Die Pathogenese der liberalen Demokratie? Lesenotiz zu Philip Manows „Unter Beobachtung“

Sollte man das Bundesverfassungsgericht besser gegen Übergriffe des Gesetzgebers schützen? Vor dem Hintergrund der drohenden Wahlsiege der AfD in den ostdeutschen Bundesländern wird diese Frage seit einigen Monaten in Politik und Öffentlichkeit diskutiert. Ein Vorschlag des Bundesjustizministeriums, die bisher nur einfachgesetzlichen Regelungen zur Organisation des Gerichts in das Grundgesetz aufzunehmen, liegt inzwischen vor. Verhindert werden soll so vor allem, dass sich die Angstszenarien Polen und Ungarn, wo rechtspopulistische Mehrheiten die Institutionen des Rechtsstaats nachhaltig beschädigt haben, in Deutschland wiederholen. Die „Wächter der Demokratie“ müssen, so die konsequente Forderung, gegen die „Demokratiefeinde“ geschützt werden. Aber gestalten sich die Fronten tatsächlich so einfach?

Den Verdacht, dass das Verhältnis zwischen den Feind*innen und Freund*innen der Demokratie womöglich doch etwas komplizierter angelegt sein könnte, verfolgt Philip Manow nun in seiner Neuerscheinung „Unter Beobachtung – Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“. Manow wählt hierzu einen dezidiert ideengeschichtlichen Ansatz, indem er die Frage aufwirft, ob es „eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie“ gegeben habe (S. 9). Seine ebenso provokante Antwort ist ein entschiedenes Nein: schlichtweg daher, „weil es die liberale Demokratie weder als spezifische Vorstellung noch als distinktes institutionelles Ensemble gab“ (S. 11). Die Feind*innen der liberalen Demokratie sind für ihn insofern Produkte der liberalen Demokratie selbst: Erst ihre Institutionen führen überhaupt die Möglichkeit ein, sich gegen gerade diese historisch sehr spezifischen und vor allem neuen Arrangements zu positionieren. Wenn verstanden werden soll, worin die spezifisch „illiberale Demokratie“ eines Viktor Orbáns besteht, muss daher nachvollzogen werden, wie sich unsere eigene gegenwärtige Demokratiekonzeption von vorangegangenen Ideen unterscheidet.

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KRITIK UND CORONA-KRISE

Die „Corona-Krise“ ist allgegenwärtig. Doch wer von Krise spricht, sollte von Politik nicht schweigen. In seiner öffentlichkeitshistoriographischen Studie Kritik und Krise bestimmte der Geisteswissenschaftler Reinhart Koselleck Krise als eine Lage, die ihrer Überwindung zustrebt, ohne dass verlässlich angegeben werden könnte, ob sich überhaupt umsetzbare Lösungsansätze dafür finden und tatsächlich eignen. Eine Krise immerhin endet so oder so, die Frage ist nur wann und wie. Es liege „im Wesen einer Krise“, so Koselleck, „daß eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen. Und es gehört ebenso zur Krise, daß offen bleibt, welche Entscheidung fällt.“

Der bekanntlich vom Ausnahmezustands- und dezisionistischen Politiktheoretiker Carl Schmitt inspirierte Koselleck wusste, dass jede öffentliche Behandlung einer „Krise“ ihrerseits immer schon Folge einer politischen Festlegung ist: der Feststellung des Krisenzustands. Und noch genauer besehen setzt die Entschlossenheit, sich der Krisenbearbeitung durch beschleunigende Zuspitzung oder aber durch therapeutische Reformen anzunehmen, zwei politische Entscheidungen voraus. Erstens, dass die als „Krise“ bezeichneten Phänomene überhaupt in einem politischen Deutungsrahmen beschrieben werden sollen. Zweitens, dass diese Phänomene durch die Erzwingung kollektiver Verbindlichkeit der für geeignet erachteten Maßnahmen wenigstens partiell zu behandeln seien. (mehr …)

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