theorieblog.de | Verschlingt der Föderalismus seine Kinder? Zur Gegenwart der US-Verfassung

8. Dezember 2016, Hausteiner

Wer in der liberalen Echokammer – im persönlichen Twitterfeed oder in entsprechenden Blogs – verkehrt, kann die Auszählung der noch ausstehenden US-Wahlzettel fast in Echtzeit verfolgen: Bei 2,7 Millionen Vorsprung ist Hillary Clinton angelangt, keine Lappalie bei rund 124 Millionen abgegebener Wahlzettel. Hinter dieser Fixierung auf die Gesamtzahl der Stimmen steht nicht allein beleidigtes Verlierertum der Demokraten – oder der Wunsch, die kommenden vier Jahre trotzig unter dem Slogan „Nicht mein Präsident!“ durchzuprotestieren.

Denn so funktioniert nun einmal das föderale Wahlsystem, und auf diese Institution zielt dann auch die Kritik ab: Die Präsidentenkür durch Wahlmänner der Bundesstaaten beinhalte demokratietheoretisch kaum tragbare Verzerrungen, weil sie die Bürgerinnen und Bürger in drastisch unterschiedliche Machtpositionen versetzt. In den vergangenen Jahrzehnten oblag die Entscheidung darüber, wer Präsident wird, allein den Wählern in geographisch relativ konstant bleibenden Swing States. Seit der Verfassungsratifikation 1788 in Stein gemeißelt ist aber ein weiterer Verzerrungseffekt: kleine Staaten sind in der Anzahl der Wahlmänner stets im Vorteil, sehr große Staaten im Nachteil. Zwar gilt „one person, one vote“ – doch die Stimmen selbst haben unterschiedliches Gewicht. Fällt die Entscheidung mit der Stimmenmehrheit zusammen, erscheint dies unproblematisch, doch nun siegt zum vierten Male seit Gründung der Republik ein Kandidat, ohne die meisten Stimmen zu erhalten.

Ein Fehler im System? Ja, argumentiert so mancher Verfassungskenner: Im Wahlkolleg, noch extremer bekanntlich aber im Senat, wo die Staaten unabhängig von ihrer Größe mit zwei Repräsentanten vertreten sind, treibt der Föderalismus schädliche Blüten. Ursächlich für dieses Verfassungsdesign ist, so mehren sich derzeit wieder Stimmen, eine der hartnäckigsten US-amerikanischen Gepflogenheiten: die Privilegierung der weißen, einstmals sklavenhaltenden Landbevölkerung. In der föderalen Union, aus Sklavenhalterstaaten und „freien“ Staaten zusammengesetzt, haben erstere von Anfang an ihre Praxis dauerhaft sichern wollen – und zwar durch regionale Kompetenzen, aber auch den disproportionalen Einfluss in Senat wie in der Präsidentschaftswahl. Neu ist diese Beobachtung nicht: In den von Bürgerrechtskämpfen geprägten 1960ern beschloss der Theoretiker Willam Riker – sicher kein Moralist – sein Epoche machendes Buch „Federalism. Origin, Operation, Significance“ lakonisch: „Wer in den USA den Rassismus missbilligt, sollte auch den Föderalismus missbilligen.“

Die USA, der Geburtsort des modernen Verfassungsstaates und des modernen Föderalismus – ein Paradebeispiel für die Perversion föderaler Hoffnungen? In der Tat – die US-Verfassung, die als leuchtendes Vorbild viele moderne Verfassungstexte gerade großflächiger Staaten informiert hat, und die Federalist Papers feierten den Föderalismus als pragmatisches Werkzeug, höchste Ideale ins Werk zu setzen: In der „föderativen Republik“ gelte, so James Madison im 51. Artikel, „während alle Autorität von der Gemeinschaft ausgeht und von ihr abhängt, ist die Gemeinschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Klassen ihrer Bürger gespalten, dass die Rechte des einzelnen oder der Minderheit nur wenig von gezielten Interessenzusammenschlüssen der Mehrheit“ – den berüchtigten „Faktionen“- zu befürchten haben.“ Die staatenweise Ernennung von Wahlmännern diene ebenso dem Ziel der Machtverteilung und des gegenseitigen Ausgleiches – und dabei gar einem moralischen Ziel: „der moralischen Sicherheit, dass das Amt des Präsidenten niemals jemandem zufallen wird, der nicht in höchstem Maße mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet ist. Die Gabe zu niederem Ränkespiel und die mindere Kunst der Beliebtheit“ reichten nicht aus, um die Präsidentschaft zu erringen – dagegen baue das Wahlmännersystem vor.

