Im Rahmen unseres gemeinsam mit Praefaktisch veranstalteten Kant-Schwerpunkts zeigt Martin Welsch anhand eines Absatzes aus der Rechtslehre, dass man Kant auch lesen kann als Kritiker repräsentativer Demokratien, die vorgeben, Souveränität auszuüben. Eine Übersicht über alle Beiträge des Schwerpunkts findet sich hier.
Kants ‚Staatsrecht‘ in der ›Metaphysik der Sitten‹ von 1797 ist einer der erstaunlichsten Texte in der Geschichte der modernen repräsentativen Demokratie. Rezeptionsgeschichtlich betrachtet hat er Sieyes’ Lehre von der repräsentativen Demokratie und dem französischen Verfassungsdenken in Deutschland „die nachhaltigste Wirkung“ gesichert (H. Hofmann). Und auch heute noch wird das ‚Staatsrecht‘ weitgehend einhellig als Plädoyer für die moderne repräsentative Demokratie gelesen, wie wir sie kennen. Doch bei näherem Zusehen legt der Text, so meine These, die schärfste Analyse und Kritik der demokratischen Moderne nach 1789 vor.
Dies blieb in der gut 200-jährigen Rezeptionsgeschichte des ‚Staatsrechts‘ unerkannt. Ja man nahm Kants scharfe Kritik der repräsentativen Demokratie noch nicht einmal wahr, sondern deutete den Text eben nur – ironischerweise – als enthusiastische Parteinahme für Sieyes’ Lehre vom repräsentativen Staat und als philosophische Affirmation des französischen Verfassungsdenkens. Diese Fehllektüre ist allerdings nicht dem Zufall geschuldet. Sie ist durch Kants ‚Staatsrecht‘ größtenteils selbst provoziert – und zwar durch eine philosophische Rhetorik, die meines Erachtens einen Höhepunkt und ein Glanzstück des Kantischen Schaffens darstellt.
Bekannt ist Kants Kants späte „Rechtslehre“ als „spröde, sperrige Spätschrift, die kompositorisch unausgewogen und bisweilen fahrig in der Gedankenführung“ ist (W. Kersting). So wurde die immer wieder beklagte Problemverfassung der Schrift schon früh auf die angebliche Senilität des Autors zurückgeführt. Später machte man chaotische Vorgänge bei der Drucklegung dafür verantwortlich. Doch genau diese Verfasstheit des Textes ist es, welche die Leserschaft gezielt in die Irre führt. Die Irritationen, welche immer wieder als Textdefekte oder philosophische Denkfehler bemängelt wurden, sind in Wahrheit Texthinweise. Sie regen zu einer Gegenlektüre an, in der sich die auf Anhieb sichtbare (exoterische) Darstellungsebene des Textes im dreifachen Hegelschen Sinn aufhebt: Sie wird in ihrer Falschheit erkennbar gemacht und verneint, zugleich aber auch bejaht und auf eine höhere Stufe gehoben.
So verhält es sich auch mit dem am meisten zitierten, doch am wenigsten interpretierten Satz des ‚Staatsrechts‘:
„Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen.“ (§ 52,3)
Kurz nach diesem Satz ist eine Art Sollbruchstelle integriert, die das demokratische Repräsentativsystem Frankreichs als System gewollter Freiheitsverneinung erkennen lässt; eine Stelle, die zugleich aber auch in die Richtung eines alternativen Systems der Volkssouveränität deutet. Der Schlüsselsatz zum repräsentativen System bildet nämlich mit einem weiteren Satz den letzten Absatz im Haupttext des ‚Staatsrechts‘; und in diesem weiteren, zweiten Satz ist ein Element eingebaut, das die gesamte abschließende Passage sowohl untergräbt als auch neu codiert. Dort heißt es:
„Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein) sich auch repräsentiren läßt, so repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“
Oberflächlich genommen scheint der Satz damit nur eine Pointe von John Lockes Philosophie der Volkssouveränität wiederzugeben, welche dem Verfassungsdenken von Sieyes bekanntlich als Basis diente. Demnach (J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, § 134) ist der ursprüngliche Souverän zwar das Volk; doch das Volk habe von seiner Souveränität allem voran dadurch Gebrauch zu machen, dass es sie in die Hände eines Stellvertreters lege, welcher die höchste Gewalt dann treuhänderisch auszuüben habe. Doch sobald sich ein derart vom Volk abgeordneter Stellvertreter-Souverän als Souverän in der Ausübung der Souveränität selbst repräsentieren lasse, also die ihm anvertraute Ausübung der Souveränität wiederum anderen Stellvertretern überantworte, falle die Souveränität augenblicklich wieder auf das Volk zurück (ebd., § 141). Entsprechend heißt es bei Kant in besagtem Satz:
„Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach […] sich auch repräsentiren läßt, so repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“
Im Kontext der abschließenden Passage des ‚Staatsrechts‘ wird damit zuerst einmal eine „elegante Lösung“ (D. Henrich) dargelegt, wie der Übergang von einer nicht-demokratischen zur demokratischen, genauer, zur repräsentativ-demokratischen Staatsform vonstatten gehen kann. Er findet einfach automatisch statt, die Souveränität fällt ohne weitere Aktion auf das Volk zurück. Davon handelt die abschließende Passage äußerlich betrachtet (exoterisch).
