Wiedergelesen-Beitrag zu
Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Neuwied: Luchterhand 1969.
Die Diagnose wechselt beliebig, die Therapie bleibt gleich. Ob Rinderwahn oder Schweinegrippe, Spendenskandal oder Spesenschlammassel, Subprime Mortgage oder Sovereign Debt Crisis – läuft in der Wirtschaft oder Politik etwas gründlich schief, erklingt die immergleiche Remedurrhetorik: „höhere Transparenz“ und „strengere Regulierung“! Und in aller Regel folgt ihr die immergleiche Maßnahme: formellere Verfahren mit zusätzlichen Schikanen. Wäre Niklas Luhmann noch am Leben, das Reaktionsmuster müsste Musik in seinen Ohren sein. Zwar verbände er mit der Maßnahme gerade nicht die Hoffnung auf sachgerechtere Entscheidungen, die ihren heutigen Trompetern die Backen füllt, aber er sähe sie wohl als späte Bestätigung für seine alte Behauptung, es sei die Funktion von Verfahren, Legitimation zu erzeugen.
Luhmanns Legitimation durch Verfahren erschien 1969. Der Soziologe wagte mit dem Büchlein eine Invasion in die Rechtsphilosophie, und das war nicht die einzige Provokation, mit der er bei Juristen für Irritation sorgte. Besonders schwer zu schlucken war für sie seine Behauptung, die Legitimation von Verfahren stehe in keinem Zusammenhang mit der Sachgerechtigkeit von Entscheidungen. Luhmann zufolge kam es bei Verfahren auf das „Wie“ des Zustandekommens, nicht das „Was“ des Zustandegekommenen an. Es sei eine „Illusion“, Verfahren «als ein Mittel zum Zwecke der Wahrheit zu deuten“, und diese Illusion sei historisch auf „eine für die Aufklärungszeit typische Unterschätzung des Problems der Komplexität“ zurückzuführen. Luhmann nahm damit, anders als ihm sein prominentester Kritiker, Jürgen Habermas, unterstellte, einen antitechnokratischen Standpunkt ein: Verfahren steigern nicht die Rationalität, sie reduzieren Komplexität. Zumindest auf den ersten Blick hat diese Behauptung heute viel für sich.
Der Ruf nach höherer Transparenz und strengerer Regulierung hat mit Wissen wenig, mit Vertrauen aber viel zu tun. Er wird von der Erwartung getragen, formellere Verfahren könnten persönliches Versagen verhindern oder zumindest vermindern. Damit scheint sich Luhmanns Entwicklungsthese zu bewahrheiten, in der modernen Gesellschaft stoße personales Vertrauen an seine Grenzen und werde durch Systemvertrauen ersetzt. Verfahren sind in Luhmanns Verständnis Prozesse zur Produktion und Projektion von Systemvertrauen. Ihre funktionale Leistung besteht darin, den Weg zu einer Entscheidung vorzuzeichnen, ohne die Entscheidung selbst vorwegzunehmen. Sie kanalisieren Verhalten, eliminieren Alternativen, absorbieren Ungewissheit – in Luhmanns Standardformel eben: Sie reduzieren Komplexität.
Hier, bei der Standardformel, beginnt Luhmanns Aktualität allerdings zu bröckeln. Denn gerade dort, wo im Namen höherer Transparenz und strengerer Regulierung formelle Verfahren verordnet oder verschärft werden, wird Komplexität nicht gemindert, sondern gesteigert. Um zu verstehen, wie das möglich ist, muss man Luhmanns Büchlein gegen den Strich lesen, und dazu bietet sich seine Unterscheidung von Verfahren und Ritual an.
Die Ritualisierung von Verfahren
Luhmann zufolge legitimiert das Verfahren Entscheidungen durch seine Ergebnisoffenheit, die im prozeduralen Ablauf Schritt für Schritt verkleinert wird. Das Ritual dagegen ist von Anfang an geschlossen, sein gewünschter Ausgang beschlossen. Es gibt in ihm nichts zu entscheiden, vielmehr werden Entscheidungen nachträglich zelebriert oder vorgängig beschworen. Luhmann trifft diese Unterscheidung nach funktionalen Gesichtspunkten und schließt damit die Möglichkeit ein, dass etwas, was formal als Verfahren daherkommt, funktional einem Ritual gleichkommt. Die Möglichkeit wird Wirklichkeit, sobald ein Verfahren eine Entscheidung darstellt, aber nicht herstellt.
