Ein Bedürfnis nach Neuanfang beschleicht uns dieser Tage auf zweifache Weise. Zum einen das Bedürfnis neu anzufangen, oder vielmehr: überhaupt erst einmal anfangen, drängende Dinge, dringendes Denken (wieder) in Bewegung zu setzen; zum anderen das Bedürfnis, einige Dinge und Denkweisen von ihrer rasanten Bahn auf das Schlechte, auf das Zuvermeidende abzulenken und die Dinge (wieder) zu einem Guten hin zu lenken. So formuliert, deutet sich in dem Bedürfnis, Dinge neu anzufangen, das zarte, aber fruchtbare Band einer noch unbestimmten Verknüpfung an: Anfangen, Bewegen, Lenken und Regieren gehören begrifflich und empirisch zusammen. Inwiefern aber sind das Anfangen und der Anfang von etwas mit Bewegung und Veränderungen verbunden? Wie lassen sich Lenken und Regieren in Bezug zur Bewegung – sowohl zum In-Bewegung-Setzen als auch zum Lenken von Bewegung – verstehen? Und schließlich: wie lassen sich Anfangen und Regieren zusammendenken?
Der Beitrag versucht einige wichtige Dimensionen der begrifflichen Verbindungen von Anfangen, Regieren und Bewegung zu beleuchten, um sie für eine systematische Diskussion von (Neu)Anfängen in der politischen Theorie und Philosophie aufzubereiten. Dazu erweist sich zunächst ein Rückgriff auf die Begriffsbestimmung von „Anfang“ bei Aristoteles als hilfreich. Interessanterweise sind sowohl bei Aristoteles, aber auch bei Foucault, wie in einem zweiten Schritt aufgezeigt werden soll, Anfangen, Regierung und Bewegung verbunden. Indem Aristoteles‘ begriffliche Bestimmung mit Foucaults historischer Analyse von Regierung und Regierungskunst zusammengeführt wird, kann schließlich ein Fragenkatalog für eine mögliche politische Theorie des Anfangens als Theorie der Regierungskunst gewonnen werden.
Aristoteles und die griechische archē
Im fünften Buch der Metaphysik, das eine Zusammenstellung (‚Lexikon‘) philosophischer Grundbegriffe darstellt, gibt uns Aristoteles gleich zu Beginn eine Bestimmung der Verwendungsweisen des Wortes archē (αρχή). Archē wird häufig mit ‚Prinzip‘, ‚Anfang‘ und ‚Herrschaft‘ übersetzt. Aristoteles‘ begriffliche Bestimmung ist demgegenüber jedoch deutlich ausdifferenzierter, so listet er sieben Verwendungsweisen (Metaphysik V.1, 1012b34–1013a16, hier in leicht veränderter Reihenfolge wiedergegeben):
- archē als Anfang(spunkt) einer Bewegung
- archē als der am besten geeignete Anfang einer Bewegung oder Tätigkeit
- archē als immanenter Anfang der Entstehung eines Dinges (z. B. der Kiel eines Schiffs)
- archē als externaler Anfang der Entstehung eines Dinges (z. B. die Eltern des Kindes)
- archē als Ausgang und Anhaltspunkt einer Gegenstandserkenntnis (so bspw. die Ursachen einer Bewegung)
- archē als Kunst, die andere Künste anleitet
- archē als Regierung, wortwörtlich als „das Prinzip […], nach dessen Entschlusse das Bewegte sich bewegt und das Sich-Verändernde sich verändert“
Allen Verwendungsweisen gemein ist, so sagt Aristoteles, die begriffliche Struktur, ein „Erstes“ zu sein – ein Erstes einer Bewegung, des Werdens eines Gegenstandes, der Künste, der Erkenntnis, einer staatlichen Gemeinschaft. Bei genauer Hinsicht ist das Erste-Sein, der Anfang, die Regierung von einem inhärenten Bezug zu Bewegung und Werden gekennzeichnet: Anfänge sind Anfänge von Bewegungen und Veränderungen. Und in diesem Sinne meint Regieren, die Bewegungen der Bürger:innen der Gemeinschaft zu steuern, insofern sie nämlich stets als Lebewesen und Handelnde in Bewegung und auf dem Weg sind.