Berücksichtigt man allerdings ein scheinbar unbedeutendes und deshalb wohl bisher stets überlesenes Detail, so eröffnet sich die Möglichkeit einer ganz anderen Lektüre. Denn wie es in Kants Rhetorik oft der Fall ist, wird das Entscheidende an einer ganz unscheinbaren Stelle gesagt, nämlich ganz beiläufig in einer Einklammerung. Mit dieser Klammer lautet die Passage des Satzes nun wie folgt:
„Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein) sich auch repräsentiren läßt, so repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“ (Kursivdruck: v.Vf.)
Die Souveränität fällt demnach nicht nur dann auf das Volk zurück, wenn sich ein nicht-demokratischer Stellvertreter-Souverän repräsentieren lassen will („König“ oder „Adelstand“), sondern auch dann, wenn das Volk („der democratische Verein“) die ihm ursprünglich zukommende Souveränität in die Hände eines solchen Stellvertreters legen möchte, sei dieser nun eine Einzelperson oder eine parlamentarische Körperschaft. Somit affirmiert der zweite Satz Lockes und Sieyes’ Modell der Volkssouveränität nur scheinbar. Tatsächlich bringt er es zur Auflösung: Das Volk kann seine Souveränität nicht delegieren.
Nimmt man die Einklammerung also beim Wort, so wird meiner Interpretation zufolge in der ‚Staatsrecht‘-Lektüre ein finaler Anfangsgrund der Volkssouveränität erkennbar: der doppelte Satz von der Unmöglichkeit der Fremdrepräsentation des Volkes als Souverän und Gesetzgeber einerseits sowie – interpretatorisch darüber hinausgehend – von der Notwendigkeit der Selbstrepräsentation des Volkes als eben dieser Souverän und Gesetzgeber andererseits.
Dieser Anfangsgrund ist äußerst gehaltvoll: Zum einen legt er eine Fundamentalkritik an jeder nicht-demokratischen Herrschaft vor, aber auch an der modernen repräsentativen Demokratie. Beide sind demnach als Herrschaftsformen in gewisser Weise unmöglich, womit nicht nur dem preußischen Obrigkeitsstaat, sondern auch dem französischen Repräsentativsystem die Legitimation streitig gemacht wird. Zum anderen behauptet der Anfangsgrund aber auch, die radikaldemokratische Volkssouveränität Rousseaus sei die einzig mögliche und zugleich die einzig wirkliche Form souveräner staatlicher Herrschaft. Alle anderen Formen der Souveränität hätten in der Menschengeschichte bloß scheinbar bestanden; herrschend seien bisher immer nur die ursprünglich souveränen Völker gewesen, auch wenn sie sich dies womöglich nicht haben eingestehen wollen.
Die zwei Glieder des Anfangsgrundes möchte ich nun ausgehend von der Freiheitsphilosophie Rousseaus näher erläutern. – Zuerst stellt sich die Frage, weshalb und inwiefern die Fremdrepräsentation des Volkes als Souverän unmöglich ist. Rousseaus Antwort, aber auch die allgemein freiheitsphilosophische, lautet: weil solch eine Delegation Sklaverei aus Freiheit bedeutet. Souveräne Herrschaft als Form letztinstanzlicher Willensbestimmung ist vom neuzeitlichen Freiheitsgesichtspunkt aus betrachtet nämlich nur durch eine Autorisation möglich. Der Beherrschte muss sich zum Autor der, und zwar aller Handlungen des Herrschers machen, damit dieser seinen Willen in letzter Instanz bestimmen kann und der herrschende Wille somit zum höchst-überlegenen, sprich: souveränen Wille wird. Dies gilt freilich nicht nur für die staatliche Souveränität, sondern für Herrschaft überhaupt (wie Rousseau dies im ›Contrat Social‹ im Kapitel über die Sklaverei dargelegt hatte). Vom Freiheitsgesichtspunkt aus betrachtet ist die Unmündigkeit naturaliter mündiger Menschen nur als Freiheitspraxis möglich, also nur, mit Kant gesprochen, als selbstverschuldete Unmündigkeit. Und ein anderes Wort dafür ist: Sklaverei aus Freiheit.
