Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen der Herbsttagung der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) in Zusammenarbeit mit der AG Politische Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) an der Universität Hamburg im September 2019.
Eignet sich die vermeintlich so praxisferne politische Theorie als Ausgangspunkt für die Politikberatung? Diese Frage ist grundsätzlicher Natur, für mich aber auch ganz persönlich: Nach einigen Jahren in der politischen Theorie arbeite ich nun bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die SWP wird seit 60 Jahren aus dem Bundeshaushalt finanziert und hat die Aufgabe, Bundesrat und Bundestag zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu beraten. Im Folgenden möchte ich auf Basis meiner bisherigen Erfahrungen bei der SWP einige Überlegungen dazu vorstellen, welche Herausforderungen sich beim Übergang von der politischen Theorie zur Politikberatung ergeben. Nicht jede politische Theoretikerin, nicht jeder politischer Theoretiker, will und muss politische Beratung anbieten; in ähnlicher Form sind diese Herausforderungen aber wohl doch für all jene relevant, die aus der politischen Theorie heraus am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Zunächst werde ich in zwei Hinsichten meinen Ausgangspunkt darlegen und dann vier Herausforderungen aufzeigen, die sich mir stellen.
Beratung und Politische Theorie
Mein erster Ausgangspunkt betrifft den Begriff der Beratung. Was ist überhaupt Beratung? Für mich klingt dieser Begriff immer recht hierarchisch, fast schon paternalistisch. Bisweilen scheint mitzuschwingen, dass es eine Überlegenheit der Berater gegenüber jenen gebe, die der Beratung bedürfen. Da der Begriff aber nun einmal etabliert ist, versuche ich ihn für mich dialogisch zu deuten: Beratung besteht dann darin, dass ich meine Expertise anbiete und darüber in einen Austausch mit denjenigen trete, die politische Entscheidung treffen – und die selbst über eine eigene von Expertise aus der Praxis verfügen. Diese Art von Beratung durch Dialog, so meine Erfahrung, funktioniert am besten im vertraulichen Gespräch. Anders als bei öffentlichen Veranstaltungen kann hier das nötige Maß an gegenseitigem Vertrauen entstehen, um in einen echten Austausch einzutreten. Eben weil diese Art von Beratung vertraulich ist, ist von außen oft nicht ohne weiteres zu verstehen, wie eine Institution wie die SWP funktioniert.
Ich würde allerdings sagen, dass auch die Beteiligung an öffentlichen Debatten eine Form von Politikberatung ist. Anders als bei der vertraulichen Beratung einzelner Entscheidungsträger ist hier das Ziel, die eigene Expertise in einen breiteren politischen Austausch einzubringen. In diesem Sinne sind meine Spezialprobleme als Mitarbeiter an der SWP hoffentlich auch anschlussfähig für all die Kolleginnen und Kollegen, die aus der politischen Theorie heraus auf verschiedene Art und Weise in die Öffentlichkeit hineinwirken.
Den zweiten Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Überzeugung, dass die Politische Theorie in der Tat eine sehr gute Grundlage für die Politikberatung ist. Das mag erst einmal kontraintuitiv scheinen, weil man ja sagen könnte: Die Politische Theorie ist immer sehr abstrakt und hält bewusst eine gewisse Distanz zur politischen Praxis. Ich glaube allerdings, dass es gerade diese Eigenschaften der Politischen Theorie sind, die ihr in bestimmten Hinsichten einen Vorteil gegenüber anderen Subdisziplinen der Sozialwissenschaften verschaffen: die Distanz ermöglicht den Blick auf grundsätzlichere strukturelle Zusammenhänge; der abstrakte Zugang die Einordnung des politischen Tagesgeschehens in größere Sinnzusammenhänge. Und eben dies wird von politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern nachgefragt.
