theorieblog.de | Politische Theorie und politische Beratung

8. Januar 2020, Voelsen

Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen der Herbsttagung der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) in Zusammenarbeit mit der AG Politische Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil) an der Universität Hamburg im September 2019.

Eignet sich die vermeintlich so praxisferne politische Theorie als Ausgangspunkt für die Politikberatung? Diese Frage ist grundsätzlicher Natur, für mich aber auch ganz persönlich: Nach einigen Jahren in der politischen Theorie arbeite ich nun bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die SWP wird seit 60 Jahren aus dem Bundeshaushalt finanziert und hat die Aufgabe, Bundesrat und Bundestag zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu beraten. Im Folgenden möchte ich auf Basis meiner bisherigen Erfahrungen bei der SWP einige Überlegungen dazu vorstellen, welche Herausforderungen sich beim Übergang von der politischen Theorie zur Politikberatung ergeben. Nicht jede politische Theoretikerin, nicht jeder politischer Theoretiker, will und muss politische Beratung anbieten; in ähnlicher Form sind diese Herausforderungen aber wohl doch für all jene relevant, die aus der politischen Theorie heraus am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Zunächst werde ich in zwei Hinsichten meinen Ausgangspunkt darlegen und dann vier Herausforderungen aufzeigen, die sich mir stellen.

 

Beratung und Politische Theorie

Mein erster Ausgangspunkt betrifft den Begriff der Beratung. Was ist überhaupt Beratung? Für mich klingt dieser Begriff immer recht hierarchisch, fast schon paternalistisch. Bisweilen scheint mitzuschwingen, dass es eine Überlegenheit der Berater gegenüber jenen gebe, die der Beratung bedürfen. Da der Begriff aber nun einmal etabliert ist, versuche ich ihn für mich dialogisch zu deuten: Beratung besteht dann darin, dass ich meine Expertise anbiete und darüber in einen Austausch mit denjenigen trete, die politische Entscheidung treffen – und die selbst über eine eigene von Expertise aus der Praxis verfügen. Diese Art von Beratung durch Dialog, so meine Erfahrung, funktioniert am besten im vertraulichen Gespräch. Anders als bei öffentlichen Veranstaltungen kann hier das nötige Maß an gegenseitigem Vertrauen entstehen, um in einen echten Austausch einzutreten. Eben weil diese Art von Beratung vertraulich ist, ist von außen oft nicht ohne weiteres zu verstehen, wie eine Institution wie die SWP funktioniert.

Ich würde allerdings sagen, dass auch die Beteiligung an öffentlichen Debatten eine Form von Politikberatung ist. Anders als bei der vertraulichen Beratung einzelner Entscheidungsträger ist hier das Ziel, die eigene Expertise in einen breiteren politischen Austausch einzubringen. In diesem Sinne sind meine Spezialprobleme als Mitarbeiter an der SWP hoffentlich auch anschlussfähig für all die Kolleginnen und Kollegen, die aus der politischen Theorie heraus auf verschiedene Art und Weise in die Öffentlichkeit hineinwirken.

Den zweiten Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Überzeugung, dass die Politische Theorie in der Tat eine sehr gute Grundlage für die Politikberatung ist. Das mag erst einmal kontraintuitiv scheinen, weil man ja sagen könnte: Die Politische Theorie ist immer sehr abstrakt und hält bewusst eine gewisse Distanz zur politischen Praxis. Ich glaube allerdings, dass es gerade diese Eigenschaften der Politischen Theorie sind, die ihr in bestimmten Hinsichten einen Vorteil gegenüber anderen Subdisziplinen der Sozialwissenschaften verschaffen: die Distanz ermöglicht den Blick auf grundsätzlichere strukturelle Zusammenhänge; der abstrakte Zugang die Einordnung des politischen Tagesgeschehens in größere Sinnzusammenhänge. Und eben dies wird von politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern nachgefragt.

Als besondere Kompetenz der Politischen Theorie und Philosophie kommt zudem noch der bewusste kritische Umgang mit Deutungsmustern hinzu, wie sie in der Praxis natürlich auch überall „herumgeistern“. Ein Beispiel: Im Moment wird viel von „digitaler Souveränität“ gesprochen: Deutschland soll digital souverän werden. Dieses scheint mir eine Reaktion auf die aktuelle Kontroverse zwischen den USA und China zu sein. Auch andere Staaten greifen diese Debatte auf: Russland etwa hat vor einigen Monaten ein Gesetz über ein „souveränes Internet“ verabschiedet. Der Souveränitätsbegriff taucht hier in verschiedenen Kontexten auf und wird dabei oft unkritisch verwendet und/oder ideologisch aufgeladen. Ich glaube, an eben solchen Punkten ist die besondere Kompetenz der Politischen Theorie und Philosophie gefragt.

 

Herausforderungen

Es gibt also Grund zur Annahme, dass die politische Theorie wie auch die politische Philosophie einen guten Ausgangspunkt für eine dialogisch angelegte Form von Politikberatung ist. An mir selbst und anderen beobachte ich dabei allerdings auch, dass sich beim Übergang von der politischen Theorie und Philosophie zur Politikberatung – ob im vertraulichen Gespräch oder im öffentlichen Raum – mindestens vier Herausforderungen ergeben:

Die erste Herausforderung besteht darin, sich mit den technischen und politischen Details hinreichend vertraut zu machen. Da ist die Distanz zu dem, was man in der Politischen Theorie und Philosophie üblicherweise macht, am größten. Wenn wir etwa über politische Fragen der Digitalisierung sprechen wollen, müssen wir da auch technisch tiefer einsteigen. Wir müssen uns konkreter damit beschäftigen, was sich hinter großen Schlagwörtern wie „Big Data“ oder „Künstliche Intelligenz“ verbirgt. Auch setzt Politikberatung voraus, sich intensiver mit den politischen Abläufen zu beschäftigen. Vor allem sollten wir uns mehr der zeitlichen Eigenlogik der politischen Praxis bewusst werden. Die Politische Theorie und Philosophie kann und sollte sich diese nicht zu eigen machen. Wenn aber die politische Theorie und Philosophie Beratung anbieten und am öffentlichen Diskurs teilhaben will, muss sie vorausschauend mitbedenken, welche Themen wann für die politische Praxis relevant werden.