In Legitimation durch Verfahren nennt Luhmann dafür zwei bezeichnende Beispiele: politische Wahlen „mit feststehender Einheitsliste“ und „Schauprozesse“. Bezeichnend sind die Beispiele deshalb, weil im Jahr 1969 klar war, wie man sie zu verstehen hatte: Das Problem der Ritualisierung von Verfahren war auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs beheimatet. Aus heutiger Sicht drängt sich ein unbequemerer Schluss auf: Es gehört mitten in Luhmanns westliche Modernisierungsgeschichte. Seine Verfahrenstheorie hat einen ironischen Fluchtpunkt, der ihm wohl entgangen ist. Je stärker die legitimatorische Leistung von Verfahren wird, desto mehr verlagert sich ihre Funktion von der Herstellung zur Darstellung von Entscheidungen – bis zum Punkt, dass auch informell getroffene Entscheidungen ein formelles Kleid erhalten müssen. Mit anderen Worten: Zu einseitiges oder zu großes Vertrauen in Verfahren befördert die Verwandlung von Verfahren in Rituale.
Regulatoren und Kommentatoren
Von Luhmanns funktionalistischer Warte aus könnte man nun antworten: Sollte dieses Szenario tatsächlich eintreffen, würde das Vertrauen in Verfahren von alleine wieder auf ein zweckdienlicheres Maß absinken. Man könnte sogar argumentieren, gerade bei hoher Transparenz seien Verfahren einer Selbstregulierungskraft ausgesetzt, die das Vertrauen in einem funktionalen Gleichgewicht halte. Sobald man jedoch die Funktions- mit einer Akteursperspektive verbindet, erscheint die Ritualisierung von Verfahren als Vorgang, der sukzessive weiter getrieben werden kann und bereits jetzt einen Zustand der dysfunktionalen Stabilität erreicht hat.
Es gibt in der modernen Gesellschaft eine ganze Palette von Berufen, deren Vertreter vom Vertrauen in Verfahren leben. Die Konjunktur dieser Berufe kannte während der letzten dreihundert Jahre nur eine Richtung: steil nach oben. Typologisch kann man sie in zwei Gruppen unterteilen. Auf der einen Seite stehen die Administratoren und Regulatoren, die in Sachen Verfahren Meta-Praktiker sind: Sie wenden eigene Verfahren auf fremde Verfahren an, mit dem Ziel, Abläufe zu überwachen, Ergebnisse zu überprüfen und Verbesserungen durchzusetzen. Auf der anderen Seite stehen die öffentlichen Kommentatoren, die in Verfahren als Zweit-Darsteller auftreten: Sie reagieren in den Medien auf Verfahren und wirken aus den Medien auf Verfahren zurück. Beide Gruppen verfolgen aus unterschiedlichen Gründen die Absicht, das Vertrauen in Verfahren hochzuhalten, und beide tragen unbeabsichtigt zu ihrer Ritualisierung bei. Um zu verstehen, wie sie das tun, ist es nützlich, beide Gruppen für sich allein zu betrachten.
Ein juristisches Arbeitsbeschaffungskartell
Um mit den Aufsichts- und Verwaltungsbehörden zu beginnen: Ihr fachliches Kapital stammt hauptsächlich aus den Rechtswissenschaften; dort, wo sie auftreten, findet meist eine juristische Durchdringung von Arbeitsabläufen statt. Historisch gesehen, handelt es sich bei dieser Berufsgruppe zugleich um einen Stoßtrupp der staatlichen Machtexpansion und um ein juristisches Arbeitsbeschaffungskartell. Mittlerweile ist sie in den staatlichen Aufsichtsorganen genauso heimisch wie in den privatwirtschaftlichen «Compliance»-Abteilungen.
