Tagungsbericht: Vom Gespenst des Postliberalismus heimgesucht

Der ambitionierte Anspruch der Tagung „Demokratischer Postliberalismus? Sozialethische Klärungsversuche in den Krisenzeiten ‚liberaler Demokratie‘“ war, die Krise „der Demokratie“ im Lichte sogenannter postliberaler Ideen zu lesen und womöglich durch dieses Brennglas nicht nur die Diagnose der gegenwärtigen Krise der (liberalen) Demokratien zu schärfen, sondern auch alternative Ansätze, die Krisen zu bearbeiten, freizulegen. Dieser Anspruch der Ende Oktober in Mainz stattgefundenen Tagung war nicht zuletzt deshalb besonders ambitioniert, da Postliberalismus ein breites Spektrum von Positionen umfasst, die von der Identifizierung von erhaltenswerten Elementen des Liberalismus nach dem Ende seiner Dominanz bis zur radikalen Rückkehr zu vorliberalen Politikverständnissen reichen. Passenderweise begann die Vorstellung mit der Bitte, Position zu Liberalismus und Postliberalismus zu beziehen. Von den etwa 30 Teilnehmerinnen bekannten sich einige zum Liberalismus, andere beschrieben sich als Kritiker des Liberalismus, die Positionen zum Postliberalismus reichten von abwartend bis ablehnend. Hubertus Buchstein eröffnete mit der These, linke Kritiker des Liberalismus unterlägen einer Selbsttäuschung, schließlich sei dem Liberalismus schon so häufig fälschlicherweise sein Ende vorausgesagt worden. Wie also steht es um die Zukunft des Liberalismus? Anhand von drei Fragen versuchte die Tagung, sich einer Antwort zu nähern. Ein vierter Fragenkomplex blieb dagegen eher im Hintergrund. 

Was ist liberal an der liberalen Demokratie? 

Um die Zukunft des Liberalismus zu thematisieren, musste geklärt werden, wie sich das „liberale“ Element der liberalen Demokratie zu ihrem demokratischen verhält. Die Teilnehmer boten verschiedene historische und systematische Ansätze an, um die liberalen Elemente in der liberalen Demokratie zu ermitteln – und auch zu verteidigen. Eva Buddeberg verwies auf das Toleranzethos bei Pierre Bayle. Bayles Gedanken seien grundlegend dafür zu verstehen, warum wir uns Demokratie nicht ohne Minderheitenschutz vorstellen können. Buddeberg verwehrte sich gegen die vorgebrachte Kritik, dass die Fragen des 17. Jahrhunderts nicht die unsrigen seien. Eine Gegenfrage, unter anderem von Dirk Jörke formuliert, war, ob denn eine Demokratie ohne den Schutz vor Minderheiten mit konzentrierter Macht gelingen könne. 

Ein anderer Strang, das Liberale an der liberalen Demokratie zu ermitteln, zielte auf die gegenseitige Abhängigkeit von individueller Freiheit und dem Gelingen von Vergesellschaftung. Georg Essen warf der gegenwärtigen Politikwissenschaft vor, diesen Strang zu vernachlässigen und stattdessen ein freiheitstheoretisch unterkomplexes proto-libertäres Verständnis von Liberalismus zu gebrauchen und damit (extrem)rechten Positionen Vorschub zu leisten.  

Beide Stränge kamen aber darin überein, dass das Demokratische und das Liberale in einem Ergänzungsverhältnis stehen. Trotzdem kam es, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Verständnisse von Liberalismus und dessen Dominanz in gegenwärtigen Demokratien unter den Teilnehmerinnen, nicht zu einer Klärung dieser ersten Schlüsselfrage. 

Wie steht es um das Verhältnis von demokratischen und liberalen Elementen in der Bundesrepublik? 

Konkreter wurde es durch eine zweite Frage, unter die sich einige der Beiträge auf der Tagung gruppieren lassen: Wie verhalten sich die demokratischen und liberalen Elemente in der politischen Ordnung der Bundesrepublik zueinander? Die in der Tagungseinladung formulierte Idee, dass die Bundesrepublik Deutschland erst seit Kurzem als liberale Demokratie dargestellt wird, u.a. vom Bundespräsidenten Steinmeier, wurde kritisch diskutiert. Kaum jemand fand diesen Begriff für die Bundesrepublik passend, stattdessen wurde vermessen, wie das Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie seit ihrer Gründung unter anderen Namen und Begriffen gestaltet wurde. Hier kam von mehreren Teilnehmerinnen der Vorschlag, die Bundesrepublik als „demokratischen Verfassungsstaat“ zu charakterisieren und damit auf das Werk von Peter Graf von Kielmansegg zu rekurrieren.  

