Die Digitalisierung verändert unser Leben immer schneller und immer stärker. Der Politikwissenschaftler und Philosoph Philip N. Pettit rät im folgenden Interview dennoch zur Vorsicht bei der Aushandlung von Normen für das digitale Zeitalter. Er warnt vor unerwünschten Nebeneffekten gutgemeinter Regulierung, etwa im Bereich der Redefreiheit im Netz. Als Lösung für das Überwachungsproblem unserer digitalen Demokratien verweist er auf eine bewährte Tradition.
Professor Pettit, brauchen wir angesichts der gesellschaftlichen Trends und Veränderungen durch die digitale Revolution neue Normen für unser vernetztes Leben?
Pettit: Ich denke, wir sind noch nicht im digitalen Zeitalter, sondern eher in einer Übergangszeit. Wir haben die Institutionen und Normen, die eine bestmögliche Nutzung der digitalen Welt ermöglichen, noch nicht entwickelt. Ich sehe drei mögliche Entwicklungen für unsere Kommunikation im Netz: eine Variante wäre eine Art Chaos, in dem niemand die Identität oder Referenzen der Personen kennt, die etwas veröffentlichen. Es wäre sehr schwierig herauszufinden, ob eine Information vertrauenswürdig ist. So ein Mangel an Ordnung und Normen wäre alles andere als wünschenswert.
Eine andere Möglichkeit – etwas geordneter als die chaotische – wäre etwas, das ich als Nischenszenario bezeichnen würde. Die Menschen würden eine informationelle Komfortzone finden, ihre eigene Nische, in der sie leben können, und alles ausblenden, was sie stören oder verunsichern könnte. Das wäre besonders besorgniserregend. Wir wissen aus psychologischen Studien, dass unsere Psyche sehr stark durch einen so genannten „confirmation bias“ geprägt ist. Das führt dazu, dass wir Informationen, die unsere bestehenden Ansichten bestätigen, gegenüber allen anderen Informationen vorziehen.
Warum ist dieses zweite Szenario bedenklich? Ist ein wohlinformiertes Leben besser als ein glückliches Leben?
Robert Nozick hat vor etwa 40 Jahren ein philosophisches Gedankenexperiment vorgestellt: die „Erlebnismaschine“ („experience machine“). In dem Experiment haben die Menschen zwei Wahlmöglichkeiten: Eine Option wäre ein Leben in der Realität, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Die andere Option wäre es, sich an eine Maschine anzuschließen – in etwa wie bei Virtual Reality – die dann eine Welt simulieren würde, in der alles super läuft. Diese zweite Option ist meiner Ansicht nach ein Leben innerhalb einer Illusion. Sich für diese Illusion zu entscheiden wäre ein totaler Verrat an allem, wozu unsere Spezies fähig ist. Entsprechend denke ich, dass ein Leben in seiner eigenen Online-Nische, mit einer eingebauten Komfortzone, die man niemals verlässt, egal wo man sich im Internet aufhält, eine Menge Freude bereiten kann, und vielleicht sogar ein Identitätsgefühl. Aber es bliebe eine völlige Täuschung, weil die reale Welt niemals so sein würde wie ihr Abbild in so einer Nische.
In so einem Szenario, würde eine „in-group / out-group“-Mentalität gefördert werden. Eine der schlimmsten Eigenarten, die wir genetisch von unseren Vorfahren geerbt haben, ist die Neigung, schlecht über Andere („out-groups“) zu denken, und uns mit Gruppenzugehörigen („in-groups“) zu identifizieren. Das ist beim Sport natürlich kein Problem, aber in einem politischen Kontext können solche Emotionen brandgefährlich sein, weil sie zu Exklusion und Konflikten führen. Wir haben solche Dynamiken im vergangenen Jahr beobachten können, als die Briten für den „Brexit“ gestimmt haben. Das Nischenszenario würde alles andere bedeuten, als eine vernetzte Welt.
Das sind schon zwei Dystopien. Was ist Ihr drittes Szenario?
Die dritte Möglichkeit wäre, dass sich in den sozialen Medien und im Web allgemein eine Art Struktur herauskristallisiert, mit deren Hilfe uns Referenzen bereitgestellt werden, etwa in der Art, wie wir es von verlässlichen Zeitungen kennen, die eine gewisse Reputation haben. Natürlich hat auch jede Zeitung oder jedes andere Medium einen gewissen redaktionellen Blickwinkel, aber dem kann man begegnen, indem man etwa auch abweichende Ansichten mit einbezieht. Ein anderes Beispiel wäre so etwas wie der Qualitätsfilter, mit dessen Hilfe wissenschaftliche Journals entscheiden, welche Artikel sie veröffentlichen.