Unter diesen Vorzeichen muss man sich dann auch – und auch bei Kant – den Zustand unter einer nicht-demokratischen Souveränität vorstellen: als einen, in dem die Menschen sich alle ausnahmslos qua ‚politischer‘ Autorisation ihrer Freiheit quasi vertraglich entledigt und dadurch einen Staat letztinstanzlich fremdgesteuerter Sklaven konstituiert haben. Das Repräsentativsystem Frankreichs scheint zumindest in dieser Hinsicht nur ein weiteres System der Freiheitsverneinung zu sein. Dessen angeblich demokratisches Prinzip der Repräsentation ist nämlich kein anderes als jenes Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. So gesehen steht das System Frankreichs auch aus Kantischer Sicht dafür, entgegen allem revolutionärem Enthusiasmus und allem Pathos der Volkssouveränität, denselben Fehler trotz besseren Wissens schlicht zu wiederholen: eine bessere, nun endlich demokratische Form der Herrschaft mit dem alten, autoritären Prinzip der Freiheitsverneinung, nämlich der eigentlich unmöglichen Delegation der Souveränität, konstituieren zu wollen. Die alten defizitären Strukturen werden durch die neue Form lediglich auf Dauer gestellt.
Kant und Rousseau halten jedoch eine entscheidende Pointe bereit, die dem Ganzen eine überraschende Wende gibt – eine Wende, die meines Wissens erst Kant mit dem text-rhetorischen Programm seines ‚Staatsrechts‘ in ihrer vollen Konsequenz erkennbar macht. Die Pointe lautet schlicht, dass eine Freiheitsverneinung aus Freiheit vernunftrechtlich ein Ding der Unmöglichkeit ist: „ein Vertrag […], durch den [… jemand] auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein, [… ist] in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig“ (§ 30,3). Diese Pointe ist entscheidend für das Urteil über alle nicht-demokratischen Formen der Souveränität, wie sie von der neuzeitlichen Tradition gedacht wurden: Als Herrschaftsformen sind sie allesamt unmöglich – doch unmöglich ist auch das französische Repräsentativsystem. Freiheitsphilosophisch widerspruchsfrei kann es ein derartiges System abgegebener Souveränität und verneinter Freiheit nicht geben.
Man könnte dies allerdings leicht so verstehen, nicht-demokratische Staaten sowie moderne repräsentative Demokratien gäbe es überhaupt nicht und hätte es auch nie gegeben. Dem ist offenbar nicht so. Vielmehr handelt es sich um politische Systeme, für die ein ganz spezifischer Grundwiderspruch konstitutiv ist: Faktisch sind sie auf einer ‚politischen‘ Autorisation gegründet, welche die Fremdherrschaft konstituieren soll. Darum sind sie Systeme gewollter Freiheitsverneinung. Doch weil eine derartige Herrschaftskonstitution unmöglich ist, kann die Fremdherrschaft nur als Scheinherrschaft bestehen. Tatsächlich herrschend sind die jeweiligen Gemeinwillen der Völker – auch wenn sie sich dem nicht bewusst sind, auch wenn sie sich darüber selbst täuschen mögen.
Dieser Grundwiderspruch jeder nicht-demokratischen Herrschaft tritt in der modernen repräsentativen Demokratie schließlich als Verfassungswiderspruch offen zutage: Es handelt sich um Systeme deklarierter Volkssouveränität, deren Verfassungen effektive Verfahren der Willensbildung und -ausübung bereitstellen; doch die moderne repräsentative Demokratie wie wir sie kennen ist auch eine Herrschaftsform, in der Staatsbürger ihre Kompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten qua ‚politischer‘ Autorisation regelmäßig von sich geben und sich somit als souveräne Akteure aus dem politischen Geschehen selbst exkludieren – und trotzdem in letzter Instanz herrschen.
Dr. Martin Welsch ist Akademischer Rat an der Bergischen Universität Wuppertal. Er arbeitet zur Rechts- und Staatsphilosophie, zur Philosophischen Rhetorik, Aufklärung und Anthropologie sowie zur Kritischen Theorie. Diese Kant-Lektüre basiert auf seiner Monographie: Anfangsgründe der Volkssouveränität. Immanuel Kants ‚Staatsrecht‘ in der ›Metaphysik der Sitten‹, Frankfurt am Main: Klostermann, 2021