Die Pandemie als europäische Katharsis? Lesenotiz zu Luuk van Middelaars „Das europäische Pandämonium“

Die Europäische Union, so Luuk van Middelaars These, habe sich im „Pandämonium der Pandemie“ (64) nicht nur als äußerst robust erwiesen, ihre Institutionen würden aus dieser Krise sogar gestärkt hervorgehen. Um diese Ansicht zu untermauern, lässt der Autor in einer Chronik der Pandemiepolitik die Irrungen und Wirrungen des vergangenen Jahres Revue passieren (67 ff). Doch die Coronakrise begreift van Middelaar nur als jüngstes Kapitel einer weit umfassenderen Transformation der Europäischen Union, in deren Licht er die gegenwärtigen Ereignisse ordnet und interpretiert. Gemäß dieser Lesart zwingen die geopolitischen Entwicklungen und vielfältigen Krisen der vergangenen Jahre die nunmehr 27 Mitgliedsstaaten auf den Pfad einer „Schicksalsgemeinschaft“ (24), die lernen müsse, als Einheit zu agieren, ohne ihre nationalstaatliche Verfasstheit einzubüßen. Im Folgenden möchte ich, ausgehend von einer kleinen ideengeschichtlichen Verortung, die teleologische Grundstruktur des Essays problematisieren: Die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Nationalstaatlichkeit und europäischem Gemeinwohl, die der Lauf der Geschichte zu verlangen scheint, gelingt nur negativ durch die Ausblendung der konkreten institutionellen Probleme und Dilemmata in der EU und positiv durch einen Kulturalismus, demgemäß „Europa“ als ein Wert an sich erscheint, der dem Wollen und Handeln der Menschen schon vorgängig ist.


Ein europäisch gewendeter Realismus

Ideengeschichtlich interessant ist der Text, da er einen doppelten Bruch im Genre der Europaideen markiert. Als eine Art europäisch gewendeter Realismus steht er in Kontrast einerseits zu republikanisch-kosmopolitischen Ansätzen mit „postnationaler“ Stoßrichtung (etwa Habermas, Beck, Guérot) und andererseits zu klassischen Realismen, die aus der Persistenz der Nationalstaaten den Aussichten des „europäischen Projekts“ enge Grenzen setzen (etwa Hoffmann, Milward). Demgegenüber versucht van Middelaar was bisher als gegensätzlich galt in einer europäischen res publica zusammenzubringen, die – in expliziter Abgrenzung zur verfassten Republik – die Gleichzeitigkeit einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit mit einer Stärkung der Nationalstaaten als solche meint (147 f).
Blickt man etwas weiter zurück, finden sich Kontinuitäten: Van Middelaar bewegt sich argumentativ etwa in der Tradition Richard N. Coudenhove-Kalergis, für den das von ihm in der Zwischenkriegszeit ersonnene „Paneuropa“ unausweichlich war, sollte die ‚alte Welt‘ mitsamt ihrer Kolonien nicht zwischen den Vereinigten Staaten und der jungen Sowjetunion zerrieben werden. Heute, knapp einhundert Jahre später, in denen die Geschichte sich so ganz anders gestaltete als erhofft oder befürchtet, sorgen van Middelaar zufolge die nach dem Schock des Trumpismus nicht weiter verlässlichen USA und das nach globaler Hegemonie strebende China für den ‚externen‘ Druck, der die EU in eine „Metamorphose wider Willen“ (33) zwinge. Ähnlich einem Argument Léon Blums, für den in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Europa der „dritten Kraft“ eine schon vorhandene Realität darstellte, die den Europäer:innen bloß zu Bewusstsein kommen müsse, beschreibt van Middelaar die Unausweichlichkeit einer Entwicklung, die sich gewissermaßen hinter dem Rücken der europäischen Akteure vollzieht.
Der ‚interne‘ Druck dieser Metamorphose rührt in erster Linie von den im langen Krisenjahrzehnt seit 2008 getroffenen Maßnahmen her. Die Europapolitik im Krisenmodus habe einige tradierte europapolitische Fiktionen zerstört. So sei die Pandemie, als vorläufiger Höhepunkt dieser krisenvermittelten Transformation, der Sargnagel vier europapolitischer Tabus, die gemeinsames Handeln in der Vergangenheit eher erschwert denn erleichtert hätten:
Erstens hätten Fortschrittsoptimismus und dogmatischer Supranationalismus zu dem Tabu geführt, offen mit nationalen Interessen zu argumentieren. Zweitens sei die „Fiktion der Gleichheit vor dem Gesetz“ (42) der Mitgliedsstaaten mit dem Tabu einhergegangen, nationale Unterschiede zu benennen. Drittens habe die sui generis– und governance-Rhetorik dazu beigetragen, die Frage nach dem government (bzw. des Hegemons) im EU-System zu verdrängen. Viertens dränge sich nun immer mehr die Frage nach den (Außen-)Grenzen der Union auf, womit sich das Dogma der Offenheit erschöpft habe (41-43).
Die These von der Erschöpfung der vier Tabus, die man auch als europapolitische Ideologien bezeichnen könnte, hat einiges für sich und lädt zum Weiterdenken ein. Dies z.B. in Hinblick auf die Frage, ob van Middelaar diese Ideologien in ihrer produktiven, d.h. vermittelnden und legitimatorischen Funktion in Europapolitik und -wissenschaft nicht unterschätzt. Für ihn handelt es sich schlicht um falsches Bewusstsein, das den ‚eigentlichen‘ Charakter der EU verhüllt: Gerade in der europapolitischen Desillusionierung, d.h. der Bewusstwerdung und Anerkennung der Persistenz, ja sogar Stärkung der Nationalstaatlichkeit komme Europa zu sich selbst. Das ist die eigentümliche Wendung, die van Middelaar der klassischen teleologischen Figur der „Metamorphose wider Willen“ gibt.