Ihre Expansionskraft rührt zu einem guten Teil daher, dass ihre Vertreter aus einem systemischen Widerspruch eine Stärke gemacht haben: Sie treten als unabhängige Autoritäten auf, wenn es um den konkreten Ausgang der von ihnen überwachten Verfahren geht, sind aber zugleich interessierte Partei, was den allgemeinen Stellenwert von Verfahren betrifft. Sinkt das Systemvertrauen in Verfahren, sind ihre Berufsaussichten getrübt. Darum müssen sie auf Probleme mit Verfahren immer gleich reagieren: mit neuen Verfahren. „Neu“ ist dabei in der Regel gleichbedeutend mit aufwändiger und überwachungsintensiver, und so dreht die selbstgesteuerte Expansionsspirale immer weiter. So wird Komplexität gesteigert, unabhängig davon, ob es funktional erforderlich ist oder nicht.
Daraus resultiert der Beitrag der Regulatoren zur Ritualisierung von Verfahren. Je komplexer Verfahren werden, desto höher ist der Anreiz, sie zu unterlaufen. Aus Sicht der ausführenden Akteure kann es effizienter erscheinen, ein aufwändiges Verfahren über informelle Entscheidungswege auszuhebeln und nur noch als Legitimationsfassade aufrechtzuerhalten, als es im Sinne seiner prozeduralen Vorschriften zu befolgen. Das Systemvertrauen der Ausführenden ist in solchen Fällen zu schwach, um sich den Verhaltensvorgaben des Verfahrens verpflichtet zu fühlen. Gleichzeitig ist das Systemvertrauen der Aufseher zu stark, um das dysfunktionale Verfahren abzuschaffen.
Die Ritualisierung hat demnach mit einer Vertrauensdiskrepanz zwischen Aufsehern und Ausführenden zu tun. Aus Sicht der Aufsichtsbehörden besteht ein Konflikt zwischen den Bedürfnissen des Systems und den Interessen der Ausführenden, und die naheliegende Lösung besteht für sie in einer Disziplinierungsaktion durch strengere Vorschriften. Damit muss das Verfahren nun auch das gesunkene Vertrauen in die ausführenden Personen auffangen. Es wird ein Kompensationsinstrument, und als solches beschleunigt es die Ritualisierung weiter. Die Aufsichtsbehörden manövrieren sich in ein Dilemma, aus dem es keinen vorgezeichneten Ausweg gibt. In ihrer Rolle als Meta-Praktiker müssen sie neue Verfahrensmodalitäten und -abläufe gegen den Widerstand der ausführenden Akteure durchsetzen, hebeln dabei zugleich aber eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von Verfahren aus: die intrinsische Motivation der ausführenden Personen, die Verfahrensnormen zu erfüllen.
Zwangsweise verordnete Verfahren haben fast unvermeidlich den Charakter von rituellen Ersatzhandlungen für systemisches Versagen. Was Luhmann auf die Diktaturen des Ostblocks projiziert, ist deshalb auf leicht subtilere Art auch Bestandteil der westlichen Demokratien. Und was uns angesichts der Regulierungswut nach dem Zusammenbruch des Finanzsektors von 2008 als neues Problem erscheinen mag, gehört seit Anbeginn der Moderne zur Wachstumsstrategie staatlicher Bürokratien. Bereits am Ausgang des Ancien Régime haben optimistische Verwaltungsleute eine Verfahrensreform an die andere gereiht, um immer neue Ausweichstrategien der ausführenden Akteure zu kontern.
Wo solche Katz-und-Maus-Spiele in Gang kommen, liegt in der Regel ein Verstoß gegen ein simples Gesetz vor: Eine neue Verfahrensstruktur braucht eine entsprechende Verfahrenskultur, um die in sie gesteckten Erwartungen zu erfüllen. Da kultureller Wandel aber schlechter steuerbar ist und in Zeiten des höheren Reformdrucks ungleich träger verläuft als die Umsetzung struktureller Maßnahmen, mühen sich Regulatoren und Administratoren bald mit den unintendierten Konsequenzen ihrer eigenen Reformversuche ab. Solange ihr eigenes Vertrauen in Verfahren nicht Schaden nimmt, hat es damit kein Ende.
