Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften der Marburger Universität gelten gemeinhin als Fachbereiche, deren Mitglieder eine lange Tradition kritischen Denkens fortführen. In dieser Tradition steht auch der 1978 verstorbene Soziologe Heinz Maus. Sein 100. Geburtstag wurde von der Arbeitsgruppe Kritische Theorie daher zum Anlass genommen, ihn vom 25. bis 27. März mit einer Tagung zu ehren und die Frage nach der Aktualität jener Tradition zu stellen. Unter dem Titel „Aktualität und Traditionalität – Zur Aufgabe kritischer Theorie“ lockte die Tagung zahlreiche Lehrende und Studierende auf den Marbuger Campus der Geisteswissenschaften, der von Bergen, Burgen und Flüssen derart umringt ist, dass man gerne glaubt, hier einen gut geschützten Ort kritischen Denkens gefunden zu haben.
Während hier am ersten Tag in die Soziologie Maus‘ eingeführt wurde und der dritte Tag dem Vernetzen der Teilnehmer diente, galt es am zweiten Tag, sich dem Titel entsprechend der Frage zu widmen, was Kritische Theorie aus heutiger Perspektive eigentlich bedeuten kann. Dieser Frage kamen mit Thomas Bedorf, Christoph Menke, Christoph Demmerling oder Alexander Düttmann einige nicht gerade unbekannte Denker nach. Auf unterschiedlichsten Wegen wie der ideengeschichtlichen Rekonstruktion oder der Skizzierung eigener theoretischer Konzeptionen wurde zu bestimmen versucht, was Kritische Theorie einmal war, was sie gegenwärtig bedeutet und in welchem Verhältnis sie zu anderen theoretischen Ansätzen und politischen Bewegungen wie etwa dem Feminismus stand und steht. So skizzierte Bedorf in Abgrenzung zu Honneth und Butler ein Konzept verkennender Anerkennung, das unter dem Titel „Gewalt als Grenzen des Anerkennens“ Honneths Ausklammerung der Gewalt aus dem Prozess des Anerkennens übernimmt, ohne jedoch Butlers Perspektive auf die Gewaltförmigkeit von Subjektivierungsprozessen aufzugeben. Zudem rückt Bedorf die Brüchigkeit und die Möglichkeit des Missverständnisses innerhalb jeder Anerkennungsbeziehung in den Fokus. Ihm zufolge müsse Anerkennen als ein „Dialog“ verstanden werden, als „kommunikative Narratitivät“ und „Textualität“ zwischen Individuen, die immer Gefahr laufe, abzureißen. Diese vollziehen zwar ein „agonales Spiel“, das erst ein gemeinsames, konflikthaft erstrittenes soziales Band und eine geteilte Form der Normativität stifte, aber dessen Ende eintrete, sobald die Agonalität in (physische) Gewalt umschlage. Diese Politisierung des Anerkennungs-Begriffs, dem kein Telos mehr eigen ist, dient gewiss der Beschreibung gegenwärtiger sozialer Konflikte. Zur Formulierung einer gut begründeten Kritik an diesen Konflikten eignet sich Bedorfs Konzept jedoch kaum, da er offen lässt, auf welche normativen Strukturen Individuen verweisen können, um den Verzicht von Gewalt gewaltfrei einklagen zu können – besonders, wenn diese Strukturen als das Resultat des Anerkennens vorgestellt werden.
Jan Müller hingegen versuchte „Im Handgemenge des Sprechens“ die sprachphilosophischen Überlegungen Benjamins und Adornos neu zu interpretieren. In seinem eindrucksvollen, analytisch differenzierenden Vortrag verfolgte Müller die These, dass Benjamin wie Adorno zwischen Akten des Sprechens und deren philosophisch vorgenommener modellierender Beschreibung unterscheiden, um die jeweils in den Modellen angegebenen Bedingungen gelingenden Sprechens zu rekonstruieren. Müller grenzt sich hier von Habermas‘ Deutung ab, der zufolge insbesondere Adorno generell jeglichem Sprechen die Möglichkeit des Gelingens abspreche. Vielmehr, so Müller, gehe es Benjamin und Adorno gleichermaßen zum einen um die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens, zum anderen um die Unfähigkeit philosophischer Modelle, konkrete Akte des Sprechens in einem allgemeinen Modell der Sprache abzubilden. Modelle der Sprache könnten das Sprechen schließlich nur nachträglich und abstrakt erfassen. Während es Müller in einer auf Frege und Wittgenstein zurückgehenden sprachphilosophischen Perspektive gelang, seine These textnah zu belegen, verlor er jedoch das Moment der Kritik über weite Strecken aus den Augen. Zwar skizzierte er Begriffe wie Verdinglichung als eine Beziehung zwischen Sprachmodellen und konkreten Vollzügen des Sprechens, in welcher den Modellen ein Vorrang gegenüber den Sprechakten zugeschrieben wird – das Sprechen stelle sich dann als mangelhafte Form der vermeintlich allgemeingültigen Modellierung der Sprache dar, das konkrete Leben nur noch als Abweichung von unlebendigen Modellen. Doch zugleich führte Müllers analytische Unterscheidung zwischen der rekonstruierenden Perspektive der beiden Philosophen und des sprachlichen Handgemenges dazu, dass eine philosophisch geäußerte Kritik an verzerrten Formen latent konflikthaften Sprechens kaum thematisiert wurde. Dass gerade Benjamin und Adorno nicht nur über die Kritik an Modellierungen der Sprache den Zugang zur sozialen Realität wagten, sondern vielmehr als Kritiker agierten, die sich in gesellschaftliche Auseinandersetzungen begaben, dem wurde nur in einer Randbemerkung Rechnung getragen – man erinnere sich jedoch an Adornos Absichten in der Minima Moralia oder der Negativen Dialektik, verschüttete Bedeutungsmomente von Begriffen als moralische Bezugspunkte der Kritik rückzugewinnen.
