Lesenotizen zu Lilla, Mark. Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen. Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl. München. Kösel 2015. 224 Seiten. 19,99 €.
„Pelzschlampe“ hatte einmal jemand auf den Grabstein Marlene Dietrichs geschmiert. Die schrille Akzentuierung wollte der Dietrich nicht als Diva oder Antifaschistin gedenken, sondern als Trägerin toter Tiere. Solch ein Gestus ist nicht untypisch für das erhabene Gewissen. Hochmut verstellt den Blick auf Wesentlicheres. Grosso modo trifft dies bedauerlicherweise auch auf eine nach beinahe anderthalb Jahrzehnten nunmehr ins Deutsche übersetzte Porträtsammlung Mark Lillas zu, Professor für Geisteswissenschaften an der New Yorker Columbia-Universität und als Kreuzzügler gegen einen linken wie rechten „Libertarismus“ im europäischen Feuilleton zunehmend beliebter Gast.
Viele alteuropäische „Intellektuelle“, so die Leitbehauptung des nun als Der hemmungslose Geist übersetzten The Reckless Mind, seien der „irrigen Vorstellung“ erlegen, sich um der effektiveren Realisierung der aus falschem Bewusstsein für richtig befundenen oder gar „guten Gesellschaft“ willen „Tyrannen“ an den Hals werfen zu müssen. Derlei hatte Jan-Werner Müller in seinem großen Wurf einer „politischen Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert“ schon in der Einleitung als „Story“ gebrandmarkt, die „für gewöhnlich so“ gehe: „Um 1917 […] wurden die Europäer mehr oder weniger unbegreiflicherweise von einem ideologischen Fieber erfaßt, einer Krankheit, von der sie erst gegen 1991 […] geheilt werden sollten.“ Das wäre ein treffende Kurzfassung. Doch Lillas Auswahl bedarf nicht einmal unbedingt eines ansteckenden Tyrannen als bloß einer im Detail diffusen und konzeptionell amorph bleibenden „Tyrannophilie“ (auch: „Philotyrannie“) ausgesuchter europäischer Meisterdenker des 20. Jahrhunderts. Dass deren Liebäugeln mit dem Autoritären wenn überhaupt auch punktuell gewesen sein darf und nötigenfalls in ihre irgendwie politisch engagierten Äußerungen hineinspekuliert wird, bedingt, dass Lilla eine illustre Schar von Denkern als „tyrannophil“ bzw. „philotyrannisch“ gilt. Konkret erkrankt seien neben eindeutigen Kandidaten wie Martin Heidegger und Carl Schmitt Walter Benjamin, Alexandre Kojève, Michel Foucault und Jacques Derrida. Wenigstens dem äußeren Anschein nach zu ihnen gesellen sich ärgerlicherweise noch Arendt und Jaspers, lustigerweise indes Sartre.
Der Schutzumschlag des Buchs nämlich bildet Benjamin, Foucault, Heidegger und Schmitt ab, nicht aber Kojève oder gar Derrida. Dafür indes: Sartre. Irgendein Franzose eben, könnte man mit Fußballerhumor meinen, denn offensichtlich liegt hier eine Verwechslung von Kojève mit Sartre vor. Dahinter freilich könnte eine bezeichnende Freudsche Fehlleistung stehen. Im Gegensatz zu einigen anderen hätte Sartre sich ja tatsächlich nicht so schlecht auf Lillas Bühne der Tyrannophilen geschlagen, spielt dort aber (trotz gelegentlicher und i.Ü. beachtlich positiver Erwähnungen) keine eigene Rolle. Schwerer wiegt, dass Lillas erstes Kapitel großspurig „Martin Heidegger Hannah Arendt Karl Jaspers“ betitelt ist, wodurch die allgemeine Buchwerbung besorgt hat, dass die letzteren beiden in den Strudel der Schmähungen gezogen werden. Durch die nominelle Auflistung in Lillas „Tyrannophilen“-Ensemble wirken sie schuldig im Sinne der Anklage. Das ist umso trauriger, wenn man weiß, dass Jaspers sich ja tatsächlich vorgeworfen hatte, den Freund und Mentor Heidegger nicht intensiver von dessen verhängnisvoller Liaison mit dem Nationalsozialismus abgehalten zu haben.