Als besondere Kompetenz der Politischen Theorie und Philosophie kommt zudem noch der bewusste kritische Umgang mit Deutungsmustern hinzu, wie sie in der Praxis natürlich auch überall „herumgeistern“. Ein Beispiel: Im Moment wird viel von „digitaler Souveränität“ gesprochen: Deutschland soll digital souverän werden. Dieses scheint mir eine Reaktion auf die aktuelle Kontroverse zwischen den USA und China zu sein. Auch andere Staaten greifen diese Debatte auf: Russland etwa hat vor einigen Monaten ein Gesetz über ein „souveränes Internet“ verabschiedet. Der Souveränitätsbegriff taucht hier in verschiedenen Kontexten auf und wird dabei oft unkritisch verwendet und/oder ideologisch aufgeladen. Ich glaube, an eben solchen Punkten ist die besondere Kompetenz der Politischen Theorie und Philosophie gefragt.
Herausforderungen
Es gibt also Grund zur Annahme, dass die politische Theorie wie auch die politische Philosophie einen guten Ausgangspunkt für eine dialogisch angelegte Form von Politikberatung ist. An mir selbst und anderen beobachte ich dabei allerdings auch, dass sich beim Übergang von der politischen Theorie und Philosophie zur Politikberatung – ob im vertraulichen Gespräch oder im öffentlichen Raum – mindestens vier Herausforderungen ergeben:
Die erste Herausforderung besteht darin, sich mit den technischen und politischen Details hinreichend vertraut zu machen. Da ist die Distanz zu dem, was man in der Politischen Theorie und Philosophie üblicherweise macht, am größten. Wenn wir etwa über politische Fragen der Digitalisierung sprechen wollen, müssen wir da auch technisch tiefer einsteigen. Wir müssen uns konkreter damit beschäftigen, was sich hinter großen Schlagwörtern wie „Big Data“ oder „Künstliche Intelligenz“ verbirgt. Auch setzt Politikberatung voraus, sich intensiver mit den politischen Abläufen zu beschäftigen. Vor allem sollten wir uns mehr der zeitlichen Eigenlogik der politischen Praxis bewusst werden. Die Politische Theorie und Philosophie kann und sollte sich diese nicht zu eigen machen. Wenn aber die politische Theorie und Philosophie Beratung anbieten und am öffentlichen Diskurs teilhaben will, muss sie vorausschauend mitbedenken, welche Themen wann für die politische Praxis relevant werden.
Die zweite Herausforderung besteht darin, komplexe Themen zuzuspitzen, ohne sie unredlich zu vereinfachen. Dies ist eine Herausforderung, die für uns als Politische Theoretikerinnen und Theoretiker vielleicht besonders groß ist, weil wir es eigentlich gewohnt sind, die Komplexität zu erhöhen, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen und Themen sehr ausführlich zu behandeln. In der Regel fehlt den Akteuren in der politischen Praxis jedoch schlicht die Zeit, sich in dieser Art und Weise mit Problemen zu beschäftigen. Wenn wir trotzdem ein Beratungsangebot machen wollen, ist die Frage daher: Wie bekomme ich mein Anliegen so heruntergebrochen, dass mein zentrales Argument verständlich wird und ich der Sache an sich noch gerecht werde? Das funktioniert nur, wenn ich nicht voraussetze, dass mein Gegenüber in der Philosophie oder Politischen Theorie promoviert hat. Auch bedeutet es, dass ich auf obskure Referenzen verzichte, und stattdessen versuche, meine Überlegungen so zu formulieren, dass sie für jeden, der sich darauf guten Willens einlässt, schnell und einfach zugänglich sind.
Eine dritte Herausforderung bildet die politisierte Sprache der Praxis. Wir haben innerhalb der Politischen Theorie und Philosophie einen sehr speziellen Umgang mit Sprache, bei dem wir uns lange und ausführlich über Begriffe streiten. Es funktioniert aber nicht, mit einem solchem Begriffsverständnis in den politischen Raum hinein zu gehen, also zu sagen: Wir haben darüber lange diskutiert, ich weiß jetzt, was der richtige Begriff ist, um ein Thema anzugehen. Ein solches Vorgehen verkennt, dass im politischen Betrieb Begriffe auch belegt sind, Teil ganz handfester politischer Auseinandersetzungen. Es ist wichtig, wer einen Begriff als Erstes eingesetzt hat und welche politische Geschichte er hat. Wenn ein Begriff in einem Regierungsdokument steht, ist das ein Bezugspunkt, auf dem man aufbauen kann; umgekehrt ist es im politischen Kontext sehr schwierig, neue Begrifflichkeiten einzubringen. Begriffe wie „Künstliche Intelligenz“ oder „Cyber“ etwa sind analytisch unbefriedigend, haben sich aber in der politischen Praxis durchgesetzt.