Dieser Prozess ist derzeit bei den regulatorischen Bändigungsversuchen der internationalen Finanzindustrie voll im Schwung. Noch scheint das öffentliche Vertrauen in Kontrollbehörden wie die U.S. Securities and Exchange Commission (SEC) größer zu sein als in die kontrollierten Konzerne, aber es mehren sich bereits die Stimmen von beobachtenden Spezialisten, die von der Ineffizienz und Instabilität eines Systems warnen, dessen verlorene Reputation durch Regulationen ersetzt werden soll. Die von Juristen dominierten Regulierungsinstanzen, kritisiert etwa der Ökonom Jonathan Macey, bauten einen Überwachungsapparat auf, den sie mit ihren beschränkten Ressourcen gar nicht kontrollieren könnten, und verlegten sich daher auf die symbolische Politik, da und dort medienwirksam ein gerichtliches Exempel zu statuieren. Derweil könnten die Akteure in den regulierten Konzernen, entlastet von den Pflichten der eigenen Reputationspflege, das heißt vom Neuaufbau personalen und institutionellen Vertrauens, ihren ruinierten Ruf als Freipfand einsetzen, um ihre Geschäftsinteressen noch rücksichtsloser zu verfolgen.
Journalistischer Transparenzglaube
Wie verhält sich demgegenüber der Ritualisierungseffekt der Medien auf Verfahren? Er hat andere Ursachen, aber eine ähnliche Tragweite. Wie sehr Medien formelle Verfahren in ein rituelles Spektakel verwandeln können, zeigt sich am deutlichsten im Politikbetrieb. Unter der Flagge des Transparenzgebots haben sich Journalisten einen immer umfassenderen Zugang zu politischen Gremien verschafft, dabei aber nicht unbedingt ihr Versprechen erfüllt, der Öffentlichkeit bessere Einsichten in politische Entscheidungsabläufe zu ermöglichen. Denn mit dem Einzug der „gläsernen“ Politik erfolgte der Auszug der Beratungsprozesse aus den Gremien. Die mediale Präsenz schränkt den Toleranzbereich des Sagbaren in vielen Fällen so stark ein, dass es ein Gebot der politischen Klugheit ist, zur Sicherung einer guten Entscheidungsgrundlage den Beratungsprozess aus den formellen Verfahren herauszulösen.
Dieser Vorgang betrifft längst nicht mehr nur die Institution des Parlamentes, die sich zuerst in ein deliberatives Gremium ohne deliberative Funktion verwandelt hat. Expertenkommissionen haben in den vergangenen Jahrzehnten einen ähnlichen Prozess durchlaufen. Vor allem bei kontroversen und entsprechend medialisierten Themen wie Gentechnologie, Drogenkonsum oder Atomenergie dienen ihre Empfehlungen weniger der politischen Beratung als der nachträglichen Legitimation. Die Funktion der Kommissionen beschränkt sich darauf, dass Politiker vor der Kamera „expertengestütztes“ Handeln für Maßnahmen beanspruchen können, die ohne ihre Mitwirkung getroffen worden sind. Hat sich ein solches System eingespielt, sind Politiker, wenn sie für einmal tatsächlich nach Expertenrat verlangen, darauf angewiesen, ihn auf informellem Weg einzuholen. Damit sind die Weichen gestellt, dass sich hinter den Kulissen einer medial durchleuchteten Hochglanzpolitbühne wieder eine Kabinettspolitik alteuropäischen Stils einrichten kann.
Das öffentliche Tribunal als Verfahrensritual
Nun könnte man erwarten, dass politische Verfahren, denen im Zeichen der medial hergestellten Transparenz der Entscheidungsprozess ausgetrieben wird, früher oder später auch die öffentliche Legitimation abhanden kommt. Das scheint bisher aber kaum geschehen zu sein. Der Hauptgrund dafür dürfte in der Funktionslogik der politischen Berichterstattung zu finden sein.