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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das amerikanische Original, The Reckless Mind, kurz vor „9/11“ erschien und eine intellektuellengeschichtlich eigentlich altvertraute Verstandespervertierung als neu und als ausgerechnet sozialhistorisch spezifisch europäisch geißelte, die in Gestalt des imperialen Neokonservatismus bald darauf zum Inbegriff des amerikanischen Verteidigungsexzesses der Bush-Ära werden sollte. Dass der selbst neokonservativ geprägte Lilla diese mittlerweile vollzogene zeithistorische Inversion nicht sehen will, steht ihm nicht gut an. Dass er überdies in einem lieblosen Vorwort für die deutsche Übersetzung auf moralischer Überlegenheit seines feindbildlüsternen Weltbildes beharrt, verwandelt aber die Ironie in Zynismus. Die Dschihadisten des „IS“ seien es nun, die die Erbschaft der philotyrannischen Genies angetreten hätten.
Dabei wüsste man nur zu gern: Was vereint denn die heute als Mörderbande den Nahen Osten durchstreifende Brut – sogar laut Lilla oftmals „einsame Kinder aus dysfunktionalen Familien“ – mit einem Schöngeist wie Benjamin oder dem verwegenen Technokraten Kojève, einem Neffen Wassily Kandinskys? Doch nicht, dass man sie angeblich unverzagt gewähren lässt? Überall nämlich wittert Lilla das tugendlose Toleranzdogma des „Libertarismus“. Eine Internationale der Hacker, Minimialstaatsadvokaten, Freihandelspäpste, Anarchisten, Twitterer, Menschenrechtskreuzritter, Drogenbarone, Schweizer Banker und anderer Hedonisten sei jedenfalls der Beweis: „Unser Zeitalter ist kampflos libertär geworden.“ Die Intellektuellen seien „stumm, selbst wenn sie sich zu Wort melden.“
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Anders das Europa des 20. Jahrhunderts: Dessen Auftakt bildet für Lilla die Trias Heidegger, Jaspers, Arendt. Lilla skizziert Heideggers Abdriften ins Nazitum parallel zur Ausgrenzung von Jaspers und Arendt, widmet sich ausführlicher den rührenden Versuchen der Wiederannäherung an den Gefallenen. Doch Heidegger will sein Fehlen nicht einsehen. Ernst Jünger teilt er mit, eher doch müsse Hitler auferstehen und sich bei ihm entschuldigen. Jaspers geht schließlich wieder auf Distanz, grüßt „über einen Abgrund“ die gemeinsame Vergangenheit, Arendt schafft das nicht und bleibt treu. Doch so kitschig diese Dreiecksbeziehung rekapituliert wird, so sehr mangelt es Lilla an echter Empathie. Stellenweise kommt gar ein psychologischer Analphabetismus zum Tragen, etwa wenn Arendts und Jaspers Anhänglichkeit an den alten Lehrer verspottet wird. Ihre Eitelkeit im Hoffen, der – wie wir seit den Schwarzen Heften wissen: sture Judenhasser Heidegger möge im Innern doch zu den Guten gehören, ist sicher nicht zuletzt ein Versuch der Bewältigung beschädigter Biographien und verratener Liebe. Erschütternd ist doch, wie oft beide Heidegger immer wieder, Arendt bis zu ihrem Ende, die Hände reichen, und hämisch wirkt, wie Lilla über beider Großmut hinweggeht.
Gleichwohl gänzlich anders geartet, nimmt auch das Folgekapitel zu Carl Schmitt kein Blatt vor den Mund. Zwar ist Lilla, gemessen am Forschungsstand des Jahres 2001, beachtlich informiert und stützt sich größerenteils maßgeblich auf Heinrich Meiers instruktives Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie. Dennoch ist Schmitt von Beginn an nur Nazi und soll es gefälligst bleiben. Seine schillernden Weimarer Hauptwerke werden wenn überhaupt knapp in Form überdies oft fehlerhafter Paraphrasierungen als Vorarbeiten der Katastrophe abgetan. Schmitts eigentliche Funktion für Lillas Band muss es sein, als der für linke wie rechte Radikale Europas hinreichend böse Stichwortgeber zu überzeugen, womöglich gar als geistiger Ziehvater Benjamins, dem der anschließende Beitrag gilt.
