Presseschau 2/2013

Einmal mehr haben wir uns der gefragten Rubrik einer Presseschau angenommen (alte Ausgaben hier) und benennen nach einem großen Blick in die nationalen und internationalen Journals kleine Schwerpunkte. Wie gehabt gilt daher: Anstelle eines allgemeinen Überblicks wollen wir ausgesucht vorstellen, kommentieren und zur Diskussion stellen, was uns besonders auffällig, besonders relevant oder auch: geradewegs vernachlässigt erscheint. Konkret bedeutet das diesmal: Diskussionen um die in den letzten Jahren so international lebhafte wie bemerkenswert vielfältige Re-Thematisierung des sogenannten Ausnahmenzustands, ferner dann zum in unserem Feld bisher erstaunlich vernachlässigten Fall des „NSU“ sowie schließlich ein Blick auf die seit Jahren immer mal wieder auflodernde Debatte um G.A. Cohens Moralphilosophie. Viel Spaß beim Lesen, Mit-, Nach-, Gegen- und Vordenken!

 

Ausnahmezustand, ideenhistorisch konkret

Das Journal of Modern History ist wohl eine jener historischen Zeitschriften, die für Politiktheoretiker und Ideengeschichtlicher besonders lesenswert sind. Aber unter welchen Vorzeichen eigentlich – wie wird Ideengeschichte hier praktiziert? Die Herbstausgabe der Zeitschrift kann man hier als exemplarisch betrachten. Ihr Themenschwerpunkt ist die nicht nur temporale, sondern auch räumliche Figur des Ausnahmezustands. Den Fokus bilden in vier Aufsätzen theoretische Entwürfe, die in unterschiedlichem Ausmaß politischen Einfluss entfalteten – ein großer Schritt weg von verstaubter Diplomatie- und Ereignisgeschichte also hin zur virulenten Schnittstelle zwischen politischer Theoriebildung und politischen Entscheidung.
Stephen Sawyer untersucht Konzeptionen der verfassungsmäßigen Ausnahme in den Positionen Édouard Laboulayes – liberaler Theoretiker und Politikpraktiker der Generation nach Tocqueville, ja: eine Art Gegentocqueville. Nutzt dieser das amerikanische Beispiel, um checks und balances und Gewaltenteilung zu loben und vor einer starken Exekutive zu warnen, zieht jener aus demselben Exempel – speziell der Figur Lincolns – einen ganz anderen Schluss: So mächtig müsse die Exekutive sein, dass sie im Fall des erklärten „état de siège“ die Nation zu schützen vermag in der Zweiten wie in der Dritten französischen Republik. Genealogischer geht Matthew Fitzpatrick vor. Im Aufsatz A State of Exception? untersucht er für das Deutsche Kaiserreich nach 1871 unterschiedliche Beschlüsse zur Ausweisung von Minderheiten – und sucht damit den Ort der Macht im Reich. Sein Ergebnis: Die Exklusion von Jesuiten, Sozialdemokraten, Polen und Franzosen vollzieht sich in ordentlichen Reichstagsbeschlüssen und als Ergebnis von Interessenwettbewerb – der Ausnahmezustand als stets verfassungsgemäßes Element des ordentlichen Rechtsstaates, so seine Deutung.
Man fragt sich: was tun mit dieser Breite der Begriffsverwendungen? Ja, das französische Lob der Exekutivmacht und die kaiserdeutschen Ausnahmegesetze sind zumindest in der Selbstbeschreibung eben Ausnahmephänomene – sie sind aber, das wird wiederholt klar, durchaus auf Iteration angelegt, auf regelmäßige Wiederholung innerhalb der Verfassungsrahmens. Die politische Theorie mag sich also wundern, was diese Sammlung zur (regelmäßig evozierten) Debatte um den Ausnahmezustand á la Schmitt beiträgt, dessen Konzept von den hier beschriebenen Praktiken ebenso abweicht wie die konventionellen Ideen des Staatsnotstands, des Kriegsrechts etc. Fitzpatrick schreibt gar explizit, die „Ausnahme“ im Kaiserreich habe nichts zu tun gehabt mit „metajuridical” or „extraconstitutional” in the strong Schmittian sense. Rather, a weaker sense of the term Ausnahmezustand was operative.” Aber was bedeutet „weak” hier – gibt es eine Verbindung zu „stärkeren” Konzeptionen des Extraordinären, nämlich des außerhalb der Verfassung liegenden? Geht es nicht allein um die kommissarische Diktatur à la Lincoln, sondern auch um die souveräne Aussetzung der Ordnung mit ungewissem Ausgang? Eher nicht. Fitzpatricks Analyse bietet, wie jene Sawyers, letztlich mehr Aufschluss über den Charakter spezifischer politischer Systeme als generalisierbare Überlegungen zu Mechanismen all dessen, was sich tatsächlich außerhalb des verfassungsmäßig Vorgesehenen bewegt.

