Lefort-Schwerpunkt: Reboot der Radikaldemokratie? Zur Kritik an Claude Leforts vermeintlichem Liberalismus

Schon vor einiger Zeit haben Dirk Jörke und Christoph Held die Radikalität der Demokratietheorie Chantal Mouffes bezweifelt und ihr unterstellt, in die „Lefortsche Liberalismusfalle“ geraten zu sein, ja sich in dieser gar „verstrickt“ zu haben. Zu sehr stütze Mouffe sich seither auf liberale Autor*innen und habe sich damit einen „problematischen institutionellen Universalismus“ eingekauft, der in letzter Konsequenz gegen ihre Absicht zu einer Verstetigung gesellschaftlicher Machtungleichgewichte führen müsse. Insbesondere die Übernahme der Lefortschen Figur der „leeren Mitte der Macht“ habe sie übersehen lassen, dass sich liberale Institutionenarrangements mit Lefort nicht radikal verändern ließen, wo diesen der Ausschluss der Massen von der Politik eingeschrieben sei. 

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Lefort-Schwerpunkt: Von der Verkörperungsrepräsentation und dem homogenen Volk: Eine kritische Überprüfung von Leforts Begrifflichkeit in der Populismusforschung

Die Populismusforschung hat sich in den letzten 20 Jahren stark entwickelt und inzwischen als eigenständiger Forschungszweig etabliert. Vier Theorieansätze sind hier von Interesse: der minimale Ansatz (Mudde 2004; Mudde u. Rovira Kaltwasser 2019); der komplexe Ansatz (Stanley 2008; Diehl 2024); der diskursanalytische Ansatz (Laclau 2005; Mouffe 2018); und der Totalitarismus-inspirierte Ansatz (Arato 2013; Müller 2016; Rosanvallon 2020; Arato u. Cohen 2022). Die beiden letzteren stehen in enger Verbindung mit Claude Leforts Denken. Obwohl der Totalitarismus-inspirierte Ansatz vielversprechende Elemente der Lefortschen Theorie aufgreift, kann er den Blick auf die komplexe und ambivalente Beziehung des Populismus zur Demokratie (Mény u. Surel 2000) trüben. Es gilt also, die Chancen und Risiken der Anwendung von Leforts Totalitarismustheorie für das Verstehen des Populismus zu überprüfen. Diese liegen in der Verwendung der Konzepte “l’un” für die Repräsentation des Volkes als unveränderbar und homogen sowie des “Egokraten” als Repräsentationsmodus, in dem das Volk und die Macht von der Führerperson verkörpert werden. Beide sind Konzepte, die Lefort anhand des Totalitarismus entwickelt. Populismus steht damit in Beziehung, ohne dadurch beschrieben werden zu können. Mehr noch, mit Leforts Demokratie- und Totalitarismustheorie wird es möglich, diejenigen Stellen aufzuzeigen, an denen das populistische Versprechen von Volkssouveränität beide Möglichkeiten eröffnet: die Redemokratisierung der Demokratie aber auch ihre Abschaffung durch Autoritarismus und Totalitarismus.    (mehr …)

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Lefort-Schwerpunkt: Was sind demokratische Institutionen? Eine radikaldemokratische Antwort mit Claude Lefort

Wer von „demokratischen Institutionen“ spricht, scheint eine contradictio in adiecto zu begehen. Jedenfalls sind Antidemokrat:innen seit Platon dieser Auffassung: Während Institutionen Ordnung schaffen, steht Demokratie für Unordnung. Noch der (früh)moderne Republikanismus teilt diese Sichtweise: Montesquieu, James Madison oder Benjamin Constant warnen in ihren Plädoyers für die Mischverfassung vor der Institutionenfeindlichkeit des demokratischen Moments. Ausgehend von der platonischen Karikatur der Demokratie als Quasi-Anarchie, die permanent Gefahr läuft, sich selbst abzuschaffen, ist die Geschichte der demokratischen Idee auch eine Geschichte ihrer institutionellen Widerspenstigkeit. Während viele aktuelle Demokratietheorien versuchen, diese Spannung aufzulösen, plädiert der Jubilar Claude Lefort, dem dieser Schwerpunkt gewidmet ist, dafür, sie anzuerkennen und produktiv zu wenden. Die Friktion zwischen Demokratie und Institution erscheint in seinen Schriften nicht als Widerspruch oder als zu überwindendes Hindernis, sondern als eine produktive Aporie – eine Aporie, die nicht nur Kennzeichen einer radikaldemokratischen Perspektive ist, sondern, so unsere These, in jeder Theorie demokratischer Institutionen reflektiert werden muss.   (mehr …)

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Lefort-Schwerpunkt: Lefort und die Idee einer befragenden Kritik

Ist es Zeit, Schluss mit der Befragung zu machen?