Vor diesem begrifflichen Hintergrund können wir das „Neuanfangen“ in der Demokratie, nach dem gefragt ist, in einer ersten Annäherung bestimmen als das Auf-den-Weg-bringen eines Werdens oder einer Bewegung, als Initiative, bestehende Bewegungen, im phänomenologischen wie sozialen und politischen Sinne, umzulenken, anzuweisen, abzuwenden. All dies sind zugleich Momente der Bewegung und der Regierung als Initiierung und Lenkung von Bewegung. Wie ist das zu verstehen? Zwei Beispiele: Viele emanzipatorische Bestrebungen haben Veränderungen in Richtung Freiheit und Gleichheit auf den Weg gebracht. Den Klimawandel zu mildern, soweit noch möglich abzuwenden, heißt genau das: die Herkünfte und Faktoren seiner inhärenten globalen Veränderungsbewegung zu lenken, zu regieren. Und wenn wir auf die zweite Verwendungsweise von archē schauen, so meint Anfangen und Regieren und das Regieren als Anfangen auch die Wahl der im Lichte des Ziels besten Start- und Einsatzpunkte. Umgekehrt ließe sich die Regierung von (sozialen, natürlichen, soziomateriellen) Bewegungen in ihrer Fähigkeit evaluieren, geeignete und normativ gerechtfertigte Anfänge als Einsatzpunkte einer Bewegung auszuwählen und zu realisieren. Das führt uns auf das Terrain der politischen Regierungskunst.
Foucault und die Kunst des Regierens
Michel Foucault hat in seinen Texten und Vorlesungen zur Regierung der Menschen als Machttypus einen Bezug von Regieren und Bewegung herausgearbeitet – ohne freilich auf den Begriff der archē bei Aristoteles Bezug zu nehmen. Foucaults historische Analyse der Leitlinien von Regierungskunst kommt aber zu einer ähnlichen Verknüpfung von Regierung und Bewegung, wie sie in der politischen Verwendungsweise von archē bereits angezeigt ist. Das hebräische Pastorat, das Foucault als Vorläufer der modernen Regierung identifiziert, ist nämlich nicht die Lenkung des Individuums als Subjekt und Substanz, wie häufig in der Foucault-Rezeption einseitig dargestellt, sondern vielmehr die Lenkung, Führung und Anleitung einer „Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung, die sie von einem Punkt zum anderen laufen läßt.“ (Foucault 2006: 188; Herv. L. B.) Entsprechend zielen die Künste der Regierung ab dem 17. Jahrhundert auch auf den Gesellschaftskörper in Bewegung: auf seinem Wachstum, seinem Schrumpfen, der internen Zirkulation seiner Elemente, den Menschen und den Waren. Der Regierung des bewegten und beweglichen Gesellschaftskörpers liegt wiederum eine „Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen“ voraus (Foucault 1990: 12). Die Regierung der Gesellschaft bedarf sozusagen einer Initialbewegung von und zur Regierung überhaupt, auf die sich Foucaults an die historische Analyse anschließende Kritik richtet.
Denn Foucault geht es einerseits um die historische Analyse dieser großen und kleinen Bewegungs- und Handlungslenkungen, andererseits genau um deren Kritik, die mit der europäischen Aufklärung um Kant und Mendelssohn im 18. Jahrhundert eine unübertroffene Prägnanz erfahren hat. Kritik hat hier die Form einer „moralische[n] und politische[n] Haltung, eine[r] Denkungsart“ angenommen, die Foucault „die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst [,] nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ nennt (Foucault 1990: 12). Als politische Haltung ist Kritik in diesem Verständnis eine Art Gegen-Bewegung, ein Gegen-Lenken und ein Ablenken der großen, sich stets aktualisierenden „Bewegung der Regierbarmachung“. Kritik als politische Analyse lässt sich so gesehen auch genealogisch verstehen als Untersuchung der Anfänge von Regierung und Herrschaft.
Die Kunst der Regierung der Neuanfänge
Wenn es nun also darum geht, über politische Neuanfänge oder Neuanfänge im Politischen nachzudenken und dieses Nachdenken anzuleiten, so hilft uns eine Zusammenführung der begrifflichen Bestimmungen von Aristoteles und der historischen Analyse und Kritik von Regierung von Foucault, einige wesentliche Fragen zu formulieren, die das (Neu)Anfangen als politische Praxis adressieren:
- Welche Subjekte, Objekte und Themen sollen (genau) in Bewegung gesetzt werden?
- Welche Prinzipien und Einsatzpunkte eignen sich und dienen am besten einem Neuanfang? Inwiefern und im Lichte welcher Normen, ist das, was angefangen werden soll, gerechtfertigt?
- Welche (sozialen, politischen, denkerischen) Bewegungen können im Neuanfangen aufgegriffen werden?