Die zweite Herausforderung besteht darin, komplexe Themen zuzuspitzen, ohne sie unredlich zu vereinfachen. Dies ist eine Herausforderung, die für uns als Politische Theoretikerinnen und Theoretiker vielleicht besonders groß ist, weil wir es eigentlich gewohnt sind, die Komplexität zu erhöhen, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen und Themen sehr ausführlich zu behandeln. In der Regel fehlt den Akteuren in der politischen Praxis jedoch schlicht die Zeit, sich in dieser Art und Weise mit Problemen zu beschäftigen. Wenn wir trotzdem ein Beratungsangebot machen wollen, ist die Frage daher: Wie bekomme ich mein Anliegen so heruntergebrochen, dass mein zentrales Argument verständlich wird und ich der Sache an sich noch gerecht werde? Das funktioniert nur, wenn ich nicht voraussetze, dass mein Gegenüber in der Philosophie oder Politischen Theorie promoviert hat. Auch bedeutet es, dass ich auf obskure Referenzen verzichte, und stattdessen versuche, meine Überlegungen so zu formulieren, dass sie für jeden, der sich darauf guten Willens einlässt, schnell und einfach zugänglich sind.

Eine dritte Herausforderung bildet die politisierte Sprache der Praxis. Wir haben innerhalb der Politischen Theorie und Philosophie einen sehr speziellen Umgang mit Sprache, bei dem wir uns lange und ausführlich über Begriffe streiten. Es funktioniert aber nicht, mit einem solchem Begriffsverständnis in den politischen Raum hinein zu gehen, also zu sagen: Wir haben darüber lange diskutiert, ich weiß jetzt, was der richtige Begriff ist, um ein Thema anzugehen. Ein solches Vorgehen verkennt, dass im politischen Betrieb Begriffe auch belegt sind, Teil ganz handfester politischer Auseinandersetzungen. Es ist wichtig, wer einen Begriff als Erstes eingesetzt hat und welche politische Geschichte er hat. Wenn ein Begriff in einem Regierungsdokument steht, ist das ein Bezugspunkt, auf dem man aufbauen kann; umgekehrt ist es im politischen Kontext sehr schwierig, neue Begrifflichkeiten einzubringen. Begriffe wie „Künstliche Intelligenz“ oder „Cyber“ etwa sind analytisch unbefriedigend, haben sich aber in der politischen Praxis durchgesetzt.

Die vierte Herausforderung besteht darin, die politische Debatte zu bereichern, ohne dem demokratischen Prozess vorwegzugreifen. Es gibt einen Unterschied zwischen meiner Tätigkeit und dem politischen Aktivismus von Amnesty International, deren Arbeit ganz klar mit einer politischen Agenda versehen ist. Die Art der Politikberatung, die wir bei der SWP machen, hat ein anderes Selbstverständnis. Wir wollen die politische Diskussion in Legislative und Exekutive bereichern, aber wir wollen dabei nicht dem demokratischen Willensbildungsprozess vorweggreifen. Wie macht man das, wo genau und wie zieht man hier die Grenze? Man könnte sich erstens darauf zurückziehen, dass alle politisch kontroversen Fragen demokratisch entschieden werden müssen. Was dann als Beratungsangebot bleibt, ist die Betonung des Wertes demokratischer Verfahren. Zweitens könnte man sich darauf beschränken, Zweck-Mittel-Relationen zu beschreiben. Dies ist oftmals ein gangbarer Weg, der jedoch auch nicht ohne Tücken ist. Auch das Aufzeigen von Zweck-Mittel-Relationen ist nicht wertneutral, sondern auf vielfache Weise von normativen Annahmen geprägt. Und nicht zuletzt wäre es bedauerlich, wenn gerade wir, die wir uns mit wertgeladenen Fragen in einer normativen oder auch nicht-normativen Weise beschäftigen, uns bei der Auseinandersetzung um diese Fragen im öffentlichen Raum zu sehr zurücknehmen würden.

Die Herausforderung ist also, sich bis zu einem gewissen Grad auf substantielle Diskussionen einzulassen und auch normativ gehaltvolle Vorschläge zu machen, aber auch die eigenen Grenzen zu kennen. Unstrittig ist, dass die eigentlichen politischen Entscheidungen von denjenigen getroffen werden, die dafür demokratisch legitimiert sind. Im Sinne einer Beratung qua Dialog schließt dies aber ja nicht aus, sich über diese Entscheidungen zu streiten. Also etwa aufzuzeigen, dass eine bestimmte Politik in sich inkonsistent ist oder im Widerspruch zu Grundwerten unserer Verfassung steht. Wichtig ist mir dabei größtmögliche Transparenz: Wie argumentiere ich? Was sind meine Prämissen? Wo bringe ich eigene Wertungen mit ein? Diese Transparenz macht es nicht unbedingt leichter, die eigenen Überlegungen einfach verständlich auszudrücken – für eine demokratietheoretisch reflektierte Beratung scheint sie mir aber unabdinglich.

 

Daniel Voelsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er arbeitet dort zu Fragen der internationalen Digitalpolitik, mit einem besonderem Fokus auf Fragen der globalen Internet Governance. Daniel war einer der Mitbegründer des Theorieblogs.


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