Chantal Mouffe tritt immer wieder als Fürsprecherin eines „linken Populismus“ und als Stichwortgeberin linker Parteien und Bewegungen wie Podemos, Momentum und La France Insoumise in Erscheinung. In Interviews und Texten bietet sie ebenso griffige wie radikal anmutende Erklärungen, die aktuelle Reizthemen vor allem der linken politischen Diskussion verbinden: Neoliberalismus, Postdemokratie, Aufstieg der Rechten, Krise der Sozialdemokratie und linke Strategie. In ihrem jüngsten Buch For a Left Populism, das soeben auch auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist, wiederholt sie nun ihr Plädoyer für einen populistischen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere.
Noch stärker als in den letzten Jahren beansprucht Mouffe, gestützt auf ihre antagonistische Demokratietheorie, in die öffentliche Diskussion zu intervenieren. Das trifft insofern zu, als sie den Niedergang der Sozialdemokratie zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nimmt. Und was könnte etwa angesichts des langwierigen Verfalls der SPD plausibler sein?
Mouffe entwickelt ihre politische Position schon länger im Verhältnis zur Sozialdemokratie: Bereits in ihrem frühen Opus Magnum Hegemony and Socialist Strategy (1985, gemeinsam mit Ernesto Laclau) plädierte sie für eine Radikalisierung der demokratischen „Werte“ Freiheit und Gleichheit, um sie mit Hilfe linker Parteien auf Herrschaftsformen jenseits des Klassenverhältnisses auszudehnen. An dieser Idee hat Mouffe laut eigenem Bekunden selbst dann noch festgehalten, als in den neunziger Jahren viele sozialdemokratische Parteien einen konsensorientierten und wirtschaftsliberalen Schwenk vollzogen. Anthony Giddens, Tony Blair und Gerhard Schröder prägten für diese vorgebliche Alternative zum Neoliberalismus wie zur alten, etatistischen Sozialdemokratie den Titel „Dritter Weg“. Mouffe hingegen erkennt darin rückblickend gerade das Ende wirklicher linker Alternativen.
Mit der Aufgabe des polarisierenden Gegensatzes von „rechts“ und „links“ habe die Sozialdemokratie sich unwiederbringlich in eine Hegemonie neoliberaler Globalisierung eingefügt. Eine politische Polarisierung, durch die überhaupt erst wieder über mögliche Gegenentwürfe zu diesem „post-political consensus“ (S. 5) gesprochen werden könnte, sei von ihr mittlerweile nicht mehr zu erwarten. Leisten könne dies nur noch ein gewissermaßen post-sozialdemokratischer, linker Populismus im Sinne des Corbyn’schen „For the many, not the few“, der wieder eine klare Grenze zwischen „we“ und „they“ zieht. Bevor Demokratie radikalisiert werden könne, müsse sie also erst einmal gegen die herrschende Hegemonie zurückerobert werden.
Beschränkung auf das Diskursive
Dieser Bruch klingt radikaler, als er ist. Zunächst macht Mouffe wie schon früher deutlich, dass sie letztlich die bestehenden liberaldemokratischen Institutionen beibehalten möchte und lediglich für etwas mehr Reform eintritt. Ihr politisches Anliegen ist vor allem, den Konsens von Mitte-links und Mitte-rechts aufzubrechen.
Schwerer wiegt für ihr politisches Plädoyer, dass ihre Theorie sich nach wie vor auf das Diskursive an der Politik beschränkt. Mouffe deutet in letzter Instanz sämtliche gesellschaftlichen Phänomene als hegemoniale Diskursformationen. Dahinter steht die für sich genommen richtige Erkenntnis, dass politische Identitäten, Strukturen und Prozesse auch diskursiv konstituiert sind. Darüber verlieren bei Mouffe allerdings spezifische Sphären wie der Staat oder die Ökonomie und gesellschaftliche Entwicklungen in ihnen ihre theoretische Relevanz. Politische Auseinandersetzungen beschreibt sie grundsätzlich als Konflikte um Subjektpositionen und Identitäten. Zwar unterstreicht sie erneut, dass ihr Diskursbegriff sich im Prinzip nicht auf „practice concerned exclusively with speech or writing“ beschränkt, sondern alle Praktiken umfasst, „in which signification and action, linguistic and affective components cannot be separated“ (S. 73). Ihre explizite politische Theorie fokussiert sich aber dennoch ausschließlich auf diskursive Strategien im Sinne von gesellschaftlich sinnproduzierenden, sprachlichen Äußerungen.
So sieht sie angesichts des Aufstiegs rechter Parteien und der Schwäche der Linken ihre alte These bestätigt, dass gegenwärtige linke Politik vor allem falsch gemacht werde. Sie sei zu konsensorientiert, verfolge essentialistische Politikverständnisse und vernachlässige die hegemonialen und affektiven Dimensionen. Da Politik aber nun einmal agonistisch funktioniere, brauche es einen (linken) Populismus, der wieder eine politische Polarisierung herstellen und den postpolitischen Stillstand aufbrechen könne.
Dieser auch an die Sozialdemokratie gerichtete Vorwurf, sie scheitere immer wieder an ihrer „inadequate conception of politics“ (S. 1), ist noch derselbe wie in Hegemony and Socialist Strategy. Lediglich Mouffes Forderungen verändern sich. Wollte sie früher marxistische und sozialdemokratische Parteien noch zu einem radikaldemokratischeren Politikverständnis bewegen, hält sie diese Mühe mittlerweile für vergebens und fordert einen „linken Populismus“. Aber warum eigentlich?