 

Die Pandemie als Geburtshelferin der europäischen res publica?

Die Spannung zwischen diesem ‚realistischen‘ Paradigma und der dezidiert europäischen res publica, die van Middelaar in der Pandemie in Entstehung begriffen sieht, wird nicht überzeugend aufgelöst.
Denn zunächst beruht van Middelaars Hypothese, dass die grenzüberschreitende und universale physische Bedrohung der Pandemie die Stärkung einer dezidiert europäischen Öffentlichkeit mit sich bringe, auf einem argumentativen Kniff; wir müssen sie dem Autor schlicht glauben. Denn aus der öffentlichen (besser gesagt: veröffentlichten) Enttäuschung über die Passivität der Union und die nationalen Alleingänge zu Beginn der Pandemie schließt van Middelaar, dass die reale Entwicklung der Kompetenzen der EU den Erwartungen der Bürger:innen gleichsam hinterherhinke (28 f., 64). Dass die den EU-Institutionen zugemessenen und ihre realen Kompetenzen divergieren, ist für sich genommen eine interessante Beobachtung. Wenn van Middelaar aus dieser Divergenz aber einen öffentlichen Integrationswillen ableitet, dann scheint ihn die teleologische Figur der Metamorphose selbst zu jenem Fortschrittsoptimismus zu verleiten, den er an anderer Stelle problematisiert.
Zwar hebt van Middelaar Streit und Opposition als grundlegende Modi dieser entstehenden Öffentlichkeit hervor und sicherlich zu Recht ordnet er dem europapolitischen Handeln in der Krise eine zunehmende Politisierung der EU-Politiken bei (116, 128). Doch ist dieser europäische Öffentlichkeitsbegriff von einer inneren Spannung zwischen einer „nationalen“ und einer „europäischen“ Dimension gekennzeichnet und fällt in Sachen Demokratie letztlich hinter die nationalstaatlichen Öffentlichkeiten zurück: Zum einen wird Dissens vom Autor in der EU weiterhin als in erster Linie zwischenstaatliche Angelegenheit gefasst, d.h. die Frage von öffentlicher Zustimmung und Opposition schrumpft auf die jeweilige Agenda der nationalen Regierungen zusammen (Merkels Deutschland vs. Orbans Ungarn). Zum anderen bleibt die transnationale Dimension dieses Öffentlichkeitsbegriffs diffus und letztlich elitär. Van Middelaar bedient sich der Theatermetapher (113 ff.): Zwar wird die EU politisiert; dies aber als Schauspiel, in dem das Publikum in Form der veröffentlichten Meinung mal buht, mal applaudiert und darauf hoffen darf, dass die Darsteller:innen auf der politischen Bühne die Fühler ausstrecken.

 

Nationale Interessen und europäisches Gemeinwohl?

So sind etwa Schlüsselbegriffe einer Europapolitik, die nationale Eigeninteressen und europäische res publica in Einklang bringen soll, „Ehrlichkeit“ und „Gespür“ (126): Hätte beispielsweise der moralisch-technokratische Krisendiskurs der Bundesregierung in der Eurokrise Vertrauen und Glaubwürdigkeit verspielt, so gewinne Berlin jetzt, da es „von Solidarität und eigenen Interessen spricht, […] an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft“ (128).
Man darf bezweifeln, dass das Krisenregime der Troika an ‚Überzeugungskraft‘ gewonnen hätte, wenn nur die Bundesregierung offen mit nationalen Eigeninteressen umgegangen wäre. Hier scheint van Middelaar der von ihm so treffend benannten „Fiktion der Gleichheit“ selbst in die Falle zu gehen. Seine teleologische Konstruktion der Metamorphose lässt allerdings nicht viel Spielraum: Die Verwaltung des vermeintlich Unausweichlichen wird letztlich zu einer Frage von Einsicht und Rhetorik. All die Widersprüche, die sich aus der vom Autor doch selbst hervorgehobenen Ungleichheit der Staaten, ihrer fortbestehenden Konkurrenz sowie den in Europäischem Rat und Eurogruppe manifesten Hierarchien ergeben, sollen sich schlicht in einem gemeinsamen „Narrativ“ aufheben lassen, welches die „von außen“ vermeintlich evidente „europäische Kultur“ endlich auch den Europäer:innen zu Bewusstsein bringt (174).
Der letztlich leere Kulturalismus, in den das „europäische Pandämonium“ mündet, ist die Kehrseite des teleologischen Begriffs eines Europas, welches vermeintlich schon da ist und angesichts ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Zwänge nur noch erkannt und verteidigt werden muss. Politische Form und Verfasstheit werden dabei zur Nebensache. Begreift man dagegen Europa und die Differenz von Innen und Außen als etwas, das gemacht und immer wieder neu verhandelt wird, rückt die Frage der Legitimation ins Zentrum. Van Middelaars Text liefert in dieser Hinsicht keine Antworten. Sein Europa umfasst mal den geographischen Kontinent inklusive Belarus, mal die Außengrenzen der Union, mal bloß den Währungsraum der Eurozone. All diese unterschiedlichen Räume verschwimmen im Begriff der res publica notwendig – und mit ihnen die Frage nach Ort und Geltung einer Demokratie, die verbindlicher und im übertragenen Sinne demokratischer sein kann als die Akklamation oder das Murren einer diffusen „europäischen“ Öffentlichkeit.

 

Konstantin Rückert studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Politische Theorie in München, Frankfurt am Main und Lissabon. Er promoviert zur Begriffsgeschichte der „europäischen Integration“ an der Universität Hamburg.

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