ZPTh-Replik auf Nina Eggers: Konfliktiver Liberalismus als gegenhegemoniales Projekt

Zunächst sind wir Nina Eggers zu großem Dank verpflichtet. Selten enthielt eine Kritik so viel Zustimmung. Indem wir Mouffe als eine Liberale lesen, öffnen wir eine neue Perspektive auf ihr Werk. Dabei folgt Nina Eggers fast durchgehend unseren Thesen und unterstreicht selbst noch einmal Mouffes „Verteidigung der Errungenschaften liberaler Demokratien“ und ihren „liberalen Pluralismus“. Umso verwunderlicher ist dann ihre kritische Pointierung, wir würden Mouffe als eine „verkappte Liberale“ „entlarven“ wollen. Mouffe ist in unserer Lesart keine „verkappte“ Liberale, sondern eine Liberale, die – ihrem eigenen hegemonietheoretischen Ansatz folgend – für ein anderes, alternatives Verständnis des Liberalismus eintritt. Zu „entlarven“ gibt es hier folglich nichts. Vielmehr geht es ihr und ging es auch uns darum, Traditionslinien dieses anderen Liberalismus aufzuzeigen.

Ein anderer Liberalismus?

Mouffe arbeitet mit und in einer spezifischen liberalen Tradition. Deren Kern ist die Idee eines in Konflikten ausgetragenen Pluralismus. Dieser andere, konfliktaffine Liberalismus unterstreicht die Bedeutung von Assoziationen und die handlungsmotivierende Rolle von Emotionen. Ideengeschichtlich lässt er sich auf den liberalen Demokratietheoretiker Alexis de Tocqueville zurückführen und findet u.a. eine Fortsetzung in den politischen Schriften von Isaiah Berlin und Michael Walzers. Freilich ließe sich bezweifeln, dass es sich hierbei überhaupt um Liberale handelt, allerdings hat sich Isaiah Berlin selbst eindeutig in der liberalen Tradition verortet und wird wie Tocqueville – soweit wir sehen – auch als Liberaler bezeichnet. Bei Michael Walzer stellt sich dies etwas anders dar. Dieser wird zwar als Kommunitarist, Neoaristoteliker und/oder Republikaner bezeichnet, lehnt selbst aber diese Fremdbezeichnungen ab. Stattdessen bezeichnet er seine Konzeption eines pluralistischen Zivilrepublikanismus als liberale Korrektur eindimensionaler Auffassungen des guten Lebens. Wir folgen also Walzers Selbsteinschätzung und interpretieren ihn gemeinsam mit Tocqueville und Berlin als „Kronzeugen“ eines anderen Liberalismus. Dieser wird von Mouffe und von uns gegen einen allzu geschlossenen, mithin hegemonialen Begriff des Liberalismus in Stellung gebracht.

 

Konfliktiver Liberalismus als gegenhegemoniales Projekt

Wir stellen also die Frage: Was ist eigentlich dieser „klassische Liberalismus“? Nina Eggers scheint – ohne dies freilich explizit zu machen – hierunter jenen universalistischen Strang zu verstehen, den Mouffe, wie wir zeigen, durchgehend kritisiert. Mouffe selbst zieht diese Linie von jenen Aufklärungsphilosophen, die an einen rationalen Konsens glauben, bis zu zwei Schulen deliberativer Demokratie, nämlich Rawls und Habermas. Statt aber der Vereindeutigung dieses universalistischen Strangs zum ‚klassischen‘ Liberalismus aufzusitzen, birgt und belebt Mouffe eine andere liberale Tradition. Ihr konfliktiver Liberalismus ist also weder verkappt noch muss sie „entlarvt“ werden: Sie aktualisiert ausdrücklich einen Liberalismus, der eine Alternative zum hegemonialen liberalen Universalismus bietet. Das ist der Kern unseres Arguments: Mouffe kann sich selbst erst als Liberale bezeichnen, wenn sie dem derzeit hegemonialen Verständnis des Liberalismus eine andere Lesart entgegenstellt.