Es wäre wünschenswert, einen solchen Standard für die digitale Welt zu erreichen, ein „Referenzen-Szenario“ sozusagen. Dann könnten die Menschen aktiv verlässliche Informationsquellen suchen und finden, die sie außerdem auch mit weniger angenehmen Informationen konfrontieren. Daten sind im Übermaß vorhanden; die Schwierigkeit besteht darin, vertrauenswürdige Daten und Informationen zu identifizieren und zu entscheiden, was relevant ist und was nicht. In diesem Sinne wäre so ein Referenzen-Modell sehr hilfreich. Allerdings können wir nicht wissen, ob ein solches Szenario tatsächlich auf uns zukommt.
Eingangs haben Sie gesagt, dass wir die Normen für das digitale Zeitalter noch nicht herausgebildet haben. Brauchen wir neue Normen, und wenn ja, welche?
Es gibt zwei Wege, neue Normen zu etablieren: bottom-up und top-down. Normen können sich auf die erste Art und Weise entwickeln, wenn Menschen sich aufeinander verlassen müssen. Das kann zum Beispiel durch eine Reputationsdynamik in einer Gemeinschaft vorangetrieben werden, in der jede und jeder als eine verlässliche Person angesehen werden möchte, weil das im jeweils eigenen Interesse ist. Das könnte etwa der Fall sein, wenn jemand ein Blog schreibt. Die Bloggerin oder der Blogger würde sich sehr für die Qualität der Argumente auf dem eigenen Blog interessieren.
Der andere Weg, top-down, wäre die Einführung einer Norm durch die Regierung. Gesetze stehen normalerweise nicht im Widerspruch zu den Neigungen der Menschen, aber sie können diesen voraus sein. Ein aktuelles Problem ist die erschütternde Menge an Hate-Speech, die das Internet heimsucht. Gesetze gegen Hate-Speech können tatsächlich ein Mittel sein, dieses Phänomen Schritt für Schritt einzudämmen, indem dadurch eine Gepflogenheit etabliert wird, von der Verbreitung von Hate-Speech abzusehen, weil diese nicht akzeptiert wird.
Wie würde das funktionieren? Die Leute hören ja nicht einfach auf, nur weil ein Gesetz Hate-Speech im Web verbietet.
Nehmen wir als Beispiel das Verbot, an öffentlichen Orten zu rauchen. Es gibt nicht immer und überall Polizisten, um dieses Gesetz durchzusetzen. Aber weil alle das Gesetz kennen, wäre es gesellschaftlich gar nicht geduldet, zu rauchen. Jeder, der in der Öffentlichkeit rauchen würde, müsste befürchten, dass die Leute schlecht von ihr oder ihm denken. So eine soziale Dynamik würde ich mir in Bezug auf Hate-Speech wünschen.
Vielleicht erleben wir in der digitalen Welt ein spontanes bottom-up-Aufkommen solcher Normen. Aber wenn nicht – falls wir Gesetze brauchen – dann sollten diese Gesetze sehr gut durchdacht sein. Denn es besteht das Risiko, negative Auswirkungen zu verursachen, wie etwa eine abschreckende Wirkung („chilling effects“) im Bereich der freien Rede, wenn es darum geht, Politikerinnen und Politiker zu kritisieren. Gesetze, laut denen man ins Gefängnis kommt, wenn man ein Staatsoberhaupt kritisiert, hätten fürchterliche Folgen für das politische, soziale und öffentliche Leben. Was mit den Kritikern des türkischen Präsidenten Erdogan passiert ist, sollte uns in dieser Beziehung eine Warnung sein. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir nach neuen Normen für das Internet rufen.
Apropos „chilling-effects“: Es gibt soziologische Belege dafür, dass staatliche Überwachung tatsächlich dazu führt, dass Menschen sich in sozialen Medien selbst zensieren. Was können wir als Gesellschaft tun, um diesem Problem zu begegnen?
Ich bin absolut der Meinung, dass das eine besorgniserregende und wichtige Angelegenheit ist. Man kann immer noch Menschen sagen hören, dass staatliche Überwachung kein Grund zur Sorge wäre, so lange man sich an das Gesetz hält. Diese Sichtweise lehne ich ab, weil sie davon ausgeht, dass jene, die Zugang zu Überwachungsdaten haben, immer wohlmeinend sind, und die Daten niemals gegen die Menschen einsetzen werden. Das könnte jedoch sehr wohl passieren, was bedeutet, dass wir im Grunde genommen in der Macht dieser Leute stehen. Sie sollten Transparenz, Informationen und Kontrolle darüber haben, was die Regierung tut.
