Die Sozialphilosophie und die Rede vom Neuanfang in Corona-Zeiten. Form und Risiko eines reizvollen Versprechens

Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht;
das
Samenkorn muß in die Erde versenkt werden und in der
Finsternis sterben, damit die schönere Lichtgestalt
sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte
(F. W. J. Schelling).

In Krisenzeiten wie den heutigen ist immer mehr die sozialphilosophische Rede von strukturellen Wendepunkten zu beobachten. Weil die Kontingenz des Bestehenden in solchen bewegenden Zeiten besonders hervortritt, werden Ideen von Normalität enttäuscht und stehen stattdessen neue Überlegungen zu einer anders gestalteten Zukunft auf der Tagesordnung. Angesichts dieser Ungewissheit verspricht die Idee des „Neuanfangs“ eine Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was die Idee des Neuanfangs im Rahmen der Sozialphilosophie bedeutet und welche Konsequenzen sie für die gegenwärtige Situation hat. Besonders interessant erscheint heute die Idee des Neuanfangs im Kontext der Coronakrise, insofern sie den Beginn einer neuen Zeit ankündigt, die, wie bei Schelling, dialektisch als „Geburt aus Dunkel ans Licht“ vorkommt [I]. Diese Neuanfangsdiagnose sagt aber nicht nur viel darüber aus, wie die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft intellektuell verankert ist, sondern auch, wie Sozialphilosoph*innen solche Umstände bewerten und wie sie sich selbst darin miteinbeziehen. Die Rede vom Neuanfang kennzeichnet also nicht nur die Epoche, sondern auch denjenigen, der sie anspricht [II]. Im Lichte dieser Überlegungen werden die Schwierigkeiten, mit denen der Diskurs über den Neuanfang zu tun hat, ebenso deutlich. Während er zuerst mit dem Risiko einer Art voluntaristischer Beobachtung der Gesellschaft konfrontiert ist, kann er zweitens gleichsam auf einen narzisstischen Gestus stoßen, der die Neuanfangsdiagnose durch die eigene intellektuelle Größe affiziert [III]. Nach der Thematisierung solcher Risiken, die oft mit der Rede vom Neuanfang in der Sozialphilosophie verbunden sind – d.h. voluntaristische bzw. narzisstische Elemente – werden am Ende einige Überlegungen zu einem konstruktiven Umgang mit der Idee des Neuanfangs in Corona-Zeiten aufgestellt [IV].

I. Die Dialektik der Neuanfangsdiagnose

Die Frage nach dem Neuanfang ist immer dialektisch zu verstehen: kein Neuanfang ohne ein vorheriges, oft dramatisches Ende. Die Coronakrise hat diese Erkenntnis wieder in Erinnerung gebracht. Wahrscheinlich seit Francis Fukuyamas berühmtem Werk „Das Ende der Geschichte“, das vom Untergang der Sowjetunion und dem Anfang einer unbestreitbaren Verschränkung von Demokratie und marktwirtschaftlich basiertem Liberalismus erzählt, ist der Diskurs über solche Trennungslinien, die die Geschichte in ein „vorher“ (altes) und ein „nachher“ (neues) separieren, nicht so prägnant gewesen. Aktuell spricht ein großer Teil der Sozialphilosoph*innen – sowie der Bürger*innen – von einem Neuanfang der Weltgesellschaft. „Am Ende“ sei in diesem Fall, wie der slowenische Sozialphilosoph Slavoj Žižek pointierte, das kapitalistische System, das nun vom Coronavirus einen schweren Schlag – einen „Kill-Bill“-Schlag – bekommen hat und aufgrund globaler Zusammenarbeit zu neuen Formen des Zusammenlebens, ja zu einem Neuanfang, kommen könnte. Die dialektische Bewegung ist natürlich auch dabei zu spüren: „Vielleicht verbreitet sich [in der Coronakrise] ein anderes, ideologisches und viel nützlicheres Virus: […] das Virus des Denkens einer alternativen Gesellschaft, einer Gesellschaft jenseits des Nationalstaates, einer Gesellschaft, die sich in Form von Solidarität und globaler Zusammenarbeit aktualisiert“, so Žižek. Die Hoffnung liegt im Unbekannten, dessen Kontingenz anzieht und Sozialphilosoph*innen sogar in eine Art voluntaristische Versuchung bringen kann, weit über eine nüchterne Analyse der gegebenen Umstände hinauszugehen. Die Faszination für eine andere Welt lässt sich somit nicht nur durch die Möglichkeiten erklären, die sich aus den Krisen ergeben, sondern auch durch die Perspektive der Beobachter*innen auf solche Krisenzeiten. Insofern bezieht die Rede immer auch den Redner mit ein.

