Immanuel Kant wäre im April dieses Jahres 300 Jahre alt geworden. Der Theorieblog begeht das Kant-Jahr 2024 mit einem Schwerpunkt, der Kant als genuin politischen Philosophen gewidmet sein soll. Der Schwerpunkt erscheint in Kooperation mit Praefakisch und besteht aus insgesamt vier Texten. Den Auftakt macht heute Tamara Jugov, die Kant als Vertreter eines nichtidealen Republikanismus vorstellt. Später am Tag folgt Andrea Esser, die Kants Fortschrittsbegriff diskutiert. Am 26. September wird dann Martin Welsch dafür plädieren, Kant als Kritiker der repräsentativen Demokratie zu verstehen und Martin Brecher nach der Aktualität von Kants Plädoyer für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit vor dem Hintergrund aktueller Debatten fragen. Alle Texte erscheinen zeitgleich auf dem Theorieblog und auf Praefaktisch. Viel Spaß beim Lesen und Diskutieren!
Das Interesse an Kants politischer Philosophie ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Galt Kants Rechtslehre (der erste Teil seines 1797 erschienenen Spätwerks Metaphysik der Sitten: RL) im letzten Jahrhundert noch als ein altersschwaches Werk, das in seiner theoretischen Strahlkraft an die drei Kritiken nicht heranreiche, hat sich diese Einschätzung in den letzten Jahrzehnten geändert. So haben Bernd Ludwigs überzeugende Neuedition der Rechtslehre, Arthur Ripsteins großartiges Buch Force and Freedom, das Kants Rechtslehre systematisch rekonstruiert und ins Gespräch mit zeitgenössischen Positionen der anglo-amerikanischen politischen Philosophie bringt, sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung sowohl eines „Kantischen Konstruktivismus“ als auch eines „Kantischen Republikanismus“ im deutschen Sprachraum für ein neu entfachtes Interesse an Kants politischen Schriften gesorgt. Insbesondere in den politik- und rechtstheoretischen Überlegungen eines „kritischen“ Republikanismus Frankfurter Provenienz bildet Kants Republikanismus eine wichtige Achse etwa in den Arbeiten von Ingeborg Maus, Peter Niesen, Oliver Eberl und Rainer Forst.
Kants Republikanismus gilt dabei ebenso wie seine Skizze einer globalen Völkerrechtsarchitektur als ein zentraler und auch heute noch aktueller Teil seines Œuvres: Als „höchstes politisches Gut“ identifiziert Kant zu einer Zeit von Kriegen und Konflikten den „ewigen Frieden“. An diesen gelte es sich kontinuierlich anzunähern. Nur ein rechtlich verfasster Friedenszustand vermag es, den ungerechten, da rechtlich nicht geregelten, Naturzustand zu überwinden. Und um den Frieden international zu realisieren, so Kant 1795 in seiner berühmten Schrift Zum Ewigen Frieden (ZeF), bedarf es der internen Organisation von Staaten in Form von „Republiken“. Denn nur republikanisch verfasste Staaten, so Kant, würden die Entscheidung über Krieg und Frieden ihren Bürger:innen überlassen und die freien und gleichen Bürger:innen einer Republik würden sich sehr gut überlegen „ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (ZeF AA 8: 351). Diese These eines „demokratischen Friedens“ wurde vielfach diskutiert. Sie erscheint uns heute vor dem Hintergrund der zwischenstaatlichen Aggressionen durch Autokratien, oder von (nicht minder gewalttätigen) internen Konflikten wie aktuell im Sudan, wieder auf schreckliche Weise relevant. Weiter fordert Kant, dass sich Republiken international zu einem „Völkerbund“ zusammenschließen, um Kriege zu unterbinden und zwischenstaatliche Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen. Nicht zuletzt greift er mit dem „Weltbürgerrecht“, welches das Verhältnis zwischen Einzelpersonen und fremden Staaten regulieren soll, auf eine solche globalisierte Rechtsform vor, der wir auch heute noch – etwa mit Bezug auf die Regulierung globaler privatrechtlicher Interaktion oder von Migration – dringend bedürfen. Auch mit Blick auf die politische Philosophie lässt sich Kant dabei als Freiheits- und Vernunftphilosoph bezeichnen: Die internationale rechtliche Friedensordnung wird durch die Vernunft identifiziert und ist in der Vernunft sowie der Freiheit des Einzelnen normativ verankert.
Doch während die von Kant skizzierte globale Völkerrechtsarchitektur sich nicht allein in den Feierstunden zu Kants 300. Geburtstag bleibender Relevanz erfreut, ist die damit etablierte Art und Weise über globale Gerechtigkeit nachzudenken auch in den Fokus deutlicher Kritik gerückt. Insbesondere, so eine wichtige Stoßrichtung der Kritik, zeichne sich Kants politische Philosophie durch einen übertriebenen „Utopismus“ aus. Kants Überlegungen zu einer gerechten Weltordnung hätten „Idealtheorien“ Rawlsscher Prägung maßgeblich inspiriert. Eine derartige ideale Theoriebildung sei aber eben nicht die richtige Art der normativen Orientierung für die nichtidealen, realen und drängenden Problemlagen (stellvertretend für viele vgl. Sen). Die Kantische Philosophie verkenne „das Politische“ der politischen Philosophie, so ein weiterer Vorwurf, und letztlich betrieben Ansätze in der Tradition Kants eine Art „angewandte Moralphilosophie“ (stellvertretend für viele, vgl. Williams).