Von einer anderen Seite zäumen Olindo de Napoli und Dirk Moses das Phänomen der Extralegalität auf: Sie ergänzen die Perspektive eines temporären Ausnahmezustandes um jene eines spatialen Ausnahmeraumes – man ahnt es schon: des kolonialen. Und zwar einmal im Denken Hannah Arendts, die von Moses kurzerhand (aber wohlbelegt) zur Dulderin imperialen Genozids à la Romaine erklärt wird und zur Meisterin im orientalistischen „othering“ obendrein; zum anderen in einer Untersuchung von de Napoli zur italienischen imperialen Rechtstheorie und Kolonialismuslegitimation vom 19. Jahrhundert bis in den Faschismus, und im Spannungsfeld zwischen Zivilisierungsmission und rassistischer Totalexklusion. Mag gerade Moses’ Rundumschlag in seinen radikalen Implikationen für Arendts Gesamtwerk zweifelhaft wirken, so ist es zumindest interessant, die beiden Texte – von denen freilich keiner den „state of exception“ erwähnt – mit Fitzpatrick und Sawyer zu vergleichen; im Ergebnis scheint der Kolonialraum der deutlich aufschlussreichere zu sein, wenn es um die gewollte, dauerhafte Ausnahme von Gesetz und Verfassung geht. Sie gehen über Wortgeschichte hinaus und widmen sich einer Ideengeschichte, die Konzeptionen des Außerordentlichen vergleicht, und nicht allein dessen Benennung.

 