- Was soll (neu) werden? Was soll entstehen?
- Was bedingt die Erkenntnis der Notwendigkeit des Neuanfangs?
- Welche Künste, welche Techniken sollen für das Neuanfangen eingesetzt werden? Und von wem sollen welche Künste des Anfangens angewandt werden?
- Wer (oder was) regiert auf welche Weise das Neuanfangen?
Diese aus einer Synthese aus aristotelischer Begriffsbestimmung des Anfangs und foucaultscher Regierungskritik gewonnenen Fragen, könnten, so der Impuls dieses Beitrags, einige Leitfragen einer empirischen wie normativen Analyse der Agent:innen des Neuanfangens in einer Gesellschaft abstecken. Sie können aber überdies auch eine kritische Theorie der Kunst der Regierung von (Neu)Anfängen in Aussicht stellen, die sich von der folgenden grundlegenden Frage aufspannt: Wie kann eine gesellschaftliche Kunst der Regierung der Neuanfänge aussehen?
Lorina Buhr, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiter:in am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen. In ihrer Dissertation untersucht sie Kontinuitäten in den Machtbegriffen von Aristoteles, Hobbes und Foucault. Neben der Geschichte des politischen Denkens liegen ihre Forschungsschwerpunkte in der Ethik und politischen Theorie der digitalen Gesellschaft.
Vielen Dank für diesen wunderbaren und produktiven Aufschlag zur Debatte. Mir drängt sich bei der Lektüre die Frage auf, inwiefern dem Ethos (auch) des (Neu-) Anfangens eine Tendenz zur Entgrenzung dahingehend eingeschrieben ist, dass die ja auch gegebene Notwendigkeit des Endes, auf eine kaum merkliche Art und Weise, usurpiert wird. Oder anders: Inwiefern ist eine Kritik teleologischer Regierungsarten verstrickt in den Prozess einer allgemeinen und sinnfreien Ausdehnung von Regierung um der Regierung willen?
Die Frage ist natürlich fast bis zur Unverständlichkeit allgemein. Vielleicht haben Sie ja aber trotzdem die prägnante Idee einer Antwort.
Mit Aristotles gedacht ist jede Bewegung die Aktivierung eines zu einer Bewegung Vermögenden durch ein Aktivierendes. Realisierte Bewegung wiederum meint, dass etwas eine bestimmte Form, ein bestimmten Zustand annimmt. Die Form ist das Ziel, das Ziel ist die Form. Dabei bedarf die Formannahme (die ‚Konstitution‘ eines Dings) permanenter Aktivierung – es sei denn das Ding ist Gott. Aristoteles unterscheidet zwei Formen von Bewegung (manche sagen er unterscheidet zwischen reinen Bewegung und Tätigkeiten): eine Bewegung hat entweder das Ziel in der Bewegung selbst (das wäre z. B. das Denken, das Sehen) oder in der Herstellung eines Werkes, eines Guts (das wäre eine herstellende Bewegung). Emanzipatorische Bewegung könnte man so gesehen als herstellende Bewegung verstehen: sie streben nach Errichtung neuer Formen, besseren Formen der Subjektivierung und des gesellschaftlichen Zusammenseins.
Mit Kant/Foucault ist Kritik die Arbeit an Formen: Formen der Dinge, der Konstituierung von Dingen, der Gegenwart; und Kritik ist Arbeit an den Bewegungen, die zu den Formen des Wissens und den Beziehungsweisen in einer Gesellschaft führen. Aus der Perspektive einer (sozialen) Bewegungslogik kann es daher keine „Tendenz zur Entgrenzung…des Endes“ geben, Bewegungen hören auf zu existieren, wenn sie den Bezug zu einer Form, zu einem Ziel verlieren. Und Regierung hört auf zu existieren, wenn ihr Gegenstand, die Bewegungen der Menschen, des Lebendigen und des Warenverkehrs, zum Erliegen kommen.
Das vielleicht könnte man die Dialektik der Regierung nennen: Dehnt sich und intensiviert sich Regierung zu einer „Regierung um der Regierung willen“, verhindert sie die freie Bewegung der Regierten, anstelle ihre Bewegungen zu steuern und zu lenken. Mit dem Stillstand der Regierten aber hört auch die Regierung auf zu sein – sie ist dann nur noch Gewalt.
Gewalt und Anfang. Denn in dem Stillstand schlummert zugleich die Möglichkeit, Bewegungen neu anzufangen, neue Formen anzustreben.