Gegen solche Bedenken möchte ich in diesem Beitrag ein kurzes Plädoyer dafür liefern, dass Kant seinen Republikanismus ganz dezidiert von einer Idee der Ungerechtigkeit her entfaltet, nicht von einem Ideal der Gerechtigkeit. Gegen den verkürzenden Fokus auf die staats- und völkerrechtliche Ausgestaltung von Kants Republikanismus habe ich in meinen Arbeiten versucht, dessen macht- und beherrschungstheoretischen „Unterbau“ stärker herauszuarbeiten. Gelingt diese Argumentation, müssen wir damit beginnen, Kant stärker als einen von nichtidealen Beherrschungsverhältnissen her denkenden Gesellschaftstheoretiker zu lesen (diese Argumentation entwickle ich ausführlich in meinem Buch Geltungsgründe globaler Gerechtigkeit).
Kants Republikanismus wurde bisher primär staats- und völkerrechtlich rezipiert. Dies überrascht nicht, denn Kants Charakterisierung der „reinen Republik“ als einzige Verfassungsform, die Gerechtigkeit und Frieden zu realisieren vermag, zeichnet eine solche staatliche Legitimitätstheorie, die uns in vielen Elementen überzeugend scheint, so etwa in ihrem normativen Individualismus, in der Forderung nach dem Prinzip der Gewaltenteilung, dem Rechtsstaatsprinzip oder in dem offensichtlich vertretenen Ideal einer demokratischen Volksherrschaft. Gleichzeitig bleiben in Kants Staats- und Völkerrecht viele wichtige Fragen offen: Obschon die republikanische Staatsform letztlich die Gleichheit und Freiheit Einzelner realisieren soll, bleibt Kants Konzeption individueller Widerstandsrechte gegen ungerechte Staaten äußerst restriktiv. Obwohl Kant die Französische Revolution glühend bewundert, spricht er sich in der Rechtslehre gegen Revolutionen aus. Obwohl Kant seine Vertragstheorie im einzig „ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende(n) Recht“ der individuellen „Freiheit als Unabhängigkeit“ verankert, gilt der Bürgerstatus der kantischen Republik explizit nicht für Frauen und Besitzlose. Und obwohl Kant sich an anderer Stelle rassistisch äußert, lehnt er den Kolonialismus in der Rechtslehre explizit ab.
Solche Fragen zu seiner „idealen“ Staats- und Völkerrechtstheorie lassen sich meiner Meinung nach erst dann zufriedenstellend beantworten, wenn wir genauer betrachten, wie Kant die normativen Defizite der Alternative – also eines Zustands ohne Recht und ohne Republiken – versteht. Wie viele Vertragstheoretiker vor ihm entwickelt Kant die von ihm postulierte Pflicht zum Eintritt in staatliche Institutionen als Antwort auf die normativen Defizite des sogenannten Naturzustandes. Der zentrale normative Missstand des kantischen Naturzustands liegt in der dort notwendigerweise auftretenden Existenz von Beherrschungspraktiken. Den Naturzustand versteht Kant dabei als einen privatrechtlich geregelten Zustand; Personen können hier Rechte (etwa auf äußeres Eigentum) in einem „provisorischen“ Modus beanspruchen. Dabei – dafür sorgt die Rechtsform selber – schaffen sie für alle anderen jedoch neue normative Verpflichtungen, etwa sich des beanspruchten Rechtsgegenstands zu enthalten. Unklar ist dabei, so Kant, woher genau Personen im Naturzustand die Autorität haben, andere derartig zu verpflichten. Durch unilaterale Rechtstitelerhebungen schwingen sich Personen im Naturzustand ganz notgedrungen zu kleinen Mini-Souveränen gegenüber allen mit ihnen über Interdependenzverhältnisse verbundenen Personen auf, ohne dazu irgendwie autorisiert zu sein. Dies führt sowohl zu Problemen interpersonaler als auch struktureller Beherrschung. Und erst durch die empirisch vermittelten und letztlich strukturellen Effekte eines solchen provisorischen privatrechtlichen Geflechts entsteht Kant zufolge die Notwendigkeit zum Eintritt in eine republikanische Verfassung. Um Kant tatsächlich als Gewährsmann eines nichtidealen Ansatzes zu etablieren, müssen wir uns also vor Augen führen, dass Kant den strukturellen und empirisch vermittelten Charakter der Machtproblematik in seiner Rechtslehre überraschend stark betont. Entsprechend versteht er die normative Problematik des Naturzustandes primär als eine beherrschungstheoretische.