Die vierte Herausforderung besteht darin, die politische Debatte zu bereichern, ohne dem demokratischen Prozess vorwegzugreifen. Es gibt einen Unterschied zwischen meiner Tätigkeit und dem politischen Aktivismus von Amnesty International, deren Arbeit ganz klar mit einer politischen Agenda versehen ist. Die Art der Politikberatung, die wir bei der SWP machen, hat ein anderes Selbstverständnis. Wir wollen die politische Diskussion in Legislative und Exekutive bereichern, aber wir wollen dabei nicht dem demokratischen Willensbildungsprozess vorweggreifen. Wie macht man das, wo genau und wie zieht man hier die Grenze? Man könnte sich erstens darauf zurückziehen, dass alle politisch kontroversen Fragen demokratisch entschieden werden müssen. Was dann als Beratungsangebot bleibt, ist die Betonung des Wertes demokratischer Verfahren. Zweitens könnte man sich darauf beschränken, Zweck-Mittel-Relationen zu beschreiben. Dies ist oftmals ein gangbarer Weg, der jedoch auch nicht ohne Tücken ist. Auch das Aufzeigen von Zweck-Mittel-Relationen ist nicht wertneutral, sondern auf vielfache Weise von normativen Annahmen geprägt. Und nicht zuletzt wäre es bedauerlich, wenn gerade wir, die wir uns mit wertgeladenen Fragen in einer normativen oder auch nicht-normativen Weise beschäftigen, uns bei der Auseinandersetzung um diese Fragen im öffentlichen Raum zu sehr zurücknehmen würden.
Die Herausforderung ist also, sich bis zu einem gewissen Grad auf substantielle Diskussionen einzulassen und auch normativ gehaltvolle Vorschläge zu machen, aber auch die eigenen Grenzen zu kennen. Unstrittig ist, dass die eigentlichen politischen Entscheidungen von denjenigen getroffen werden, die dafür demokratisch legitimiert sind. Im Sinne einer Beratung qua Dialog schließt dies aber ja nicht aus, sich über diese Entscheidungen zu streiten. Also etwa aufzuzeigen, dass eine bestimmte Politik in sich inkonsistent ist oder im Widerspruch zu Grundwerten unserer Verfassung steht. Wichtig ist mir dabei größtmögliche Transparenz: Wie argumentiere ich? Was sind meine Prämissen? Wo bringe ich eigene Wertungen mit ein? Diese Transparenz macht es nicht unbedingt leichter, die eigenen Überlegungen einfach verständlich auszudrücken – für eine demokratietheoretisch reflektierte Beratung scheint sie mir aber unabdinglich.
Daniel Voelsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er arbeitet dort zu Fragen der internationalen Digitalpolitik, mit einem besonderem Fokus auf Fragen der globalen Internet Governance. Daniel war einer der Mitbegründer des Theorieblogs.
Schöner Artikel, Daniel! Dass die politische Praxis zumindest im Prinzip unsere Fähigkeiten der Einordnung des Tagesgeschehens in soziale Strukturen und Sinnzusammenhänge nachfragt, ist für mich durchaus motivierend… Auch sonst stimme ich mit dir weitgehend überein. Um mich an dieser Stelle aber aufs Kerngeschäft politischer Theorie und Philosophie zu beschränken: Ich finde deine Gedanken zu einer dialogischen Beratungsbeziehung ergeben sich bereits aus dem Begriff der Beratung.
Beratung „klingt“ für mich weder „recht hierarchisch“ noch „fast schon paternalistisch“. Man berät nämlich einen Akteur, der die Verantwortung für seine Entscheidung selbst trägt. In persönlichen Beziehungen ist diese eigenverantwortliche Entscheidung durch den Wert der Autonomie verbürgt. Eine gute Beratung ist dann gerade nicht paternalistisch, sondern steht bei der autonomen Entscheidungsfindung unterstütztend zur Seite. Im politischen Bereich liegt aufgrund der Herrschaftsverhältnisse die Entscheidungsmacht bei denjenigen, die beraten werden. Die Beratende steht daher nicht in einem hierarchischen Verhältnis zu den Beratenten, sondern soll diese dabei unterstützen, wohlinformiert die bestmögliche politische Entscheidung zu treffen.