Ich begreife Freiheit als die Gewährleistung eines sicheren Umfelds für jeden von uns, in dem niemand uns ungestraft herumschubsen kann. Das ist nur unter schützenden Gesetzen möglich, und nur wenn diese Gesetze auf der Grundlage dessen erlassen werden, was die Menschen wollen. Sie sollten Transparenz, Informationen und Kontrolle darüber haben, was die Regierung tut.
Sollte das auch dann der Fall sein, wenn die Regierung nicht transparent sein möchte? Was denken Sie über Whistleblower?
In meinen Augen ist Edward Snowden einer der großen Helden unserer Zeit, weil er die Praktiken der NSA aufgedeckt hat. Ich halte es für ein Armutszeugnis, dass unsere Gesetze und Institutionen keinen Weg vorsehen, um das anzuerkennen. Es ist problematisch, dass er noch immer als einer Straftat schuldig betrachtet wird. Es sollte eine Begnadigung für solche Fälle geben. Das wäre einer der Ansatzpunkte, denen wir in unseren Gesellschaften nachgehen sollten. Wenn wir das nicht umsetzen können, ist das ein schlechtes Signal hinsichtlich der Abschreckungseffekte, die staatliche Überwachung auslöst.
Heißt das, wir brauchen neue Regeln für Überwachung und die Anfechtung von staatlichem Handeln?
Es gibt in den USA eine Tradition, laut der Kongressabgeordnete Zugang zu Informationen darüber beantragen können, was die Geheimdienste tun. Ich halte das für eine gute Tradition, selbst wenn sie für sich allein genommen zu eng gefasst ist, um das Problem der „chilling effects“ zu beheben. Personen, die in der Lage sind, formell in das Geschehen einzugreifen, sollten Zugang gestattet bekommen. Das könnte sogar auf bestimmte öffentliche oder zivilgesellschaftliche Institutionen ausgedehnt werden, wie zum Beispiel NGO’s oder Anwälte. Diese könnten für eine bestimmte Zeit ernannt werden und einen Anspruch darauf haben, regelmäßig darüber informiert zu werden, was passiert und zudem in der Lage sein, Ermittlungen einzuleiten, wenn es dafür einen Grund gibt. Ein anderer hilfreicher Schritt wäre eine Stärkung der Gewaltenteilung.
Diese Maßnahmen sind nichts Unbekanntes, aber sie könnten sehr wohl funktionieren, wenn sie nur korrekt angewendet würden. Es ist entscheidend, Institutionen zu haben, deren Mitglieder sich denen, die an der Macht sind, nicht fügen müssen, und die eine Art Gegen-Macht darstellen können. Ich empfehle daher, die bestehenden Befugnisse zur Anfechtung innerhalb der Regierungen unserer Gesellschaften zu stärken.
Philip N. Pettit ist L. S. Rockefeller University Professor of Human Values an der Princeton Universität und Distinguished University Professor of Philosophy an der Australian National University in Canberra. Er ist der Autor von „The Economy of Esteem“ (2004, mit G.Brennan); „Group Agency“ (2011, mit C. List); „On the People’s Terms“ (2012); und „Just Freedom“ (2014), welches unter dem Titel „Gerechte Freiheit“ im Suhrkamp-Verlag auf Deutsch erschienen ist.
Das Interview führte Eike Gräf. Kontakt: eike.graef@fu-berlin.de
Es gibt einfach alle drei Szenarien, das Chaos (notwendig wegen Anonymität) mit jeder Menge belangloser und bedenklicher Inhalte, und die reinen Nischengänger.
Beide tragen bei zur dritten Variante, in der sich idealerweise Qualiät durchsetzt, nicht zuletzt durch die Notwendigkeit, das Filtern zu lernen.
In-group – out-group – Verhalten wird im Netz nur gespiegelt, es entsteht nicht durch dessen Existenz.
Das, was wir auch heute wieder erleben, hat es wohl schon zigtausendfach gegeben, immer als Vorbereitung für den nächsten kriegerischen Zusammenbruch.
Im Sport gibt es dieses Verhalten jedoch nicht im größeren Umfang, im Gegenteil. Der Sport ist die Zivilisierung des Wettbewerbs, bei dem auch der Gegner respektiert wird.
Pettits Warnung vor zuviel Regulierung ist zuzustimmen. Gerade heute, in Zeiten „absoluter“ Wahrheiten auf allen Seiten, besteht eine große Gefahr des Mißbrauchs. Besser soviel wie möglich zulassen und auf die unweigerliche Abstumpfung von Propaganda vertrauen.