Für diese Interpretation lassen sich weitere Belege anführen, die ich hier freilich nur kurz anreißen kann. Erstens verletzen die Verhältnisse im Naturzustand Kant zufolge zwar das einzig „angeborene“ natürliche Freiheitsrecht. Die „Freiheit (als Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür)“ spezifiziert Kant weiter als „die Qualität des Menschen sein eigener Herr (…) zu sein“ (RL AA 6: 237f.). Hier verankert Kant seinen Republikanismus in einem solchen Meta-Recht, das die Freiheit von Beherrschung – also einen bestimmten sozial gesicherten und modal robusten Status gegenüber Dritten – fordert. Damit ist der normative Kern der Kantischen Rechtslehre eben kein vorpositives individuelles Recht, das natürliche Ansprüche schützt. Vielmehr ist es ein relationales und soziales Recht, das lediglich in korrektiver Abhängigkeit zu bereits bestehenden Verteilungen inhaltlich ausbuchstabiert werden kann.
Zweitens glaube ich, dass der behandelte Gegenstand von Kants Rechtslehre – nämlich die äußere Freiheit, beziehungsweise die „Freiheit der Willkür“ (RL AA 6: 216 vgl. 6: 226) von Personen – im Sinne einer allgemeinen Konzeption befähigender Macht, d.h. von „power to“ gelesen werden muss. Willkürfreiheit ist nicht als Handlungsfreiheit zu verstehen, etwa als die Freiheit zwischen Optionen oder Handlungen ungestört wählen zu können. Es geht vielmehr um das Vermögen, gewünschte Zwecke in der Welt aktualisieren zu können (hierfür spricht insbesondere, dass Kant Willkürfreiheit als einen Unterfall das „Begehrungsvermögens“ versteht).
Drittens versteht Kant Machtordnungen in der Rechtslehre in einem dezidiert strukturellen Sinne. Diese lassen sich ihm zufolge erst durch einen Fokus auf die empirisch vermittelten Effekte der freien Willkürausübung einer über Interdependenzbedingungen miteinander verbundenen „Multitude“ (RL AA 6: 313) von Personen theoretisch fassen. Nach Kant führt eine Menge unilateraler Rechtstitelerhebungen von Personen im Naturzustand notwendig zu strukturellen Überschüssen auf die Willkür Dritter. Diese Überschüsse nehmen in ihrer kollektiven Verschränkung objektive Qualität an und stellen damit nicht nur, wie Rainer Brandt sagt, „empirisch-apriorische Gegebenheiten“ (2015: 689) dar, sondern bilden auch das Problem, das Kant zu seiner politisch-institutionellen Perspektive auf moralische Fragen erst motiviert.
Erst wenn wir den kollektiven und strukturellen Charakter von Kants machttheoretischer Charakterisierung von „Ungerechtigkeit“ im Naturzustand in den Blick nehmen, können wir nachvollziehen (wenn auch nicht notwendigerweise rechtfertigen), warum Kant dem Schritt der Zusammenfassung einer „Multitude“ zu einer rechtlich verfassten Gemeinschaft für normativ so bedeutsam hält, dass er individuellen Personen kein Widerstandsrecht und Kollektiven kein Revolutionsrecht gegen den Staat zugesteht. Mit Blick auf die gesellschaftstheoretischen Wurzeln seines Arguments, die von dezidiert nichtidealen Verhältnissen ausgehen, gibt es also auch in Kants politischer Philosophie noch Neues zu entdecken.
Tamara Jugov ist Professorin für Praktische Philosophie an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie und der feministischen Philosophie. In ihrem Buch „Geltungsgründe globaler Gerechtigkeit“ entwickelt sie einen von Kants nichtidealem Republikanismus ausgehenden beherrschungsbasierten Ansatz zur Theoretisierung globaler Ungerechtigkeit.
Ein Übersicht über alle weiteren Beiträge zum Kant-Schwerpunkt gibt es hier.
erfreulich, dass solche terme wie „Kantischer Konstruktivismus“ zu einer festeren wendung im kant-diskurs geworden zu sein scheinen, – ich wartete seit anfang der 80ger darauf – , doch die „kontinuierliche Weiterentwicklung“ im sinne der eminenten dimension kantscher erkenntnis- u. urteilslehren, die logisch wie werk-genealogisch als ausgangspunkt für das weitere werk zu betrachten sind, von dem aus die normativen u. politischen einlassungen u. v. a. auch die widersprüche zw. kants pers. empfindungen u. seinen inhumanen stringenzen im werk (z. e. frieden, unbedingtes nur-die-wahrheit-sagen, und liefere man damit die eigene, unschuldige schwester einer mörderbande aus) hermeneutisch fruchtbar (normativ, „Geltungsgründe …“, krieg u. frieden, …) beleuchtet würden, vermag ich noch nirgends zu entdecken.