II. Die Eigenliebe der Neuanfangs-Diagnostiker*in

Anstatt bloß bei der Neuanfangsdiagnose zu bleiben, ist es ratsam, die Diagnostiker*innen ebenso in Betracht zu ziehen, insofern solche Beobachtungen nicht vom Himmel fallen, sondern von Sozialphilosoph*innen gemacht werden. Was sagt also die Rede vom Neuanfang über die Neuanfang-Diagnostiker*in? Und wieso ist es wichtig, dieser Frage nachzugehen, um über die Idee des Neuanfangs zu reflektieren? Betrachtet man die Geschichte des sozialphilosophischen Denkens, wird deutlich, wie gleichsam besessen es von der Rede des Neuanfangs gewesen ist. Dabei geht es nicht nur darum, dass bestimmte Trennungslinien zwischen alten und neuen gesellschaftlichen Epochen eingezogen werden, sondern auch darum, dass sich Sozialphilosoph*innen selbst als Neuanfänger*innen angesehen haben. Richard Rorty hat in „Contingency, Irony and Solidarity“ darauf hingewiesen, wie sich verschiedene Denker*innen als wahre Neuvertreter*innen der (sozial)philosophischen Tradition betrachteten. Während sich Hegel laut Rorty als den neuen (Sozial)Philosophen im Gegensatz zum veralteten Kant sah, tat Nietzsche dasselbe bezüglich Hegel, Heidegger bezüglich Nietzsche und Derrida bezüglich Heidegger. Die Anziehungskraft des Neuanfangs kennt kein Ende. Die Entwicklung der eigenen (sozial)philosophischen Identität, die bei jedem Neuanfangsanspruch erkennbar wird, ist demnach nicht nur dadurch zu gewinnen, dass sich auf bestimmte Traditionen berufen wird, sondern auch dadurch, dass „sich“ laut Wolf Lepenies „von bestimmten Traditionsbeständen“ distanziert bzw. dass das Ende der vorherigen sozialphilosophischen Geschichte angekündigt wird. Dabei geht es um ein grundlegendes Charakteristikum der (Sozial)Philosophie, eine Art intellektuell narzisstischen Gestus, der sich, wie ein Virus, überall auszubreiten scheint. Dieser narzisstische Gestus hat weniger mit einem psychologischen Element und mehr mit der selbstreferentiellen Art und Weise zu tun, mit der die (Sozial)Philosoph*innen normalerweise vorgehen. Er besteht in jener Perspektive, die die Disziplingeschichte in ein Altes und ein Neues separiert und sich selbst der richtigen, erneuernden Seite jener Trennungslinie zuordnet, um von diesem Standpunkt aus den angeblich „richtigen Neuanfang“ endgültig zum Ausdruck zu bringen.

III. Das doppelte Risiko der Rede vom Neuanfang

Sei es in Bezug auf die Diagnose (Husserls Noema) oder die agierende Diagnostiker*in (Husserls Noesis), die Semantik des Neuanfangs ist so anziehend wie risikovoll. Einerseits erweist sich die Corona-Krisendiagnose, begriffen gleichzeitig als mögliches Ende des Kapitalismus und gesellschaftlicher Neuanfang, als umstritten – wenn nicht sogar als voluntaristisch. Die von Žižek geteilte, alte Hoffnung auf den Widerspruchszauber, d.h. auf die alte schöpferische Kraft der Dialektik, ist nicht ohne mögliche Risiken zu konzipieren. Wie ein anderer Fan dialektischer Bewegungen, nämlich Karl Marx, behauptet, wird die Dynamik komplex, wenn das kapitalistische System im Fokus steht. Laut Marx ist letzteres nicht nur eine Art sachliche Gewalt über die Menschen. Es ist ebenfalls eine Realität mit der besonderen Fähigkeit, sich angesichts jeder Krise neu zu erfinden und zu behaupten. Gegenüber Katastrophenszenarien erzeugt der Kapitalismus jedes Mal neue Waffen der Resilienz. In diesem Rahmen kann Žižeks Neuanfangsdiagnose Gefahr laufen, in eine Art voluntaristische Prognose zu münden – so wie auch Byung-Chul Han behauptet –, die weit über eine nüchterne Analyse des gesellschaftlichen Zustandes hinausgeht, um eigene Wünsche über das Ende des Kapitalismus als „objektive“ Feststellungen zu verkaufen. Andererseits erweisen sich die aus der Sozialphilosophie stammenden Neuanfangs-Diagnostiker*innen in der Coronakrise oft als besessen von dem geschilderten narzisstischen Gedankengang, der den reinen Gegenstand durch die eigene intellektuelle Größe zu blenden riskiert. In dieser Perspektive wird z.B. der Fallibilismus, der auf die Fehlbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis verweist, für ein Prinzip gehalten, das wirkt, doch bloß im Diskurs. Dabei wird also übersehen, dass der Grundfehler der Sozialphilosophie eben in einem unerfüllbaren Anspruch besteht, nämlich jedes Mal eine Art endgültige Sozialphilosophie entwickeln zu wollen, als ob dabei endlich, wie Friedrich Tenbruck behauptet, die „richtigen Argumente und Theorien” über die (Neuanfangs)Zeit doch triumphieren könnten. Die Eigenliebe, das sieht man schon bei Narziss in der griechischen Mythologie, kann täuschen und problematisch werden – sie kann einem dadurch zur Überzeugung bringen, dass man selbst an einem historischen Wendepunkt steht, nämlich auf der „richtigen Seite“ der „wahren Trennungslinie“, ohne den narzisstischen Geist zu bemerken, der zu dieser Diagnose geführt hat.

