Verschlingt der Föderalismus seine Kinder? Zur Gegenwart der US-Verfassung

Wer in der liberalen Echokammer – im persönlichen Twitterfeed oder in entsprechenden Blogs – verkehrt, kann die Auszählung der noch ausstehenden US-Wahlzettel fast in Echtzeit verfolgen: Bei 2,7 Millionen Vorsprung ist Hillary Clinton angelangt, keine Lappalie bei rund 124 Millionen abgegebener Wahlzettel. Hinter dieser Fixierung auf die Gesamtzahl der Stimmen steht nicht allein beleidigtes Verlierertum der Demokraten – oder der Wunsch, die kommenden vier Jahre trotzig unter dem Slogan „Nicht mein Präsident!“ durchzuprotestieren.

Denn so funktioniert nun einmal das föderale Wahlsystem, und auf diese Institution zielt dann auch die Kritik ab: Die Präsidentenkür durch Wahlmänner der Bundesstaaten beinhalte demokratietheoretisch kaum tragbare Verzerrungen, weil sie die Bürgerinnen und Bürger in drastisch unterschiedliche Machtpositionen versetzt. In den vergangenen Jahrzehnten oblag die Entscheidung darüber, wer Präsident wird, allein den Wählern in geographisch relativ konstant bleibenden Swing States. Seit der Verfassungsratifikation 1788 in Stein gemeißelt ist aber ein weiterer Verzerrungseffekt: kleine Staaten sind in der Anzahl der Wahlmänner stets im Vorteil, sehr große Staaten im Nachteil. Zwar gilt „one person, one vote“ – doch die Stimmen selbst haben unterschiedliches Gewicht. Fällt die Entscheidung mit der Stimmenmehrheit zusammen, erscheint dies unproblematisch, doch nun siegt zum vierten Male seit Gründung der Republik ein Kandidat, ohne die meisten Stimmen zu erhalten.

Ein Fehler im System? Ja, argumentiert so mancher Verfassungskenner: Im Wahlkolleg, noch extremer bekanntlich aber im Senat, wo die Staaten unabhängig von ihrer Größe mit zwei Repräsentanten vertreten sind, treibt der Föderalismus schädliche Blüten. Ursächlich für dieses Verfassungsdesign ist, so mehren sich derzeit wieder Stimmen, eine der hartnäckigsten US-amerikanischen Gepflogenheiten: die Privilegierung der weißen, einstmals sklavenhaltenden Landbevölkerung. In der föderalen Union, aus Sklavenhalterstaaten und „freien“ Staaten zusammengesetzt, haben erstere von Anfang an ihre Praxis dauerhaft sichern wollen – und zwar durch regionale Kompetenzen, aber auch den disproportionalen Einfluss in Senat wie in der Präsidentschaftswahl. Neu ist diese Beobachtung nicht: In den von Bürgerrechtskämpfen geprägten 1960ern beschloss der Theoretiker Willam Riker – sicher kein Moralist – sein Epoche machendes Buch „Federalism. Origin, Operation, Significance“ lakonisch: „Wer in den USA den Rassismus missbilligt, sollte auch den Föderalismus missbilligen.“

Die USA, der Geburtsort des modernen Verfassungsstaates und des modernen Föderalismus – ein Paradebeispiel für die Perversion föderaler Hoffnungen? In der Tat – die US-Verfassung, die als leuchtendes Vorbild viele moderne Verfassungstexte gerade großflächiger Staaten informiert hat, und die Federalist Papers feierten den Föderalismus als pragmatisches Werkzeug, höchste Ideale ins Werk zu setzen: In der „föderativen Republik“ gelte, so James Madison im 51. Artikel, „während alle Autorität von der Gemeinschaft ausgeht und von ihr abhängt, ist die Gemeinschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Klassen ihrer Bürger gespalten, dass die Rechte des einzelnen oder der Minderheit nur wenig von gezielten Interessenzusammenschlüssen der Mehrheit“ – den berüchtigten „Faktionen“- zu befürchten haben.“ Die staatenweise Ernennung von Wahlmännern diene ebenso dem Ziel der Machtverteilung und des gegenseitigen Ausgleiches – und dabei gar einem moralischen Ziel: „der moralischen Sicherheit, dass das Amt des Präsidenten niemals jemandem zufallen wird, der nicht in höchstem Maße mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet ist. Die Gabe zu niederem Ränkespiel und die mindere Kunst der Beliebtheit“ reichten nicht aus, um die Präsidentschaft zu erringen – dagegen baue das Wahlmännersystem vor.