Um diesen Sinneswandel plausibel zu machen, bräuchte es eine konkrete Analyse gesellschaftlicher und politischer Veränderungen seit den 1990ern. Diese aber sucht man in For a left Populism vergebens. Stattdessen hat Mouffe hauptsächlich alte Thesen und Argumente neu angeordnet. Mitunter entsteht das Gefühl, die eine oder andere Passage schon einmal gelesen zu haben. Mouffe deutet mit Begriffen wie „populistischer Moment“, „Postdemokratie“ und „Oligarchie“ eine zugrundeliegende gesellschaftskritische Analyse an, die aber ausbleibt. Neu unter diesen Andeutungen ist die Vermutung, der Aufstieg eines „financial capitalism“ gegenüber der „productive economy“ (S. 18) verursache größere soziale Ungleichheiten. Das aber bleibt ähnlich unbestimmt wie einige neue Bezüge auf Spinoza hinsichtlich einer Theorie der politischen Affekte. Etwas ausdrücklicher gerät diesmal die antikapitalistische Positionierung. Mouffe spricht gar von der „social appropriation of the means of production“ (S. 44). Doch all das sind lose Enden, die sie weder weiterverfolgt, noch mit der eigentlich zentralen postmarxistischen Diskurstheorie in Verbindung bringt.
Kein Blick für gesellschaftliche Widersprüche
Mouffes politische Theorie, die sich nur für diskursive Verschiebungen in der Politik interessiert, bekommt strukturelle gesellschaftliche Veränderungen und Widersprüche, etwa im Parteiensystem, in der politischen Ökonomie oder in den Geschlechterverhältnissen, nicht schlüssig in den Blick. Zum Grundproblem aller sozialdemokratischen Politik etwa, zugleich eine erfolgreiche kapitalistische Nationalökonomie organisieren zu müssen und umverteilen zu wollen, gibt es bei ihr keine Überlegung.
Auch handfeste Interessenkonflikte, wie es sie etwa in der Migrationspolitik ja gibt, erscheinen nur als Ergebnisse diskursiver Artikulationen, die auch anders sein könnten. Diese zunächst gegebenen Bedingungen, mit denen linke wie rechte Politik umgehen müssen, spielen keine Rolle. Das scheint wesentlich für ihren „linken Populismus“. Vor diesem Hintergrund behauptet sie, hinter verkürzter Elitenkritik und rassistischen Schuldzuweisungen stecke letztlich ein „democratic nucleus“ (S. 22). So drückten die „xenophobic language“ gegenüber Immigrantinnen und Immigranten bei Teilen der Wählerschaft des Front National letztlich „their sentiment of being left behind and their desire for democratic recognition“ (S. 23) aus. Das müsste lediglich von links „artikuliert“, also aufgegriffen und diskursiv anders eingebunden werden, wie es etwa La France Insoumise vormache.
Mouffe fragt dabei nicht, warum xenophobe Artikulationen gerade so viel populärer sind als andere, woher diese Empfänglichkeit stammt. Zwar wirft sie der Linken vor, sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt zu haben. Aber die einschlägigen – auch psychoanalytisch begründeten – Forschungen über den politischen Autoritarismus, die etwa die Kritische Theorie seit den 1930er Jahren formuliert hat, finden bei ihr selbst mit keinem Wort Erwähnung.
Aufschlussreiche blinde Flecken
Aufschlussreich ist das schmale Buch nicht zuletzt wegen dieser blinden Flecken dennoch. Aus Perspektive der deutschen Diskussion um eine „linke Sammlungsbewegung“ zeigt es etwa einige interessante Verknüpfungen im Diskurs um den „linken Populismus“ auf. Auch Mouffe spricht davon, heute würden „working class demands“ zugunsten der Forderungen der „new movements“ (S. 59) vernachlässigt. Nur eine Umkehr dieser Entwicklung könne den rechten Populisten die Lufthoheit wieder abnehmen und eine neue linke Mehrheit inklusive enttäuschter Sozialdemokraten schaffen. Der Rahmen für linken Populismus sei dabei unfraglich der Nationalstaat. Dafür hält Mouffe die Parteiform, „patriotic identification“ (S. 71) und charismatische Führer für alternativlos. Das deutet an, welche strategischen Fragen sich etwa „aufstehen“ stellen könnten.
Auch die Erfahrungen der linken Populismen, die Mouffe selbst unterstützt, fließen nicht in ihre politische Intervention ein. An deren Problemen aber hätte sich ihr Konzept zu messen: Was bedeutet etwa Syrizas verlorener Kampf gegen die EU-Austerität? Welche Rolle spielen Antisemitismus und Antizionismus in Jeremy Corbyns Mobilisierungserfolgen? Mouffe konfrontiert ihre politischen Thesen nicht mit den empirischen Linkspopulismen – so können sie ihren Anschein von Radikalität bewahren, laufen aber ins Leere.
Felix Breuning promoviert an der Universität Lüneburg über Populismus und Autoritarismus. Eine gemeinsam mit Liza Mattutat geschriebene Kritik der Rezeption Carl Schmitts im Werk Chantal Mouffes ist im Sammelband Radikale Demokratie: Zum Staatsverständnis von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau (Nomos 2018) erschienen.
Danke 🙂
mit vollem Interessen gelesen!
Danke für den erhellenden Beitrag. Anmerkung zur Überschrift: Die Sozialdemokratie wird nicht vererbt, höchstens verschenkt.