IV. Schluss mit dem Neuanfang?: nein, aber mit Vorsicht und vor allem als Praxis!

Aus der vorherigen Analyse von Form und Risiken der sozialphilosophischen Rede vom Neuanfang nach dem Coronavirus ergibt sich eine letzte Reflexion. Zwar impliziert diese Rede eine doppelte Gefahr, die in dem beschriebenen theoretischen Voluntarismus bzw. dem narzisstischen Gestus besteht. Nichtsdestotrotz heißt dieser zweidimensionale Ruf nach Vorsicht nicht, dass diese Idee des Neuanfangs als solche lieber ausgeschaltet werden sollte – ganz im Gegenteil. Diese Überlegungen streben vielmehr danach, aufzuzeigen, wie die Idee des Neuanfangs angesichts ihrer Risiken konstruktiver wirken kann. Letztere könnte bzw. sollte darum mit einem Auge auf die erwähnten Schwierigkeiten entfaltet werden, um im Geiste einer nüchternen, fallibilistischen Kritik und Intervention neuen Schwung zu gewinnen. Insofern impliziert der Neuanfang immer eine tätige Negation des Bestehenden – daher das neu des Neuanfangs. Aus diesem Grund besteht die Herausforderung darin, solche voluntaristischen bzw. narzisstischen Elemente, mit der die Sozialphilosophie oft zu tun hat, unter Kontrolle zu bringen, um aktive Kritik und praktische Intervention auszuüben, aus denen eine neue gesellschaftliche Ära, d.h. heute ein Neuanfang nach der Coronakrise, mit Merkmalen einer konkreten Utopie – a là Blochmitkreiert werden kann. Der Sozialphilosoph Max Horkheimer hat diese Perspektive nicht umsonst als inneres Motiv der Kritischen Theorie definiert und in einem Satz zusammengefasst: „Worin besteht aber der Optimismus, den ich mit Adorno (…) teile? Darin, daß man versuchen muß, trotz alledem das zu tun und durchzusetzen, was man für das Wahre und Gute hält. Und so war unser Grundsatz: theoretischer Pessimist zu sein und praktischer Optimist“. Alles im allen geht es hierbei letztendlich darum, theoretischen Pessimismus bzw. theoretische Bescheidenheit zu entfalten, um jedem narzisstischen Voluntarismus zu entgehen und auf dessen theoretisch realem Grund praktischen Optimismus für den Versuch einer aktiven Errichtung einer besseren Welt auszuüben. Es kommt also darauf an, ebenso nah dem Motto von Rortys Idee einer Politik durch Kampagnen, weniger von einer angeblich erkennbaren neuen Ära zu reden und mehr an der Entwicklung eines solchen Zustandes konkret mitzuwirken. Vielleicht wird man dadurch am Ende bzw. a posteriori feststellen können, wie aus solchen praktischen Tätigkeiten in der Tat eine neue Epoche zustande kam.

 

Rafael Alvear ist Postdoktorand in Soziologie an der Universität Adolfo Ibáñez (Chile). Er ist Forschungsstipendiat der »CONICYT« (Chilean National Comission for Scientific and Technological Research), arbeitet zu gesellschaftlichen Krisen und ist Mitherausgeber der Zeitschrift »Cuadernos de teoría social«.

Ein Kommentar zu “Die Sozialphilosophie und die Rede vom Neuanfang in Corona-Zeiten. Form und Risiko eines reizvollen Versprechens

  1. Zurecht wirft der Beitrag die Frage nach dem Ertrag einer Theorie des Neuen auf, bevor dieses in Erscheinung getreten ist. Die Analyse eines narzisstischen Gestus (wie könnte das anders als psychologisierend zu verstehen sein?) überzeugt mich aber nicht wirklich. Die Eigenliebe der Theoretiker*in stellt doch per se kein theoretisches Problem dar, sondern kann bei ziemlich allem als Motivationsgrund angegeben werden. Ist es nicht ebenso ein Zeichen der amour propre, alles so bleiben lassen zu wollen, wie es ist, wenn man sich am Status Quo erfreut bzw. von diesem profitiert?
    Bleibt die fast jansenistisch daherkommende Kritik an der Eigenliebe so nicht etwas zu allgemein? Weitere Ausführungen wären interessant! Denn das Fazit von und mit Horkheimer kann man ja ganz unabhängig von der Narzissmuskritik sehen, oder?

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