auf Theoretiker_innen, wie Dana Villa oder Bonnie Honig zurück und ist jüngst vor allem in der radikaldemokratischen Debatte um „das Politische und die Politik“ aufgegriffen worden. Allen Vertreter_innen dieser Rezeptionslinie ist gemein, dass sie das Partikulare in Arendts Denken betonen: Im Mittelpunkt stehen Begriffe wie Differenz und Konflikt sowie Arendts Ausführungen zu Natalität und ihr Insistieren auf der immer gegebenen Möglichkeit des Neu-Anfangen-Könnens.

Der andere Rezeptionsstrang des Arendt’schen Politikbegriffs, hebt das kommunikative Handlungsmodell und die Bedeutung der Verständigung in ihrem Denken hervor. Diese Rezeptionslinie geht in erster Linie auf Jürgen Habermas zurück. Ihre wohl bekannteste jüngere Vertreterin ist Seyla Benhabib. Diese Leser_innen betonen typischerweise weniger die Möglichkeit des Neuanfangs als vielmehr Arendts Machtbegriff, der Fähigkeit „sich mit anderen zusammenzuschließen und in Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Macht und Gewalt). Bis heute ist die Frage nach dem Verhältnis von partikularen, agonalen und universalistischen, deliberativen Lesarten nicht endgültig gelöst, weshalb sie von manchen Kommentatoren gar zum Selbstwiderspruch in Arendts Denken erklärt wird.

Diesen Widerspruch könnten neuere ordnungspolitische Interpretationen auflösen helfen. Denn aktuell zeichnet sich eine erneute Revision der Arendt-Interpretation ab, die auf dem vorhergehenden Spektrum von partikularen, agonalen und universalistischen, deliberativen Ansätzen gleichsam in der Mitte liegt. Diese, die man als institutionentheoretische Lesarten bezeichnen kann, verstehen besagten Widerspruch als Ausdruck von Arendts Ringen mit der Frage nach einer politischen Ordnung, die den pluralen Konflikt ermöglicht. Arendt wird so – Margaret Canovan hat es früh gewusst – zur Vordenkerin eines „neuen Republikanismus“: eines „Republikanismus des Dissens“. Dass und inwiefern sich Straßenberger, die vom „dissentivem Republikanismus“ (120) spricht, in dieser neuen Lesart verortet, möchte ich abschließend zeigen.

Straßenbergers Buch

Ein Grund für den Umstand, dass so viele teilweise miteinander konkurrierende Lesarten des Arendt’schen Werkes existieren, ist sicherlich der „unorthodoxe methodologische Zuschnitt ihrer politischen Theorie“ (13), den sie selbst als „Denken ohne Geländer“ bezeichnet hat: Arendts Stil ist fragmentarisch, vorläufig und eingreifend und schreckt nicht davor zurück, auch eigene Positionen zu revidieren. Das erschwert zugleich das Schreiben von Einleitungen, die per definitionem auf einigermaßen kompakte und kohärente Darstellungen abzielen. Straßenberger gelingt das Kunststück, Arendts „nicht systematisch ausgearbeitete politische Handlungstheorie zu systematisieren“ (54). Und zwar über das, was sie eine „performative Theorie des Politischen“ (13) nennt: Arendts Theoriebildung stellt sie als „politiktheoretisches Problemdenken“ vor, das „politische Theorie als Intervention in gesellschaftliche Deutungskämpfe“ (13) betreibt. Diese Lesart von Arendts Theorie als interventionistisch, ohne „in postmoderne Kampfterminologie“ abzurutschen, lässt sich m.E. nahtlos in die neueren institutionentheoretischen Lesarten einordnen.