Die machtballenden Effekte von Massenkommunikation über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg konnte Alexander Hamilton nicht voraussehen. Dennoch wirkt es fast bizarr, wie präzise das Menetekel, die Machtergreifung der Unwürdigen, nun eingetreten ist – und zwar nicht trotz der föderalen Machtkontrolle, sondern dank ihrer Aushebelung des Mehrheitswillens. Dass die Sicherung des Einflusses territorialer Minderheiten nicht vor dem Tyrannen schützt, sondern ihn nun entgegen dem Willen der Mehrheit inthronisiert, ist der Kritikpunkt vieler Liberaler: Nicht die politische Niederlage treibt sie an, sondern die Angst, die föderale US-Verfassung könne sich dank eines gut gemeinten Konstruktionsfehlers selbst demontieren, indem sie einem möglichen Verfassungsfeind den Steigbügel hält.

Was also tun? Korrigierbar wäre möglicherweise die Anzahl der Wahlmänner, wie ja auch die Einteilungen der Wahldistrikte in den USA laufenden Änderungen unterliegen. Die Verzerrungen auszugleichen wäre eine Variante, die problematischsten Effekte des föderalen Wahlmännerkollegs zu dämpfen. Eine vollkommene Abschaffung der Wahlmänner (wie sie im Moment 5 Millionen Unterzeichner einer Onlinepetition fordern), hieße, das Projekt der Machtkontrolle aufzugeben – und eine Lawine der Verunsicherung loszutreten. Die US-Verfassung hat keine Ewigkeitsklausel, dafür aber quasi-sakralen Status; ihre Aushebelung wäre riskant und könnte, als hochambitioniertes Langzeitprojekt, die Präsidentschaft Trump ohnehin nicht verhindern. In einem unwahrscheinlichen Szenario aber wären die Wahlmänner, wenn sie von ihrem freien Wahlrecht gemäß ihrem Gewissen Gebrauch machten, möglicherweise aber auch jetzt noch zur Machtkontrolle fähig. Das Wahlkolleg könnte im Fall der Fälle durchaus dem Tyrannen in letzter Minute noch die Präsidentschaft verwehren – auch wenn dies kein Verdienst des Föderalismus wäre, sondern der indirekten Abstimmung.

Wahrscheinlich aber ist der Antritt Trumps nicht mehr abzuwenden – versagt haben die meisten Akteure in der US-Öffentlichkeit: Rückgratlose Republikaner, zerstrittene Demokraten ohne Machtbasis auf regionaler Ebene, von Trump besessene Massenmedien – sie alle könnten dazu führen, dass sich die US-Verfassung in den nächsten vier Jahren selbst kannibalisiert, indem sie einen Feind ihrer Werte über nahezu alle checks and balances verfügen lässt.

Und doch: Vielleicht befindet sich der deus ex machina  bereits auf der Bühne, und zwar in der Maske des Schurken. Angesichts der immensen Macht der einzelnen Bundesstaaten könnte es gerade der Föderalismus sein, der den vielbeschworenen Geist der Verfassung durch die Ära Trump hindurch rettet. Schon jetzt wird viel gespendet für Bürgerrechtsgruppen auf regionaler Ebene, und es geht die Rede von einem demokratischen Tea Party Movement, das sich zuerst einmal um die Erlangung politischer Macht auf der Staatsebene bemüht. Die USA sind letztlich ein Megastaat der starken Staaten: Kalifornien hat bereits angekündigt, den Klimaschutz nun selbst in die Hand zu nehmen; und die großen Metropolen des Landes werden, als schützende „sanctuary cities“, den Deportationskommandos Trumps nicht zur Hand gehen. Die Präsidentschaft mag eine leichte Beute sein, das fragmentierte Land ist es nicht; Trump mag ein Faschist sein, aber die USA sind anders verfasst als Weimar.

 

5 Kommentare zu “Verschlingt der Föderalismus seine Kinder? Zur Gegenwart der US-Verfassung

  1. Liebe Eva,

    vielen Dank für diesen Beitrag zur polititktheoretischen Einordnung des aktuellen Geschehens in den USA. In zwei Hinsichten würde ich gerne noch einmal nachhaken:

    (1) Deine Gesamteinschätzung des electoral college wird mir nicht ganz klar. Ist dieses nun ein Instrument zur Sicherung einer kleinen, vermeintlich überlegenen Elite – „the medium of a chosen body of citizens, whose wisdom may best discern the true interest of their country“ – oder doch eine eigentlich sinnvoller Mechanismus zum Schutz der Demokratie vor sich selbst?