Christoph Menke gelang es in seinem Vortrag, eine Ontologie des Sozialen zu formulieren, in deren Kontext individuelle und kollektive Erfahrungen der Heteronomie erschlossen und kritisch reflektiert werden können. Dafür ging er historisch hinter die Kritische Theorie von Marx und der Frankfurter Schule zurück. In Anschluss an Hegel brachte Menke die Begriffe des Geistes und der zweiten Natur in eine dialektische Beziehung, die es ermöglichen soll, die Gesellschaft durch ihre eigenen Begriffe zu kritisieren. Dieses traditionelle Vorgehen Kritischer Theorie drückte sich bei Menke in der These aus, dass sich der Geist – als ein Begriff, mit dem kollektiv verbindliche „Regeln“ und „soziale Praktiken“ gefasst werden –, im Zuge eines „Bildungsprozesses“ von der ersten Natur löse, nur um eine zweite Natur in sich selbst hervorzubringen. Denn durch die Einübung und Bildung werden die Individuen befähigt, sich frei und reflektiert Regeln des Zusammenlebens zu geben. Jedoch werden diese zum einen zur „Gewohnheit“: Jedem Vollzug der Regeln ist ein Moment eigen, das als unmittelbare, gewohnheitsmäßige Befolgung zu verstehen ist und somit einer freien, reflektierten Entscheidung widerspreche. Zum anderen wiederhole sich in jedem Regelvollzug der „Bildungsprozess“ in Form der Unterdrückung innerer, natürlicher Triebe, sodass die Individuen die Regeln als Heteronomie erfahren. Somit ist es gerade die im „Bildungsprozess“ gestiftete „Gewohnheit“, die notwendigerweise, so Menke mit Hegel, zwar die unmittelbare Herrschaft der ersten Natur, die Verfallenheit an eigenen Triebe und willkürliche Handlungen anderer überwindet; die aber zugleich eine zweite Natur in Form unreflektierter Regelbefolgung und Unterdrückung innerer Triebe im Geist selbst, in Regeln und Praktiken, hervorbringt. Der Geist, der einst der ersten Natur gegenüber stand, ist gekennzeichnet durch die Dialektik von Geist und zweiter Natur. Dieser Geist stehe somit im Widerspruch zu sich selbst, da er nicht nur Geist, sondern ebenso zweite Natur sei, und zeige sich in einer mangelhaften Gestalt, da er als frei und unabhängig von Zwängen vorgestellt werde. In der auf den Vortrag folgenden Diskussion bemerkte Menke, dass ausgehend von dieser Sozialontologie, die lediglich einen Anfang darstelle, kritische Fragen nach sozialer Herrschaft und pathologischen Selbstverhältnissen zu stellen wären. Wie dies genau aussehen könnte, darüber denke er selbst gerade nach.
Am Ende dieses zweiten Tagungstages drängte sich der Eindruck auf, dass die Frage, warum Kritische Theorie aktuell sei, nicht direkt beantwortet wurde. Einzig sporadische Anmerkungen zum Universitätsbetrieb oder dem Bologna-Prozess gaben einen Hinweis auf die Dringlichkeit einer Kritik der Gesellschaft, ohne jedoch in einer Sprache Kritischer Theorie formuliert worden zu sein. Auch der Vortrag Bedorfs, der immerhin Assoziationen zu aktuellen politische Konflikten im Nahen Osten weckte, setzte eine Aktualität voraus, ohne sie zu thematisieren. Ersichtlich wurde jedoch, welchen Momenten der Tradition Kritischer Theorie Aktualität zugesprochen wird: Die Aktualität der Kritischen Theorie, historisch betrachtet, geht ihr selbst vorausgeht. Denn wie Menkes Überlegungen zeigten, scheint Aktualität sich erneut der Philosophie Hegels anzunehmen, aus der bereits Marx, Lukács oder Adorno die begrifflichen Mittel ihrer Kritik schöpften. Vielleicht liegt es an der Ausweglosigkeit, in die Adornos Philosophie führt und an dem Versiegen des Glaubens an eine große Revolution, wie ihn Marx und Lukács hegten, dass, um an die Tradition Kritischer Theorie anzuschließen, heute hinter diese zurück gegangen werden muss. Vielleicht nicht bis zur Entstehung der Berge, Burgen und Flüsse, die Marburg umgeben, aber immerhin bis zu Hegel.
Sebastian Weirauch ist Doktorand und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen. In seiner Dissertation versucht er das Verhältnis von Erfahrung und Literatur im Werke Elfriede Jelineks und dessen Rezeption zu bestimmen. Seine generellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen des Poststrukturalismus, der älteren und jüngeren Kritischen Theorie sowie in der Politischen Ästhetik.
Markus Baum ist Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen und arbeitet am Soziologischen Institut in Forschung und Lehre. Seine Dissertation befasst sich mit dem Verhältnis von Gerechtigkeitstheorien, Methoden der Begründung und politischer Praxis. Zudem beschäftigt er sich mit Konzeptionen der Ästhetik und der Tradition Kritischer Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie.
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