Im ersten Kapitel vergegenwärtigt Straßenberger zunächst die Erfahrung des Totalitarismus als Ausgangspunkt von Arendts politischem Denken. Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Eichmann in Jerusalem liest sie komplementär zueinander und präsentiert somit einerseits Arendts Verstehenskonzept als methodologische Grundlage ihrer Theoriebildung. Andererseits entfaltet sie Arendts kritische Theorie der Moderne, bevor sie im zweiten Kapitel – „Was ist Politik?“ – in die Grundelemente von Arendts Handlungstheorie einführt. Schon während dieser ersten Einführung in Arendt’sche Grundbegriffe deutet sich die Verpflichtung auf die institutionentheoretische Lesart an: Handeln bedarf „eines öffentlichen und institutionell abgesicherten Raums“ (62). Macht ist eine Potenz über die nur eine Gruppe verfügt, „sofern sie als organisierte Gruppe handelt“ (67). Den Aporien des Handelns kann nur durch Verzeihen und Versprechen beigekommen werden, wobei „[d]ie Übersetzung der menschlichen Fähigkeit des Versprechens in den politischen Raum […] in seiner Institutionalisierung [besteht]“ (71).

Diese im zweiten Kapitel angedeutete stabilitätspolitische Pointe entfaltet Straßenberger im dritten Kapitel („Konturen der guten politischen Ordnung“) dann vollends. Hier stellt sie Arendts Konzept einer „republikanischen Demokratie“ (89) vor. Dieses halte nach Straßenberger Abstand zum Mainstream der Demokratietheorie – gemeint ist, dass Arendt ein radikaleres Politik- und Pluralitätsverständnis zu Grunde legt, als es in vielen Demokratietheorien heute üblich ist. Es bleibe aber „auf die Beantwortung der demokratietheoretischen Kernfrage gerichtet, nämlich wie politische Freiheit unter Bedingungen demokratischer Gleichheit institutionell auf Dauer gestellt werden kann“ (91). Demnach plädiere Arendt zwar für eine Ausweitung und Intensivierung politischer Partizipation, rede aber keineswegs einer Radikaldemokratie das Wort. Vielmehr verbinde sie den Ausbau subsidiärer Entscheidungsstrukturen mit der Etablierung einer öffentlichen Streitkultur, die sich jedoch nicht am hohen Kriterium der Vernunft orientiere, sondern vielmehr an der leidenschaftlichen Austragung differenter Standpunkte über kontroverse Fragen von öffentlichem Interesse. Damit – und vor allem mit der Sorge um eine republikanische Ordnung, die eine solche „öffentlich sichtbare Austragung politischer Konflikte“ (92) ermöglicht – liegt sie, wie die meisten der institutionentheoretischen Lesarten, auf dem oben skizzierten Spektrum zwischen partikularen, agonalen und universalistischen, diskurstheoretischen Lesarten gleichsam in der Mitte.

Im vierten Kapitel stellt Straßenberger noch Arendts Methode des Unterscheidens als (riskante) Praxis politischer Urteilskraft vor und anhand von ausgewählten Beispielen auf die Probe – bevor sie im fünften Kapitel noch einmal selbst und von einer Meta-Ebene aus auf die kontroverse Rezeption blickt. In der Tatsache, dass Arendt von ganz unterschiedlichen Lesarten und für ganz unterschiedliche Theoriemodelle vereinnahmt wird, sieht sie nicht unbedingt ein Problem: „Danach ist der von Arendt eröffnete von ihr selbst geführte Deutungskampf um das Politische abgelöst worden von einem Deutungskampf um Arendt“ (156). Da es aber immer noch die von Arendt aufgeworfenen politiktheoretischen Grundfragen seien, die in dieser kontroversen Rezeption verhandelt werden, sei das zu begrüßen. In dieser abschließenden Einschätzung Straßenbergers, klingt an, was ich als die große Stärke des Buches bezeichnen möchte: Straßenberger schafft es gleichzeitig eine überblicksartige Gesamtdarstellung eines uneinheitlichen Werkes zu geben und sich innerhalb des Wirrwarrs konkurrierender Lesarten selbst zu positionieren. Letzteres gelingt ihr ohne großen Hammer, manchmal fast beiläufig und deshalb umso überzeugender.

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