„NSU“

Ein so einschneidender Übergang von theoretisierter Ausnahme zu konkretem Staatsversagen wie der folgende kann nicht moderiert werden, versuchen wir es also nicht. Einem gleichsam unangenehmen wie eindringlichen und seitens der Politischen Theorie, Philosophie und Ideengeschichte derzeit noch erstaunlich vernachlässigten Thema (eine Ausnahme hier) widmen sich jedenfalls die bürgerrechtsbewegten Vorgänge. Unter dem missverständlichen Titel „Verfassungsschutz in der Krise?“ sind sie neuerdings, experimentell wenigstens, beitragsweise frei online erhältlich. „Wessen Krise?“ aber, möchte man nach der Lektüre fragen: Weder sind derzeit aussichtsreiche Anzeichen erkennbar, angesichts von „NSU“, NSA und überhaupt auch all der seit 9/11 hanebüchenen Geheimdienstversäumnisse die sogenannten Verfassungsschutzbehörden in eine ernsthafte „Krise“ zu treiben, in eine Situation also zu zwingen, in der radikale Reform oder völlige Abschaffung die einzigen Optionen bleiben (siehe dazu auch den älteren theorieblog-Beitrag von Daniel Jacob). Auch ist nicht einleuchtend, wem oder was „Dienste“ dienen, die sich terroristische Verfassungsfeinde vertraglich festgezurrt als „V-Leute“ züchten und im Nachhinein verleugnen, deren Morden und Beihelfen gesponsert zu haben. Im Gegenteil also: Die entsprechenden Behörden wachsen an ihrer „Krise“, inszenieren sich sogar außerordentlich erfolgreich als die sprichwörtlich zur Austrocknung des eigenen Sumpfes als Experten angefragten Enten und Frösche. In dieses aufgeregt besorgte, institutionell und personell gleichwohl letztlich folgenlose Klima hinein schreiben die Vorgänge und sind leider kaum um die ihrerseits vielbemühte und überreizte „Versachlichung“ bemüht. „Geheimdienstmitarbeiter“, wird dort wie üblich diagnostiziert, „sehen in kontroverser Meinungsbildung und -äußerung vor allem ein strukturelles Gefahrenpotenzial und eine ‚Demokratiegefährdung’“. Auch die einzelnen Parteipositionen unterschieden sich zwar, doch die bundesföderale Gemengelage lasse keinerlei strukturelle Veränderung prinzipieller Art zu. Überdies findet sich im Heft auch keine Anregung, durch eine (womöglich kostenintensivere) Professionalisierung der Dienste deren Qualität zu verbessern – ein unbeliebter und zweischneidiger Vorschlag freilich, gleichwohl eine anderswo üblich dialektische Reaktion auf nachweisliche Inkompetenz, Kollaboration oder Schlimmeres. Stattdessen begnügt man sich neben allerlei Klischees und allgemeinen Denunziationen mit dem Wiederabdruck eines Textes von 1982 (!), in dem – was damals so richtig gewesen sein mag wie heute – die stets innenministerial dirigierten „Verfassungsschutzberichte“ jene tatsächlichen oder vermeintlichen „Verfassungsfeinde“ benennen, die partei- und regierungspolitisch gerade opportun sind. Verfassungsschutz, so soll man wohl erneut lernen und glauben, ist keine Frage des Grundgesetzes oder gar Aufgabe der Geheimdienste selbst, sondern eine noch stets missbräuchlich beantwortete Ermessensfrage achso konservativer Parteibuchinhaber. Was aber, werte Vorgänge, hat das mit den nach 1989 in einem anomischen Rumpfstaat radikalisierten Ostdeutschen des „NSU“ zu tun, was mit dessen Unterstützern, was mit dem moralischen Versagen der politischen Polizeien in den alten und neuen Bundesländern der Nachwendezeit? Was lehrt uns denn die neuerliche Dokumentation parteipolitischer Instrumentalisierung regierungsamtlich konstruierter Verfassungsfeinde der Kohl-Ära? So groß das noch so aufrichtige Entsetzen über einen rechtsextrem motivierten und „tiefstaatlich“ (und hier) wenigstens geduldeten Terrorismus also auch sein mag: der Rückgriff auf die alten Ressentiments der Bonner Idylle taugt hier nicht. Warten wir also auf bessere Hefte. Denn wenn unklar wird, auf welcher Seite des Verhörtischs der sogenannte Verfassungsfeind sitzt, helfen Antworten nicht, die im Gestus romantischer Rechthaberei die Probleme von gestern lösen.

 

Facts & Principles

In der gegenwärtigen Res Publica ist wieder einmal eine Debatte entbrannt über einen Artikel, dessen Erscheinen mittlerweile bereits zehn Jahre zurückliegt: Edward Hall und Robert Jubb auf der einen, Robert Talisse und Andrew Forcehimes auf der anderen Seite, arbeiten sich an den Details von G.A Cohen’s „Facts and Principles“  (später ausführlicher in seinem Buch „Rescuing Justice and Equality“) ab – wessen Argument ist nun selbstwidersprüchlich, wer versteht Cohen richtig, gegen wen richtet sich dessen Attacke? Wie kommt es, dass Cohens Argument in allen Feinheiten nach wie vor die analytischen englischsprachigen Journals füllt? Seine Behauptung ist im Kern recht simpel: wann immer eine Tatsache T ein normatives Prinzip P „begründet“ oder „stützt“, so tut sie das nur auf Grund eines weiteren (tieferliegenden) Prinzips P1, das erklärt, wie und warum P durch die T begründet wird, selbst aber unabhängig von T gültig ist. Am Ende der so entstehenden Sequenz aus Tatsachen und Prinzipien, so Cohen, steht notwendigerweise ein fundamentales, „tatsachenunabhängiges“ Prinzip, das gewissermaßen der Anker aller unserer weitere moralischen Überzeugungen ist.