Besonders Tine Stein näherte sich der Frage auf diese Weise. Für den Erfolg der Bundesrepublik als demokratischer Verfassungsstaat machte sie eine gelungene Ausbalancierung von demokratietheoretischer Begrenzung und Ermöglichung geltend, die sie zunächst auf die Absicherung einer offenen, aber demokratischen Parteienlandschaft gegenüber extremistischen Vorstößen bezog. Breiter gelesen kam diese Ausbalancierung auch als Interpretation der Art und Weise ins Spiel, wie der deutsche Staat mit neuen Herausforderungen umging, wie etwa der Klimakrise oder der Wiedervereinigung. Stein bemängelte, dass unter den weniger günstigen externen Rahmenbedingungen seit den 1980er Jahren sowohl Politiker als auch Bürger, „korrumpiert durch Trägheit und Habgier“, diese Ausbalancierung aus den Augen verloren haben. Oliver Weber brachte in seinem Kommentar ins Spiel, dass die Begrenzung auch bei Tine Steins Konzeption des demokratischen Verfassungsstaats im Vordergrund steht und selbst in Ermöglichungsdiskursen noch die selbstgewählten Begrenzungen (à la „Selbstbindung des Odysseus“) eine große Rolle spielten. Das habe einen negativen Einfluss auf das Vertrauen von Bürgern und selbst von Parteien in die Gestaltungskraft von Politik hervorgebracht. 

Philip Manow stellte in ähnlicher Weise infrage, ob etwa die ausgewiesene Verfassungsstaatlichkeit der Bundesrepublik als Stärke zu betrachten sei. Schließlich sei die EU nach dem Vertrag von Maastricht die einzige liberale Regierungsform ohne direkte demokratische Legitimation. Das nun verbreitete Gefühl vieler Menschen innerhalb der EU, weniger Einfluss auf demokratische Politik ausüben zu können, hänge mit der Verrechtlichung von Politik zusammen, welche als deutsches Modell von Verfassungsstaatlichkeit in den vergangenen drei Jahrzehnten auch in anderen EU-Staaten Schule gemacht habe. Verena Frick wandte dagegen ein, dass sich auch ein mehrheitsdemokratisches Modell, das sich hinter Manows Diagnose verberge, kritische Fragen zu seinem Ideologiegehalt gefallen lassen müsse. Dieses Modell sei zu historisieren und etwa darauf zu prüfen, was es ökonomischen oder politischen Machtkonzentrationen entgegenzusetzen hat. 

An diesem Punkt zeigte sich eine Spaltung unter den Teilnehmerinnen. Während etwa Manow und Jörke das Pendel zwischen Recht und Wahlen zu stark in Richtung Recht geschwungen sahen, gerade bei der EU, konnten sich andere nicht oder nur sehr bedingt in dieser Analyse finden. Für sie stand die Bundesrepublik – auch im Rahmen der EU – grundsätzlich weiterhin für eine überwiegend gelungene Balance von liberalen und demokratischen Elementen, auch wenn man über Reformen nachdenken könnte. 

Wie kann die bundesrepublikanische politische Ordnung demokratisch mit den heutigen Herausforderungen umgehen? 

Die Antworten auf die dritte Frage, wie die bundesrepublikanische politische Ordnung mit der Vielzahl heutiger Herausforderungen umgehen soll, waren recht heterogen. Allerdings setzten viele der Teilnehmerinnen etwa voraus, dass die Beschäftigung mit postliberalen Ideen durch das Finden von Antworten auf die neuen Herausforderungen innerhalb der bestehenden Ideen zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratie unnötig gemacht werden könnte. In diesem Sinne wurde die Neuartigkeit der Herausforderungen nicht in Frage gestellt, wohl gab es unterschiedliche Einschätzungen zum Grad der Neuartigkeit.   