Dieser gerät indes so bizarr, dass man Benjamin nach dieser Lektüre Feigheit vorzuwerfen geneigt ist, weil er nicht Stalin sondern sich selbst umbrachte. Benjamin wird als allenfalls besserer „Literaturkritiker“ vorgeführt. Der in seinen vor theologischen „Obertönen“ strotzenden „Briefen“ das wahre Gesicht zeigende „Denker“ in Benjamin hingegen sei der „Flamme der politischen Leidenschaft“ seiner Zeit „gefährlich nahe“ gekommen. Sein „Schreibtischtätertum“ (sic!) finde in Carl Schmitt die „schleimig-braune Quelle“, sprich: sei Nazischeiße. Verwunderlich ist laut Lilla darum nur, dass Benjamin sich dann doch dem Kommunismus verschrieb. Das erinnert an Adornos Verdikt, Marcuse sei ein nur durch sein Judentum verhinderter „Faszist“. So bleibt der größte und vielleicht einzige Vorzug dieses in vielen Hinsichten deplatzierten Kapitels, dass es sich dem aus der Tragödie des Lebens und Sterbens Walter Benjamins geborenen Geniekult und dessen sentimentalen Trugbildern verweigert.
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Am Essay über Benjamin wird dennoch Lillas Technik am Deutlichsten. Einerseits erfährt man im gesamten Buch recht wenig über die Theorien und Ideen der Behandelten – da diese, wie der Leser aber erst mit Überraschung dem Epilog entnehmen muss, im Gegensatz zur Sozialgeschichte der konkret europäischen „Tyrannophilie“ des von Eric Hobsbawm so genannten „kurzen 20. Jahrhunderts“ geradezu irrelevant seien, vielleicht sogar unschuldig. Andererseits werden immer wieder eigentlich erläuterungs- und begründungsbedürftige Anspielungen eingestreut. Sie suggerieren ein funkelndes Ensemble, ein unsichtbares Band zwischen den Porträtierten, eine kollektive Kollaboration mit der Macht. So wie Benjamin nicht nur ausweislich seiner messianischen Politischen Theologie letztlich Schmittianer gewesen sei, finde man schon beim jungen Kojève nicht nur Marx und Hegel, sondern viel (vom eigentlich späteren) Heidegger. Sartre hätte von Kojève vieles lernen können, hörte ihn aber nicht (und wird vielleicht deshalb von Lilla verschont). Von Kojève wiederum zieht sich die „Tyrannophilie“ zwar unbestreitbar auch über den Atlantik: zum Paten der dortigen neoantiken Politischen Philosophie, Leo Strauss. Doch an dessen arkaner Enthaltsamkeit lässt Lilla den europäischen Willen zur Unfreiheit natürlich abschmettern. Von Benjamin und Schmitt indes sei es zu Foucault nicht weit, Derrida wiederum habe den „Nazi-Apologeten“ Schmitt in Frankreich als politischen Philosophen salonfähig gemacht usf. Der humorsüchtige Russe Kojève (eigentlich: Kozhewnikov) wird behelfsmäßig zu „einem der einflussreichsten politischen Philosophen und Staatsmänner“ Frankreichs, ja zur vielleicht „wichtigsten Inspirationsquelle für die französische Politik in Europa und der Dritten Welt“, „zum Architekten des Wiederaufbaus Europas“ stilisiert, was die Frage aufwirft, ob dies nun das „Tyrannophile“ ist.
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Dennoch gewinnt Lillas Buch durch den Gang nach Frankreich endlich an Kraft. Das liegt nicht zuletzt am unkonventionellen Einfluss des aus Sowjetrussland geflohenen meta-hegelianischen Geschichtsphilosophen. Dessen akademische Schülerschaft umfasste alsbald nicht nur so ziemlich alles, was später in Frankreich Rang und Namen haben sollte. Überdies widerfuhr Kojève die zweifelhafte Ehre, am Ende des Kommunismus zum Protagonisten von Francis Fukuyamas spätliberalistischem Traktat The End of History and the Last Man zu werden, das wiederum Vorläufer vieler postpolitischer Gesellschaftsdiagnosen unserer Tage ist. Der hohe Ton verstummt zwar auch in diesem Kapitel Lillas nicht völlig, dafür aber gerät das darauf folgende, jenes zu Foucault, zu einer wahrlich geglückten Einführung zur Person und zur schonenden Kontextualisierung des Werks. Das mag nicht zuletzt an einer herausragenden US-amerikanischen Foucault-Forschung liegen, womöglich auch daran, dass von Nordamerika aus betrachtet der Mensch Foucault problemlos als eine durchweg amerikanische Persönlichkeit verstanden werden kann. Systematisch „Tyrannophiles“, solches gar, dass es mit Heidegger, um von Schmitt ganz zu schweigen, aufzunehmen wüsste, findet man also glücklicherweise nicht. Das macht die Foucault-Passagen ebenso lesenswert wie überflüssig im Sinne des Buchanliegens.