Historischer und ideologischer Bezugspunkt der medialen Kampagne für Transparenz ist der aufklärerische Anspruch, die Tätigkeit politischer Entscheidungsträger vor das „Tribunal“ der öffentlichen Vernunft zu ziehen. Durch die Berichterstattung von Zeitungen und Journalen, so das Versprechen aus dem 18. Jahrhundert, könnten Bürger zu einem qualifizierten Urteil über die Leistung ihrer Regierung ermächtigt und Regierende wiederum zu einer Politik im Dienste ihrer Bürger ermuntert werden. Dem Versprechen lag die Fortschrittserwartung zugrunde, eine durch kritische Medien konstruierte Öffentlichkeit führe zu einem Zustand größerer Vernünftigkeit und besserer Entscheidungsfähigkeit.
Was konnte geeigneter sein, um dieser Ideologie Glaubwürdigkeit zu verleihen, als die Darstellung der öffentlichen Kritik als ein verfahrensmäßig gesteuerter Vorgang? Diesen Zweck erfüllte die Rede von der Öffentlichkeit als Gerichtshof mit universaler Jurisdiktion, in dem die Publizisten als Ankläger oder Verteidiger und die aufgeklärte Leserschaft als höchste Richterinstanz auftrete. Das Bild verlieh der medial vorgetragenen Kritik den Anschein des Geordneten und Gerechten und trug damit wesentlich zu ihrer politischen Legitimation bei.
Allerdings: Zur Beschreibung ihrer Funktionsweise hat die Gerichtsmetapher nie viel getaugt. Die mediale Beurteilung politischer Vorgänge folgt keinem vorgegebenen Verfahrensablauf, sondern kann das ganze Spektrum vom unkontrollierten Lynchen über das vorsichtige Abwägen bis zum durchritualisierten Feiern abdecken. Genauso wenig besitzt die Öffentlichkeit die nötige Homogenität und Souveränität, um als richterliche Instanz einen Fall abschließend zu beurteilen. Wir haben es also mit einer paradoxen Konstellation zu tun: Die gerichtliche Verfahrenssprache wird auf ein Handlungsfeld angewendet, das gar nicht verfahrensmäßig organisiert werden kann, und erzeugt trotzdem eine legitimatorische Wirkung. Man müsste also, um Luhmanns Formulierung aufzunehmen und abzuändern, von Vertrauen durch Verfahrensrhetorik sprechen.
Mediale und politische Realität
Vor diesem Hintergrund lässt sich nun leichter nachvollziehen, warum die medial erzeugte Ritualisierung politischer Verfahren eine ebenso medial erzeugte Legitimierung erhalten muss. Für die politische Berichterstattung in westlichen Demokratien ist die Verfahrensgläubigkeit konstitutiv. Die Medienkultur funktioniert nach einem doppelten Verfahrensprinzip, das für die Objekte wie die Subjekte der Berichterstattung gilt: Politiker müssen Entscheidungen durch transparente Verfahren fällen, und Medienschaffende müssen diese Entscheidungen mit kritischen Verfahren prüfen. Würden die Medien auch ihre eigenen Ritualisierungseffekte kritisch thematisieren, sie würden zugleich ihre Legitimationsgrundlage unterminieren. Daher sind die Kommentatoren vor der Kamera und Redaktoren in den Nachrichtenräumen dazu gezwungen, das Polit-Theater weiterhin so zu inszenieren, als spiele sich das Hauptgeschehen vor und nicht hinter den medialen Kulissen ab.
Führt man sich diesen systemischen Zwang vor Augen, muss man ein zu Luhmann konträres Fazit ziehen: Hier entsteht Legitimation durch Rituale, die Verfahren simulieren und dabei politische Komplexität bis zur Realitätsverweigerung reduzieren. Gleichzeitig steigt die Komplexität politischer Entscheidungsprozesse durch die Parallelstruktur eines „transparenten“ Verfahrensrituals für die Medien und eines informellen Beratungsablaufs für die Entscheidungsträger. In letzter Konsequenz hat damit der mediale Durchleuchtungsanspruch der Politik den Gegensatz zwischen medialer und politischer Realität verschärft.