    (2) Zum Ende hin habe ich das Gefühl, dass du einen Sprung machst, vom electoral college im Speziellen zum Föderalismus im Allgemeinen. Aber hängt das denn wirklich so eng zusammen? Kann man nicht gleichzeitig das electoral college kritisieren und auf die Widerständigkeit der Bundesstaaten hoffen?

  2. Lieber Daniel,
    danke für den schnellen Kommentar!
    Meine Kompaktantwort wäre, in beiderlei Hinsicht: Genau das ist der Punkt, die Ambivalenz des Kollegs wie auch die Vielgestaltigkeit des Föderalen in den USA.
    Ich würde nicht soweit gehen, das electoral college allein als Elitenstatusinstrument zu sehen, aber auf jeden Fall war eine (unter mehreren) motivierenden Ideen die Festschreibung und Absicherung bestimmter Interessen auch gegen den Willen der demokratischen Mehrheit (daher ja die Rede von Republik statt Demokratie in den zeitgenössischen Schriften); gleichzeitig soll ja aber die ausbalancierte Republik vor der ungebremsten Demokratie geschützt werden, also vor einer fehlgeleiteten Meinung der Massen. Das electoral college ist unter anderem (aber nicht nur) aufgrund dieser föderalen Festschreibung regionaler Interessen problematisch, zumindest wenn man demokratietheoretisch den Willen der Mehrheit priorisiert, hier zeigt sich also ein durchaus antidemokratischer Effekt des Föderalen. Gleichzeitig – dies ist aber eine völlig andere Dimension des Föderalismus! – kann á la Tocqueville auch gegen die Tyrannei lokal angearbeitet werden, auch dies stellt die US-Verfassung sicher. Also: ja, kritisieren und hoffen geht meines Erachtens parallel, sofern man in Rechnung stellt, auf wie vielerlei und oft widersprüchliche Weise föderale Elemente das US-System durchdringen (mehr als zB. in Deutschland, würde ich sagen).
    Ob das jetzt den republikanischen Spirit über die nächsten Jahre hieven kann, weiß ich nicht, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt – und es ist, finde ich, eine politisch wichtige Erkenntnis, dass in einem System wie den USA Widerstand eben nicht nur über national organisierte Proteste laufen sollte, sondern dass die Leute mehr Energie in die Lokalpolitik investieren sollten!

  3. Eine interessante Betrachtung, die ich um ein paar Bemerkungen ergänzen möchte. Zum ersten: ist nicht das Mehrheitswahlrecht das viel größere Problem gegenüber dem Föderalismus? Wenn die Wahlmänner der Bundesstaaten proportional zu den Stimmenanteilen verteilt würden, würde sich die Kandidatin mit der größeren popular vote durchsetzen, ohne dass ein zentraler Mechanismus des federalism gekippt würde (was nie passieren wird, weil alle kleineren Staaten einer entsprechenden Verfassungsänderung niemals zustimmen würden) und das Problem der swing states wäre ebenso erledigt. Das Mehrheitsprinzip ist ja auch ein Motor des gerrymandering und verhindert effektiv die Abwahl inzwischen hunderter Sitze im Kongress, die quasi fest gebucht sind – ein demokratischer Hohn.
    Historisch halte ich es nicht für ganz so einfach Sklaverei und Rassismus mit federalism gleich zu setzen, auch wenn states rights sich zweifellos zum Schlachtruf der Verteidiger der Sklaverei und von Jim Crow entwickelte. Die Bundesstaaten und ihre Verfassungen sind aber andererseits, wie Horst Dippel argumentiert hat, stets eminent wichtige politische Versuchslabore gewesen, in denen Experimente und Entwicklungen möglich waren, die der quasi-religiöse nationale Verfassungskult nicht zuließ. Die meisten grundlegenden progressiven Reformen kamen vom bundesstaatlichen „unten,“ nicht dem nationalstaatlichen oben, ob Wahlrechtserweiterungen für Besitzlose oder das Frauenwahlrecht oder auch Sozialgesetzgebung (etwa im lange progressiven Wisconsin).
    Letztlich bezweifle ich als Ideengeschichtler, dass strukturelle Reformen das Problem eines in die DNA der Nation eingeschriebenen Rassismus lösen können – das bedürfte eines grundlegenden Wandels der, mit Tocqueville gesprochen, „moeurs“ weißer Amerikaner und den damit einhergehenden Verzicht auf grundlegende Privilegien, die als solche nicht einmal wahrgenommen werden. Nicht minder schwierig wäre das Anerkennen der USA als kapitalistische Klassengesellschaft – dass liberale weiße Eliten ihre progressive Haltung lieber über eine „kostenfreie“ Solidarisierung mit Black Lives Matter und Transgenderaktivismus repräsentieren als über eine selbstkritsche Reflexion ihrer Klassenprivilegien gegenüber einem rein zahlenmäßig mehrheitlich weißen post-industriellen Prekariat innerhalb der neoliberalen Ordnung ist sicherlich ein wesentlicher Faktor, der zur Trumps Wahlsieg beigetragen hat, wie Zizek und andere argumentiert haben. Und vielleicht hängen diese Probleme sogar miteinander zusammen. James Baldwin bemerkte schon vor vielen Jahren, dass Rassismus in den USA erst dann aufhören würde, wenn Weiße sich endlich mal vernünftig umeinander kümmern würden.