Das letzte Kapitel schließlich nimmt sich Derridas an. Es wird wieder fieser, beginnt umgehend mit der Ansage, die französische Nachkriegszeit habe ohnehin „nur noch einen wirklich bedeutenden politischen Denker hervorgebracht: Raymond Aron.“ Dafür aber schließt sich nun ein Kreis für Lilla, denn endlich darf er unter Rückgriff auf seine Heidegger-Passagen kritisieren, was ihm ausweislich des oben beschriebenen Vorworts an unser Zeit verächtlich ist: „Derrida stand auf der Seite Heideggers.“ Und so wird der ganze Dekonstruktivismus mit Terry Eagletons Formulierung gefragt, ob er mehr sei als „libertärer Pessimismus“. Natürlich nicht, so lässt sich die wenig überraschende Antwort Lillas angemessen verdichten.
Sein letztes Kapitel also, auf das ein ausschließlich als Geschmackssache zu bewertendes, in seinem krude verkopften Heimweh nach dem antiken Athen an Allan Bloom erinnerndes Fazit über die menschliche Natur nach Platon folgt, wird als Generalabrechnung mit der hedonistischen Dekadenz postmoderner Beliebigkeitsideale benutzt, die nicht zuletzt der späte Derrida über den Großen Teich gebracht hätte. Der antihumanistische Pessimismus des französischen Strukturalismus und seiner Nachfolger sei nichts als die „wissenschaftliche[] Methode zu einer Anti-Befreiungs-Theologie.“ Diese „Falle“ sei zwar zumindest in Frankreich mittlerweile erkannt, denn „jüngere französische Denker“ leisteten vorerst wieder „originäre theoretische Arbeit“ – im Gegensatz zu den USA, die Derrida-Land geworden seien.
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Gewöhnlich helfen Blicke von außen, klarer und distanzierter zu beobachten, manchmal gänzlich neu sehen zu lernen. Auch Lillas auf europäische Geistes- als „Sozialgeschichte“ spezialisierte „intellectual history“ verspricht dies – jedoch nur insoweit sie sich als ein mahnender Blick in die Alte Welt und deren Abgründe versteht. Umgekehrt, also in europäischer Übersetzung, klappt das folgerichtig nicht. Diesseits des Atlantiks schließlich müsste Lillas Buch doch wie ein Spiegel funktionieren und Schattenseiten der europäischen Geistesseele zeigen. Zu oft aber wirkt es wie eine mit klischeestrotzenden Intellektuellenschauspielern besetzte Geisterbahn in Disneyland.
Von daher gehört The Reckless Mind zu einem sehr viel älteren Sujet US-amerikanischer Selbstvergewisserungsliteratur, das Europa brauchte, um sich abzugrenzen und Identität in einer Gegenidentität zu suchen. In Frederick Jackson Turners berüchtigter „Frontier“-These hatte diese Nabelschau ihren prominentesten und klügsten Ausdruck gefunden: Mit jedem Schritt nach Westen, in die Zukunft, ins Ungewisse würde der Amerikaner amerikanischer. Darum, so muss man Lilla beim Wort nehmen, sollte noch immer sorgfältig sortiert werden, welchen europäischen Ideen, Theorien und Protagonisten Einlass „ins gelobte Land der Demokratie“ gewährt wird, bevor man, wie im Fall Derridas, den Dämon in Philosophentoga nicht mehr exorzieren kann. Was anfangs also wie eine vom anderen Atlantikufer herübergeschriene Provokation gewirkt haben mochte, entpuppt sich schließlich als ein inneramerikanischer Patriot Act für Akademiker.