Erstaunlicherweise ist Luhmann in späteren Jahren auf anderem Weg zu einem ähnlichen Befund gelangt. In seiner Studie über Die Realität der Massenmedien von 1995 wartete der Fernsehverächter mit der systemtheoretisch verpackten Provokation auf, die Medien konstruierten eine eigene, geschlossene Realität und konditionierten mit ihr unser Wissen über die Welt. Was wir aus den Medien erfahren, sagt demnach in erster Linie etwas über die Medien aus, nicht aber über den Gegenstand der Berichterstattung. In Luhmanns Worten: „Wenn man hört, dass ein führender Politiker eine Entscheidung getroffen hat, weiß man deshalb noch lange nicht, wer die Entscheidung getroffen hat – Lady Thatcher vielleicht ausgenommen.“
Prof. Dr. Caspar Hirschi hält den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Eine gekürzte Version des Beitrags veröffentliche am 8. Januar 2014 die FAZ unter dem Titel Transparenz ist nur eine andere Form von Intransparenz.
Danke für den Beitrag. Dazu folgende Anmerkungen:
Die sich aus ihrer o.a. unterschiedlichen Verwendung ableitbaren Verfahren (als reguläre Verfahren und dementsprechend irreguläre Rituale) sind je nach Zielsetzung im Hinblick auf das Zustandekommen ihrer Ergebnisse zu unterscheiden in
a) Regelverfahren (reguläres Verfahren) für verfahrensorientierte Ergebnisse aus vom Ergebnis unabhängigen Verfahrensgrundsätzen, welche deshalb als wissenschaftliche oder im gesellschaftspolitischen Sinne als demokratische Verfahren für demokratische Prozesse mit demokratischen Ergebnissen für die Allgemeinheit bezeichnet werden können, und
b) Ergebnisverfahren (irreguläres Ritual) als ergebnisorientierte Verfahren aus das Ergebnis herbeiführenden Verfahrensgrundsätzen, welche deshalb als unwissenschaftliche oder im gesellschaftspolitischen Sinne als undemokratische Verfahren für dikatatorische Prozesse mit bedarfsbezogenen Ergebnissen für den Einzelfall bezeichnet werden können.
Wo bei a) die gesetzte und deshalb vorhersagbare Regel das Verfahren für alle Beteiligten gleichermaßen verbindlich ordnet, ersetzt bei b) der sich jederzeit ändern könnende und damit unvorhersehbare Wunsch des Verfahrensleiters die nur für den Verfahrensabhängigen verbindliche aber jederzeit dynamistische Regel.
In Bezug auf das »juristische Arbeitsbeschaffungskartell« sind daher folgende Klassen von Juristen zu unterscheiden:
Rechtswissenschaftler entwickeln grundlegendes Allgemeinrecht durch die Anwendung der wissenschaftlichen Mittel der Verifikation und Falsifikation als objektive Verfahrensgrundsätze auf der Grundlage neutraler, eindeutiger und überprüfbarer Erkenntnisse und leiten daraus Rechtsprechung für den Einzelfall ab (Verfahrensjurisprudenz). Ihre Sprache beruht auf der präzisen, objektiven und eindeutigen Anwendung juristischer Begriffe und ist dementsprechend »juristisch«.
Rechtsscharlatane entwickeln einzelfallbezogenes Bedarfsrecht durch die Anwendung der manipulativen Mittel der Einrede und Abrede als subjektive Verfahrensgrundsätze auf der Grundlage parteiischer, ambivalenter und dogmatischer Glaubenssätze und leiten daraus Rechtsetzung für die Allgemeinheit ab (Ergebnisjurisprudenz). Ihre Sprache beruht auf der unpräzisen, subjektiven und mehrdeutigen Anwendung juristischer Begriffe und ist dementsprechend »jurlisch« (in Anlehnung an denglisch oder gibberisch).
Der Unterschied zwischen beiden Varianten der – technisch durchaus gleiche Parameter verwenden könnenden – Verfahrensgrundätze beruht also auf der Beantwortung der Frage: Wissenschaft/Demokratie JA oder NEIN? Jede Antwort ist demnach selbst Verfahrensgrundatz der weiteren Verfahren und aller darauf basierenden Prozesse mit den daraus entstehenden Ergebnissen.