Diese Bergungsarbeit von Mouffe steht im Einklang mit ihrer Hegemonietheorie. Wie wir schon in unserem Artikel schreiben (S. 220f.), bildet die Hegemonietheorie eine doppelte Grundlage: Sie ist ein epistemologisches Modell, um Kontingenz und Stabilität gleichermaßen einzufangen. Hierauf aufbauend kann Mouffe ihr politisches Projekt entwerfen, dessen Anspruch auf Deutungshoheit zwar einerseits kontingent ist, gerade daher aber andererseits rhetorisch und normativ überzeugen muss. Mouffes Reformulierung des Liberalismus und auch unsere ideengeschichtliche Rekonstruktion dieser Neuerzählung können in diesem Sinne als ein gegenhegemoniales Projekt gesehen werden: Der Liberalismus soll von der Verengung auf seine universalistische Spielart befreit und andere Traditionslinien aufgezeigt werden. Diese Bergungsarbeit wiederum ist die Voraussetzung, um diesen Liberalismus auf seine Tragfähigkeit, Produktivität oder Wünschbarkeit zu befragen. Mouffe jedenfalls zeichnet den konfliktiven Liberalismus dann auch normativ aus.

 

Agonales, Liberales, Republikanisches

Warum am Ende dieser Aufwand? Mit der Bergung vergessener Theoriebestände weiten sich unsere Denk- und Handlungsräume, um auf gegenwärtige akademische oder politische Herausforderungen zu reagieren. Alternativen werden sichtbar, neue Koalitionen möglich. Dies dürfte in dreifacher Hinsicht von besonderem Wert sein.

Zunächst scheint gerade Mouffes Projekt darauf angewiesen, in andere Theoriesprachen übersetzt zu werden. Ihr agonaler Ansatz hat dazu geführt, dass sie selten Koalitionsoptionen erkennt und benennt, während sie zugleich aus ihrer Hegemonietheorie hätte wissen können, dass sie auf diese Koalitionen angewiesen ist, wenn sie ihr Projekt erfolgreich gestalten will. In diesem (ideen-)politischen Sinne ist es aus der Perspektive von Mouffes Theorie also durchaus ergiebig, Mouffe nicht nur als Theoretikerin des Agonalen zu verstehen, sondern in die Tradition eines anderen, eben konfliktiven Liberalismus zu stellen.

Auch akademisch ist zweitens wenig gewonnen, die ‚Agonalitätsterminologie‘ zu reproduzieren. Denn entweder bezeichnet ‚agonal‘ nur Mouffes Theorie, sodass eine Interpretation Mouffes als agonale Denkerin wenige neue Erkenntnisse bringen würde, oder man versammelt unter dem Rubrum ‚agonale Theorie‘ mehrere Denker*innen und dann müsste man intern wohl doch differenzierende Merkmale einführen. Für dieses noch ausstehende Projekt könnten die verschiedenen, voneinander lernenden Spielarten des Republikanismus und Liberalismus durchaus ein interessantes Raster abgeben. Der erste Schritt hierfür wäre freilich, überhaupt verschiedene Spielarten differenzieren zu können.

Dies ist der dritte und wohl wichtigste Wert unserer im doppelten Sinne gegenhegemonialen Rekonstruktion. Er liegt darin, die verkrustete Vorstellung vom Liberalismus als Neoliberalismus oder als rationaler Universalismus aufzubrechen und vergessene Schätze des politischen Denkens zu bergen, wie Hannah Arendt es sagen würde. Einmal wieder geborgen, können diese vergessenen Spielarten des Liberalismus auf gegenwärtige (ideen-)politische Herausforderungen angesetzt werden. Im Wechselspiel mit einem dissentiven Republikanismus bilden sie dann womöglich analytisch, zeitdiagnostisch und normativ wertvolle Ansätze für ein politikwissenschaftliches Problemdenken.

 

Vincent Rzepka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht u.a. zum Regierungsdenken der Nachkriegszeit. 2013 erschien seine Studie zu Idee und Rhetorik der Transparenz.
Grit Straßenberger ist Privatdozentin am Lehrstuhl Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Frühjahr erschien von ihr eine neue Einführung zu Hannah Arendt im Junius Verlag.