Wovon das Buch kündet, ist daher auch die Rückkehr eines seit Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde überwundenen Intellektuellenverständnisses für Krisenzeiten, eine Politische Philosophie, deren Gegenstand gefälligst unpolitisch sein soll. Das Scheitern Platons an der Praxis, sein Versagen als Politikberater in Syrakus, ist in Lillas Epilog paradigmatisch dafür. Es ist Ausdruck eines beinahe anthropologischen Risikos für faustische Intellektuelle: Der große Geist vermag den Verlockungen der ihm schmeichelnden Macht kaum zu widerstehen, da sie nichts als sein Alter Ego ist, dem es mit Geisteskraft zu widerstehen gilt. Andernfalls erwache die dunkle Seite des Verstandes, das Politische. Das ist philosophischer Neokonservatismus sicher nicht reinsten Wassers, jedoch typischster Machart, der Vorwurf nämlich einer permanenten Wiederholung der Ursünde auf dem Feld des Politischen mit den Mitteln des Verstandes. Sehen wir einmal davon ab, dass Platon gar keinen Politikbegriff hatte, der das Politische vom Geist ernsthaft zu trennen bereit gewesen wäre, trennt denjenigen, der sich dermaßen politisiert wie Lilla auf der Seite der ewigen Vernunft Platons stehen sieht, auch nicht mehr so überzeugend viel von fundamentalistischen Gefilden unserer Tage.
Für Popper freilich bestand die Gefahr des „Zauber Platons“ (wie der erste Band der Offenen Gesellschaft heißt) gerade in solch einer Naivität aus dem Elfenbeinturm. Es sei gelehrte Selbsttäuschung zu glauben, der Verstand wäre eine von der Politik verführbare Unschuld statt selbst Urheber ihrer Macht. Lilla ist diese Perspektive eines der Politischen Philosophie entbundenen Ideenterrors selbstredend vertraut. Er entdeckt sie sogar in gewissen und als solche respektierten Selbstzweifeln des späten Derrida, tut dies jedoch zu schnell beiseite, um der Ideenlehre die Unschuld zu lassen. Dabei wäre es doch eine durchaus legitime These gewesen, eine „tyrannophile“ Veranlagung in den Hauptwerken der Porträtierten zu suchen statt in teils übertrieben konstruierten biographischen Stationen. Dann überdies würde endlich deutlich, dass die wie auch immer autoritäre Schar ihre enorme intellektuelle Reputation den Kodizes bürgerlicher Milieus verdankte. Ohne deren normalisierende Rückversicherung hätten doch die von Lilla ausgestellten Entgleisungen gar nicht wirken können.
Insofern ist Lilla selbst Platonist und seine Portraitreihe ein beredter Beleg, dass eine zuweilen schrill verzerrte Faktenschau, die zwischen Massenmordapologeten und postmodernen Theoriefetischisten nicht wirklich unterscheiden will und sich lieber mit neokonservativem Furor in einen notdürftig als Anthropologie getarnten Meinungsjournalismus flüchtet, tatsächlich nicht sein kann, was sie ohnehin sein zu wollen verweigert: eine geistesgeschichtliche Hilfe für politische Urteilskraft.
Vielen Dank dir für diese informative und pointierte Besprechung!
Adorno hat Marcuse als Faschisten bezeichnet nicht Horkheimer. Sonst bündige Besprechung!
@Pascal Omlin: Sie haben selbstverständlich recht. Danke. Die gemeinte Stelle im Brief Adornos an Horkheimer vom 13. Mai 1935 lautet, dass es letzteren „nicht wundernehmen“ wird, wenn es ersteren „traurig macht, daß Sie philosophisch unmittelbar mit einem Mann arbeiten, den ich für einen durch Judentum verhinderten Faszisten halte; denn weder konnte er sich über Herrn Heidegger Illusionen machen, dem er laut dem Vorwort des Hegelbuches alles zu verdanken hat, noch etwas über seinen Verleger Herrn Klostermann aus dem Tatkreis. Nun hat mich Pollock dahin aufgeklärt, daß die Stelle Marcuses für mich nicht in Betracht käme, weil sie eine subalterne Assistenten- und Hilfsarbeiterstelle sei, während man mich nur inter pares akzeptieren und mir selber einen Marcuse beigesellen könne. I take it for granted.“
(Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 15, Briefwechsel 1913-1936, hrsg. v. G. Schmid Noerr; FaM: Fischer 1995, S. 347f.)