Der Charakter des Verfahrensgrundsatzes bestimmt also immer den Charakter des Ergebnisses und umgekehrt. Aus undemokratischen Verfahren kann demnach nie Demokratie entstehen, ebenso wie eine Demokratie nie undemokratische Verfahren begründen kann oder: »Ex iniuria ius non oritur« (Aus Unrecht entsteht kein Recht).
Und vielleicht ist dies auch der Grund für die angesichts der deutschen Rechtswirklichkeit wohlverständliche Irritation der Juristen, deckt Luhmann doch mit seiner Aussage, dass »Verfahren (…) in keinem Zusammenhang mit der Sachgerechtigkeit von Entscheidungen« stünden, die gängige Arbeitsweise deutscher Juristen auf oder macht sich zumindest des Durchblicks verdächtig; arbeitet doch die deutsche Jurlisprudenz nach wie vor ergebnisorientiert nach der Freislerschen Doktrin: »Recht ist, was […] nützt« und »Das Recht muss dynamistisch bleiben.«, und besteht auf der heiligen Unfehlbarkeit ihrer diesbezüglichen Verfahrensregeln, deren innerer Charakter geheim zu bleiben hat für den Normadressaten bzw. das Opfer ihrer Unrechtsprechung, während die Behauptung, ihre Entscheidungen seien sachgerecht, mit den angeblich gerechten Verfahrensregeln begründet wird, welche im Interesse der »Rechtssicherheit« auch folgende Bonmots begründen: »… auch rechtswidrig zustande gekommene Entscheidungen können vollstreckt werden.« (LG Stade 11c Qs 65/11), oder: »… ein Verwaltungsakt nicht deshalb schon nichtig ist, weil er der Gesetzesgrundlage entbehrt« (BFH IV B 13/81)
Zum Ergebnisverfahren unter b) ist noch anzumerken, dass solche Verfahren vor allem im juristischen Bereich nach außen zwar oft auf regulären Regeln beruhen und deshalb als vom Ergebnis unabhängig betrachtet bzw. deklariert werden, diese jedoch oftmals der »freien Auslegung« bis in ihr Gegenteil durch Juristen zugänglich sind, und so auf ungeschriebene Weise zu irregulären Ritualen umgedeutet werden, deren Erkennen noch dadurch erschwert wird, dass sich selbst diese ungeschriebenen Ad hoc-Regeln jederzeit nach Belieben der Verfahrensleiter ändern können, selbst mitten im Verfahren. Sehr gut beschrieben hat dies Willi Geiger, ehemaliger Sonderstaatsanwalt der Nationalsozialisten und später Richter am Bundesverfassungsgericht(!) mit seiner sicher nicht kritisch zu bezeichenden Anleitung zu derartigen »Verfahren«¹:
»Es ist für die unmittelbar Beteiligten objektiv nicht mehr möglich, den Ausgang eines Rechtsstreits zu kalkulieren. (…) Das genaue Ergebnis ist schlechthin unberechenbar geworden. (…) Ein der Entlastung der Gerichte dienlicher Rat könnte bei dieser Lage der Dinge sein: Führe möglichst keinen Prozeß; der außergerichtliche Vergleich oder das Knobeln erledigt den Streit allemal rascher, billiger und im Zweifel ebenso gerecht wie ein Urteil.«
¹ DRiZ 1982, 325.
Lieber Herr Hirschi,
vielen Dank für diese spannende Erweiterung Ihres FAZ-Artikels. Die Ausführungen zur gewissermaßen autokatalytischen Tendenz von Transparenz scheinen mir sehr bedenkenswert. Transparenz ist ideengeschichtlich betrachtet ja in der Tat ein Versuch, Komplexität, bzw. historisch konkret: Unsicherheit und Ungewissheit, zu reduzieren, indem sie Misstrauen in Techniken der Kontrolle und Registratur übersetzt.