Die machtballenden Effekte von Massenkommunikation über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg konnte Alexander Hamilton nicht voraussehen. Dennoch wirkt es fast bizarr, wie präzise das Menetekel, die Machtergreifung der Unwürdigen, nun eingetreten ist – und zwar nicht trotz der föderalen Machtkontrolle, sondern dank ihrer Aushebelung des Mehrheitswillens. Dass die Sicherung des Einflusses territorialer Minderheiten nicht vor dem Tyrannen schützt, sondern ihn nun entgegen dem Willen der Mehrheit inthronisiert, ist der Kritikpunkt vieler Liberaler: Nicht die politische Niederlage treibt sie an, sondern die Angst, die föderale US-Verfassung könne sich dank eines gut gemeinten Konstruktionsfehlers selbst demontieren, indem sie einem möglichen Verfassungsfeind den Steigbügel hält.

Was also tun? Korrigierbar wäre möglicherweise die Anzahl der Wahlmänner, wie ja auch die Einteilungen der Wahldistrikte in den USA laufenden Änderungen unterliegen. Die Verzerrungen auszugleichen wäre eine Variante, die problematischsten Effekte des föderalen Wahlmännerkollegs zu dämpfen. Eine vollkommene Abschaffung der Wahlmänner (wie sie im Moment 5 Millionen Unterzeichner einer Onlinepetition fordern), hieße, das Projekt der Machtkontrolle aufzugeben – und eine Lawine der Verunsicherung loszutreten. Die US-Verfassung hat keine Ewigkeitsklausel, dafür aber quasi-sakralen Status; ihre Aushebelung wäre riskant und könnte, als hochambitioniertes Langzeitprojekt, die Präsidentschaft Trump ohnehin nicht verhindern. In einem unwahrscheinlichen Szenario aber wären die Wahlmänner, wenn sie von ihrem freien Wahlrecht gemäß ihrem Gewissen Gebrauch machten, möglicherweise aber auch jetzt noch zur Machtkontrolle fähig. Das Wahlkolleg könnte im Fall der Fälle durchaus dem Tyrannen in letzter Minute noch die Präsidentschaft verwehren – auch wenn dies kein Verdienst des Föderalismus wäre, sondern der indirekten Abstimmung.

Wahrscheinlich aber ist der Antritt Trumps nicht mehr abzuwenden – versagt haben die meisten Akteure in der US-Öffentlichkeit: Rückgratlose Republikaner, zerstrittene Demokraten ohne Machtbasis auf regionaler Ebene, von Trump besessene Massenmedien – sie alle könnten dazu führen, dass sich die US-Verfassung in den nächsten vier Jahren selbst kannibalisiert, indem sie einen Feind ihrer Werte über nahezu alle checks and balances verfügen lässt.

Und doch: Vielleicht befindet sich der deus ex machina  bereits auf der Bühne, und zwar in der Maske des Schurken. Angesichts der immensen Macht der einzelnen Bundesstaaten könnte es gerade der Föderalismus sein, der den vielbeschworenen Geist der Verfassung durch die Ära Trump hindurch rettet. Schon jetzt wird viel gespendet für Bürgerrechtsgruppen auf regionaler Ebene, und es geht die Rede von einem demokratischen Tea Party Movement, das sich zuerst einmal um die Erlangung politischer Macht auf der Staatsebene bemüht. Die USA sind letztlich ein Megastaat der starken Staaten: Kalifornien hat bereits angekündigt, den Klimaschutz nun selbst in die Hand zu nehmen; und die großen Metropolen des Landes werden, als schützende „sanctuary cities“, den Deportationskommandos Trumps nicht zur Hand gehen. Die Präsidentschaft mag eine leichte Beute sein, das fragmentierte Land ist es nicht; Trump mag ein Faschist sein, aber die USA sind anders verfasst als Weimar.

 


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