Wenn es in der Politikberatung überhaupt ein Hierarchieverhältnis gibt, dann verläuft das gerade umgekehrt. Bei der SWP als Think Tank der Bundesregierung wird das ja besonders deutlich. Da eine direkte Weisungbefugnis aber den Wert der Beratung untergraben würde, wird versucht, die Unabhängigkeit durch eine institutionelle Trennung zu wahren. Das wäre ein weiteres Beispiel dafür, dass Beratung möglichst frei von hierarchischen Verhältnisse sein sollte.
Demokratietheoretisch schient mir das eigentliche Problem zu sein, dass viel von dem was als „Politikberatung“ firmiert, tatsächlich mehr oder weniger klandestines Lobbying für zahlungskräftige Kundschaft ist. Weniger zahlungskräftige Interessen versuchen dann, dem durch einen öffentlichen Diskurs entgegenzutreten. Dies allgemein als andere Form der „Politikberatung“ zu bezeichnen, würden diesen Begriff überstrapazieren. Ich denke das passt nur dann, wenn Personen wie du in ihrer Funktion als Politikberater*innen am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Aber ich vermute so meintest du es auch?
PS: Im zweiten Absatz steht noch folgender Flüchtigkeitsfehler: „und dies selbst über eine eigene von Expertise aus der Praxis verfügen“
Lieber Andi, danke dir für deine interessanten Anmerkungen!
Deine Überlegungen zum Begriff der Beratung finde ich sehr hilfreich. Ich verstehe dich so, dass du den Begriff mit normativen Auflagen versiehst: Von Beratung sollten wir dann sprechen, wenn das Ziel ist, die zu beratende Person in ihrer autonomen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Lobbying unterscheidet sich damit von Politikberatung dadurch, dass das Ziel hier gerade nicht die Förderung der Autonomie der Entscheidungsträger/innen ist, sondern vielmehr eben diese durch falsche, irreführende oder zumindest einseitige Informationen gezielt unterlaufen werden soll. Eine Voraussetzung für Beratung ist demnach zudem, dass sie in einem weitgehend hierarchiefreien Raum stattfindet.
Diese Ausdifferenzierung der normativen Voraussetzungen von „guter“ Beratung finde ich überzeugend. Um dennoch kurz mein Unbehagen zu erläutern: Ich glaube, im Begriff Beratung steckt die Annahme, dass die Rat gebende Person einen Sachverhalt in einer relevanten Hinsicht besser versteht als die zu beratende Person. Warum sollte ich mich beraten lassen, wenn ich nicht die Erwartung hätte, dass mein Gegenüber mir hilfreichen Rat bieten kann? Eine gewisse Asymmetrie ist hier also angelegt. Dient die Beratung wie von dir präzisiert dazu, die autonome Entscheidungsfindung zu unterstützen, ist diese wohl in der Tat unproblematisch. Eben diese Art von Asymmetrie dient aber leider auch zu oft als Vorwand für paternalistisches Verhalten, nach dem Motto: „Lass mich dir einen guten Rat geben, denn du selbst überblickst deine Situation nicht.“ Bestenfalls kommt das altväterlich daher, bis zum „mansplaining“ ist es dann aber auch nicht mehr weit. Wahrscheinlich sind es diese Assoziationen – die nicht notwendig Teil des Begriffs der Beratung sind, damit aber doch verbunden werden – die ich vermeiden möchte. Aber du hast mich überzeugt, dass man dazu nicht unbedingt auf den Begriff der Beratung verzichten muss!
Zuletzt noch eine kurze Erläuterung: Obwohl das manchmal so geschrieben wird, ist die SWP ist nicht „der Think Tank der Bundesregierung“. Die Stiftung wird auf Beschluss des Bundestages aus dem Bundeshalt gefördert mit dem Stiftungszweck, für Bundestag und Bundesregierung wissenschaftliche Expertise mit dem Ziel der Politikberatung bereitzustellen.