Bei alledem bin ich mir nur nicht sicher, ob Luhmanns Verfahrenskonzept hierfür in Anspruch genommen werden kann. Denn zwar grenzt Luhmann recht am Anfang seines Buches Verfahren von Ritualen ab, sein Hauptkritikpunkt ist aber (das schreiben Sie ja auch), dass ein Verfahren ganz im Gegensatz zum Ritual ergebnisoffen sein müsse, da es sonst keinen Bürger zur Teilnahme an diesem Verfahren motivieren könne und also nicht funktionieren würde. Darüber hinaus wird Luhmann dann aber in Legitimation durch Verfahren (LV) und in der kurz zuvor geschriebenen Politischen Soziologie (PS) nicht müde zu betonen, dass die Beteiligten Verfahren als ein „zeremonielles System der Interaktion betreiben“, um durch „die wechselseitige Übernahme impliziter Rollen“ diese Rollen sowie „Kompetenzen, Normen und Hintergrundauffassungen symbolisch zu bestätigen“ (PS, S. 392). Die Beteiligten – und darum ist deren Teilnahme so wichtig – verrichten hierin „unbezahlte[] zeremonielle[] Arbeit“ (PS, S. 392) und werden dabei sowohl als Zuschauer als auch als Teilnehmer „in Geschichten […] zum Miterleben eines dramatischen [!] Geschehens“ (LV, S. 195) hineingezogen. Die legitimierende Funktion von Verfahren, so scheint mir, ergibt sich für Luhmann nicht aus der instrumentellen, sondern aus der expressiven Dimension des Verfahrens, das „mit den Mitteln des Zeremoniells“ arbeitet (LV, S. 116). Luhmann setzt gewissermaßen auf die performativen Effekte der Konstruktion einer symbolischen Ordnung – gerade hierin bestünde dann die Gemeinsamkeit mit Ritualtheorien.
Auf das Verhältnis von Herstellung und Darstellung, das Sie oben auch ansprechen, hat Luhmann dabei, würde ich sagen, ein besonderes Auge gerichtet: So macht er deutlich, dass für die öffentlichen Plenarsitzungen längst gültig sei, dass das Treffen von Entscheidungen aus ihnen abgewandert sei, dennoch behalten sie „in der Darstellung des politischen Kampfes“ ihren legitimierenden Effekt (LV, S. 190), weil diese Darstellung als das „politische[] Drama schlechthin“ die „symbolische Identifikation“ erst ermöglicht (LV, S. 194). Für die Politik sei die Herstellung der Darstellung zentral, um die „Chancen für korrektes Ritual [!], für störungsfreies Aufzählen aller relevanten Werte, für ein Beschwören wichtiger Symbole oder gar für expressive Bravourleistungen“ zu erhöhen und so das stets Parteiliche ins Legitime zu verwandeln (PS, S. 279f.).
Letztlich, so wäre meine Schlussfolgerung, kann dies auch als Luhmanns Strategie verstanden werden, um wachsendem Misstrauen zu begegnen. Sein Buch „Vertrauen“ beschreibt nämlich die Probleme, die Transparenz aufwirft recht genau, ohne letztere freilich zu nennen: Transparenz als Modellierung des Misstrauens hat, wie auch Sie dies hier und ich andernorts beschrieben haben, eine Vielzahl von Regulierungstechniken zur Folge, die das Misstrauen aber gerade nicht reduziert, sondern die Basis des Vertrauenswürdigen immer schmaler werden lässt und auch immer mehr Informationen produziert – die Lage wird also noch unübersichtlicher und die ‚Misstrauensreaktionen‘ weiten sich aus, was letztlich das System destabilisieren kann. Die Techniken der Reduktion von Unsicherheit produzieren in Schlaufen der Kontroll- und Registraturmechanismen immer mehr Unsicherheit. Luhmann setzt dagegen, so würde ich ihn lesen, die Produktion von Vertrauen durch die Generierung einer symbolischen Ordnung, die dann sogar ein vereinfachtes Kontrollieren des politischen Betriebs mit symbolischen Mitteln ermöglichen soll. Mir scheint daher, dass Luhmanns Aktualität (auch) in seinem Versuch einer symbolischen Kompensation von Misstrauen und Unsicherheit liegt.
Mit den besten Grüßen und herzlichem Dank, dass Sie Luhmanns fast vergessenes Buch wieder ans Licht bringen,
Vincent Rzepka
PS: Die Zitate stammen aus:
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1983 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 443).
Luhmann, Niklas: Politische Soziologie. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp: Berlin 2010.