Wie gelegentlich schon bemerkt (etwa hier und hier), ist Cohens Argument im Grunde ebenso korrekt wie trivial. Was er aufzeigt, betrifft die logische Struktur moralischer Überzeugungen: Wann immer wir unsere moralischen Überzeugungen in Form von Prinzipien formulieren, müssen einige dieser Prinzipien unabhängig von Tatsachen über die Welt sein. Rawlsianer (die Cohens Angriff, nicht zu Unrecht, auf sich gemünzt sehen) können problemlos einräumen, dass eine Analyse moralische Überzeugungen im Stile Cohens tatsächlich bei faktenunabhängigen Prinzipien endet. Dass heißt aber nicht, dass praktische Gerechtigkeitsprinzipien am besten im Rawlsianischen Sinne „konstruiert“ werden können oder (angesichts des weltanschaulichen Pluralismus in westlichen Gesellschaften) müssen. Die anhaltende Prominenz von „Facts and Principles“ hat wohl eher mit einer gleichzeitig aufkommenden methodischen Diskussion über die Rolle empirischer Tatsachen bei der Rechtfertigung spezifisch politischer (und das heißt in diesem Diskurs vorwiegend: Gerechtigkeits-)Normen zu tun. Dabei geht es weniger um meta-ethische Fragen, sondern vielmehr um das grundlegende Selbstverständnis der normativen Politischen Theorie zwischen empirischer Sozialwissenschaft und praktischer Philosophie. Aus zwei entgegengesetzten Richtungen wird der Rawlsianische Mainstream angegriffen: Auf der einen Seite steht da Cohens (über das Facts-Principles-Argument weit hinausgehende) Position, nach der auch der Gerechtigkeitsbegriff im Grunde einer tatsachenunabhängigen, quasi-platonischen Ideenwelt zugehörig sei. Rawls’ konstruktivistische Methode, die Motivationen, soziale Praktiken und Wertüberzeugung direkt in die Bestimmung von Gerechtigkeitsprinzipien miteinfließen lässt, verwässere was Gerechtigkeit „eigentlich“ sei. Aus der Gegenrichtung argumentieren, inspiriert von Autoren wie Bernard Williams und Raymond Geuss, die jüngst immer lautstärkeren Realisten gegen eine “moralistisch” und übermäßig idealisierende Auffassung von Politik, nach der soziale und politische Verhältnisse lediglich Instrumente zu Anwendung höherrangiger moralischer Prinzipien wären (aktuell etwa in Person von Matt Sleat). Sie werfen Rawls und seinen Anhängern vor, eine zu starke und damit schädliche Trennung zwischen politischen Normen und Prinzipien auf der einen, und den “Umständen der Politik” (charakterisiert durch Zwang, Konflikt, Unterdrückung o.ä.) zu konstruieren. Politische Theorie sei mehr als angewandte Moralphilosophie und müsse der Eigenlogik und Autonomie des Politischen Rechnung auf einer grundlegenden Ebene Rechnung tragen.

Beiden Kritikansätzen geht es im Kern um die Frage, ob im Grunde alle normativen Prinzipien Anwendungen höherrangiger Prinzipien auf bestimmte empirische Bedingungen sind oder ob – und inwieweit – Anwendungsbedingungen schon auf der Ebene der Rechtfertigung maßgeblich einfließen müssen. Dies sind wichtige Fragen, die an die Grundlagen einer normativen Konzeption politischer Philosophie reichen und weiter diskutiert werden sollten (aktuell auch etwa in Charles Larmores umsichtigen Artikel), aber ob Cohens Argument in „Facts and Principles“ dafür ein hilfreicher Einstiegspunkt ist, scheint mehr als fraglich.