  4. Lieber Thomas Clark, vielen Dank für den anregenden Kommentar!
    In Bezug auf die ersten beiden Punkte gilt ein „Ja, aber“ – sicher, das Mehrheitswahlreicht ist ein, wenn nicht das Hauptproblem, aber in Kombination mit der föderalen Struktur gewinnt es an besonderer Sprengkraft, obwohl letztere ja wiederum genau dazu da ist, ersteres abzufedern. Auch für die, sagen wir, normativen Effekte des Föderalismus in den USA gilt die Ambivalenzdiagnose, die meiner Meinung nach auf das Strukturprinzip des Föderalen insgesamt übertragbar ist: Natürlich KANN der Föderalismus, wie dies von vielen emphatisch argumentiert wird, zu gerade rechtestärkenden Experimenten führen; dies ist in der US-Geschichte immer wieder passiert und wir erleben eben jetzt möglicherweise ein Revival dieses Effektes. Wahr ist aber auch, dass in der Gründungsphase durchaus die Föderalstruktur zur Aufrechterhaltung und sogar Stärkung von Sklavenhalterinteressen genutzt wurde. Das ist eben keine Gleichsetzung von Föderalismus mit Rassismus, sondern die Beschreibung eines möglichen Effektes unter den US-Bedingungen.
    Die moeurs sind natürlich ein wichtiger Einwand und gefallen mir als Beschreibungskategorie deutlich besser als die problematische DNA-Metapher, die letztlich ja alle im Absatz vorher beschriebenen Fortschritte relativiert. Moeurs sind eben wandelbar, wenn auch langsam und durch die Praxis des Politischen. Bei allen apokalyptischen Diagnosen hat sich hier meines Erachtens doch einiges getan!

  5. || Natürlich KANN der Föderalismus, wie dies von vielen emphatisch argumentiert wird, zu gerade rechtestärkenden Experimenten führen; dies ist in der US-Geschichte immer wieder passiert und wir erleben eben jetzt möglicherweise ein Revival dieses Effektes. Wahr ist aber auch, dass in der Gründungsphase durchaus die Föderalstruktur zur Aufrechterhaltung und sogar Stärkung von Sklavenhalterinteressen genutzt wurde. ||

    Mit „wahr ist aber auch“ wird ein Gegensatz zwischen „Rechtestärkung“ und Sklavenhalterinteressen insinuiert, der sich historisch aber so nicht aufrechterhalten läßt: Die starke Föderalstellung von Bundesstaaten ist ja auch gerade darauf zurückzuführen, daß die Abschaffung der Sklaverei via Bundesgesetz mittels 150-facher Bestechung (u. z. T. Erpressung) erfolgte.
    Wie jede Singularspitze, sind solche Zentralgremien wie Kongress u. Senat höchst angreifbar & fragil, während die (Rück-) Verteilung von Macht & Herrschaft auf viele, hier 52 Staaten, zusätzlich zum Bund potentiellen Usurpatoren doch sehr viel mehr Arbeit macht.
    Weiters eignet sich die Trump/Clinton-Sache nicht für politik-/demokratietheoretische Überlegungen, – zumindest nicht hinsichtlich der Fragestellung „wie kam’s“ bezüglich der Formalaufteilungen u. -verfahren:
    Überrepräsentierte Staaten in der Elektoralversammlung standen Clinton genauso zur „Bearbeitung“ zur Verfügung wie Trump. Daß Clinton daran vorbeiging, ist ihr großer taktischer Fehler, – aber eben taktische Ebene, nicht konstitutiv-strategische, wie man sie im Politiktheoretischen erwarten darf.

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