Die Idee, Institutionenordnungen demokratischer Rechtsstaaten einer befragenden Kritik zu unterwerfen, könnte im gegenwärtigen politischen Kontext geradezu aus der Zeit gefallen wirken. Demokratische Rechtsstaatlichkeit kann in der heutigen Welt leicht als eine zarte Pflanze erscheinen, die des Schutzes und der Stärkung bedarf – aber nicht einer politischen Philosophie, die sich eine befragende und infragestellende Kritik zur Aufgabe macht. Wenn Lefort daher Merleau-Pontys Forderung aus Le visible et l’invisible (Paris 2006), Philosophie als Befragung zu verstehen, folgt, und sein Projekt einer Wiederherstellung der Politischen Philosophie deshalb ins Zeichen von Ungewissheit und Befragung stellt, dann scheint dieses Vorhaben selbst heute in Frage gestellt zu sein. Im Anschluss an Merleau-Pontys These, dass die Philosophie Frage bleibe und als solche die Welt befragt – „elle interroge le monde“ heißt es in Le visible et l’invisible(S. 134) –, ließe sich dann umgekehrt auch davon sprechen, dass die Welt die Philosophie mit Fragen konfrontiert. Als dringlichste Frage für die Politische Philosophie könnte dann die Frage danach erscheinen, wie sich eine demokratische Institutionenordnung schützen und befestigen lässt – nicht, wie sie in Frage gestellt werden kann.

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Lefort-Schwerpunkt: Ein Blick jenseits des Rheins: Die französischsprachige Lefort Rezeption

In den vergangenen Jahren ist Claude Lefort im deutschsprachigen Raum vor allem als Radikaldemokrat in Erscheinung getreten, spätestens seit seiner Erwähnung als einer der zentralen Referenz-Autor:innen im Handbuch Radikale Demokratietheorie. Wenn man allerdings auf den französischsprachigen Raum blickt, zeichnet sich ein etwas anderes Bild: Es fällt vor allem auf, dass Lefort vielschichtiger gelesen wird.  So wird beispielsweise seine eigenwillige Lese- und Denkmethode, die auch literarische Texte miteinschließt, herausgestrichen, seine Interpretationen demokratischer Ereignisse in Ländern der ehemaligen Sowjetunion beleuchtet sowie Verbindungen zur Psychoanalyse herausgestellt. Die radikaldemokratische Auslegung stellt dabei nur eine der zahlreichen Facetten seines Denkens dar.

Deswegen möchte dieser Beitrag zum einen dafür argumentieren, Lefort nicht nur als Radikaldemokraten zu verstehen, sondern, inspiriert von französischsprachigen Auseinandersetzungen, vielschichtiger zu lesen, beispielsweise als eigenwilligen Machiavelli- oder LaBoétie-Interpreten, oder literarisch versierten politisch-phänomenologischen Philosophen. Zum anderen ergäben sich aus dieser komplexeren Lesart neue Perspektiven für radikaldemokratische Auslegungen, beispielsweise in Bezug auf sein Demokratie- und Politikverständnis. Um diesen möglichen Horizont aufzuzeigen, soll nun im Folgenden, nach einem kurzen Blick auf den deutschsprachigen Raum, die breitere französischsprachige Rezeption schlaglichtartig beleuchtet werden.

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Schwerpunkt: 100 Jahre Lefort

In diesem Jahr wäre Claude Lefort 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dessen wird es auf dem Theorieblog einen Schwerpunkt rund um sein Denken geben. Als Denker des Politischen ist Lefort, durch seine Auseinandersetzungen mit der Demokratie und dem Totalitarismus, mit seinem geflügelten Wort des “leeren Ortes der Macht”, seiner Kritik an politischen Wissenschaften, aber auch durch seine Machiavelli-Lesart sowie seinem frühen Engagement in der Revue “Socialisme ou Barbarie” bis heute in Erinnerung geblieben und Referenzpunkt aktueller Debatten in der politischen Theorie.  

In dieser und der kommenden Woche werden sich fünf verschiedene Beiträge mit unterschiedlichen Aspekten seines Werkes beschäftigen: Ragna Verhoeven widmet sich in vergleichender Absicht der Rezeption Leforts im deutsch- und französisch-sprachigen Raum. Oliver Flügel-Martinsen erörtert die Rolle der befragenden Kritik im Werk Leforts. Welchen Stellenwert demokratische Institutionen im Denken Leforts einnehmen, arbeiten Sara Gebh und Sergej Seitz in ihrem Beitrag heraus.  Anschließend zeigt Paula Diehl, dass sich mit den Ressourcen von Leforts Theorie das Verhältnis von Populismus und Totalitarismus erhellen lässt. Zum Abschluss behandelt Martin Oppelt in seinem Beitrag die Frage, inwiefern Lefort als ein liberaler Denker gelesen werden kann.  

Wir freuen uns sehr auf die kommenden Wochen und wünschen viel Spaß beim Lesen und Diskutieren!   

Eure Theorieblog-Redaktion 

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Die Leerstelle, die bleibt – zum Tod Claude Leforts

Er war einer der praktischen Philosophen, die heute die Landschaft des kritischen politischen Denkens besonders in Frankreich prägen: Claude Lefort. Er starb am 3. Oktober im Alter von 86 Jahren.

Lefort beharrte stets darauf, dass das Politische jenseits des Staates zu denken sei und auf der Unmöglichkeit, die Einsicht in eine konfliktreiche Welt des Sozialen in eine Theorie der einzig richtigen Gesellschaftsordnung zu überführen. Vehement und mit aller rhetorischen Schärfe verteidigte er die Disharmonie im Stimmengewirr der Moderne, überzeugt von der Gefahr des Totalitarismus, die einer mit sich identischen, sich in ein organisches Ganzes auflösenden Gesellschaft verbunden war. So war die Demokratie für Lefort keine Regierungsform zur Erzeugung und Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung, sondern ein beständiger Ausdruck der lebensweltlichen Heterogenität, die sich keinem Entwurf sozialer Ordnung widerspruchsfrei zu fügen gewillt ist. (mehr …)

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