Karsten Fischer berief sich zum Beispiel in seiner Verteidigung der liberalen Demokratie darauf, dass sie vielleicht eine schlechte Ideologie ist, aber die am wenigsten schlechte, die wir haben, insbesondere wenn man den Liberalismus richtigerweise als Liberalismus der Furcht verstehe. Technische Lösungen seien die einzige Hoffnung, die Klimakatastrophe zu vermeiden. Schrumpfung beziehungsweise Verzicht werde nicht gelingen. Er verwies auf „tribalistische Impulse“ als Gefahren, die liberale Demokratien heute bedrohen. Unklar blieb, warum diese „Impulse“ gerade jetzt durchschlagen. Jörke stellte die gegenwärtigen Herausforderungen in den Zusammenhang von zunehmender Ungleichheit oder gar Oligarchisierung der Demokratie und plädierte dafür, weniger (Markt-)Liberalismus zu wagen um gewisse demokratische Kernelemente zu erhalten, u.a. durch Kapitalmarkt- und Mietmarktreformen. 

Andere Vorschläge zielten darauf ab, der politischen Kultur neues Leben einzuhauchen durch republikanisch unterlegte Ideen wie etwa einer Dienstpflicht, die laute Tine Stein Resilienz und demokratische Selbstwirksamkeit fördern würde. Eine Kritik hieran lautete, dass diese Vorschläge geringe Erfolgsaussichten haben, da sie versuchen, Themen wie Bindung oder Heimat, zu denen die Rechte traditionell stark ist, links zu besetzen. 

Das Gespenst des Postliberalismus? 

Relativ wenig wurde über den Postliberalismus selbst gesprochen. Zuweilen tauchte Postliberalismus als die neue Selbstvermarktung von antiliberalem oder illiberalem Rechtsaußen auf. Veith Selk unternahm den Versuch zu klären, ob es neben den rückwärtsgewandten anti-liberalen Elementen im postliberalen Denken auch Material gibt, an dem – im Modus der frühen Kritischen Theorie – für progressive Theoretiker „Funken zu schlagen“ seien.   

Dabei ergab sich, dass ein progressiver Postliberalismus gegenwärtig nicht im Angebot ist. Allerdings sahen auch nur wenige Teilnehmerinnen Bedarf dafür. Mehr Fürsprecher hatte die Ansicht, dass der Versuch konservativer Kreise mit dem Begriff Postliberalismus Aufmerksamkeit zu erzeugen, vielleicht besser ins Leere zu laufen lassen sei. Allerdings, wie Tobias Adler-Bartels und Julian Nicolai Hofmann herausstellten, bieten die Diskurse zu Postliberalismus die Gelegenheit, konservative und reaktionäre politische Theorien, die zuletzt fachintern vernachlässigt worden seien, in den Fokus zu nehmen.  

Vielleicht war das Gespenst, das die Tagung wirklich heimsuchte, nicht der nur sehr bedingt „real existierende“ Postliberalismus, sondern eher die Frage, ob eine erstrebenswerte demokratische Ordnung ohne expliziten Verweis auf liberale Elemente gelingen könnte. Diese Frage war im Titel der Veranstaltung („Demokratischer Postliberalismus“) bereits angelegt, kam allerdings vor allem indirekt, durch Abwehrreaktionen, zur Sprache.  

Was offen blieb, war unter anderem, wie umfassend der Abschied vom Liberalismus im Postliberalismus wäre bzw. welche Elemente der liberalen Demokratie dort weiterbestehen könnten. Eine andere Frage, die in einigen Argumenten implizit war, aber nicht adressiert wurde, war, ob nicht viele „linke“ politische Ideen sich außerhalb des Koordinatensystems des Liberalismus schwer platzieren könnten.  

Zusammenfassend nahm die Tagung Abstand von einem Abgesang auf den Liberalismus. Unter vielen, aber nicht allen Teilnehmerinnen bestand weiterhin die Hoffnung, dass von unterschiedlichen Liberalismen geprägte Verständnisse der Demokratie normativ und empirisch zu verteidigen sind, selbst wenn an der ein oder anderen Stelle gewisse exzessive Schwünge des Pendels in Richtung „Überliberalisierung“ zu korrigieren seien. 

Janosch Prinz, Assistant Professor in Social and Political Philosophy an der Maastricht University, forscht zu realistischer politischer Theorie und Demokratietheorie. Mit Manon Westphal und Enzo Rossi leitet er das von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Projekt „Contours of a Non-Oligarchic Democratic Future“.  

Ein Kommentar zu “Tagungsbericht: Vom Gespenst des Postliberalismus heimgesucht

  1. In einer liberalen Demokratie sollte auch der Bereich Nachlassplanung und Erbrecht unter liberalen, d.h. auch gemeinwohlorientierten Gesichtspunkten behandelt werden.

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