Wider das Pathos der Sachlichkeit: „Politische Romantik“

Am Wochenende vor den Osterfeiertagen versammelte die Kulturstiftung des Bundes im Frankfurter Goethehaus eine Melange aus arrivierten Gelehrten und intellektuellen Shootingstars, die den Zündstoff der „Politischen Romantik“ verhandelten. Mancher Besucher verstand es schon als Provokation, dass die Organisatoren in der Geburtsstadt der Kritischen Theorie einen Veranstaltungstitel wählten, der wohl ausgerechnet auf Carl Schmitts gleichnamige Streitschrift aus dem Jahr 1919 verweisen sollte. Der Ko-Kurator der Veranstaltung Stephan Schlak stellte in seiner Begrüßungsrede jedoch augenzwinkernd klar, dass die „gewittrigen Fahnen“ des Kongresses vor allem einen Kontrapunkt zur Alternativlosigkeitsrhetorik der Bundeskanzlerin darstellen sollten, durch deren Politikstil die „Gefahren eines romantisch-dionysischen Überschusses an der Staatsspitze dauerhaft gebannt“ seien. Die Tagung wollte deshalb aus ideengeschichtlicher, sozialtheoretischer und zeitdiagnostischer Perspektive ausloten, ob Politik nicht doch ein wenig mehr Leidenschaft vertragen könnte, als es die pragmatische Physikerin aus der Uckermark gemeinhin für wünschenswert hält.

Am Donnerstagabend eröffnete der Philosoph Peter Sloterdijk den Kongress mit einem Vortrag über „Politischen Ikarismus“. Die „moderne Realpolitik“ habe ein „Warnklischee“ konserviert, lautete gleich zu Beginn Sloterdijks Seitenhieb auf Carl Schmitt, welches besage, dass die Romantik „aus der Gegenwart in die rhetorische Gebärde, in die Ironie“ fliehe und ein Zerrbild vom Leben als einem „Ensemble von Okkasionen“ entwerfe. Doch seien solche Warnungen stets mit Vorsicht zu genießen, schließlich entpuppten sich die eifrigsten Realos am Ende allzu oft selbst als Radikalromantiker: So sei auch Schmitt ein „großer Warner, der vor sich selbst warnte“, gewesen. Sloterdijk entwickelte aus kulturhistorischer Perspektive die Denkfigur des „politischen Ikarismus“ und zielte damit auf die selbstzerstörerischen Herrschaftstechniken sogenannter „Charismokraten“, deren Selbststilisierung auf einer delikaten „Herkunftsanomalie“ aufbaue. Als ausgesprochene „Spezialität für Bastarde“ habe der politische Ikarismus seinen Ausgangspunkt in den „irregulären Geburtsbedingungen des Eroberers und des Erlösers“ genommen, in der gleichermaßen ungeklärten Zeugung von Alexander und Christus, aus denen die ikarischen Politiker das „Elixier einer überlegitimen Illegitimität“ bezögen. Sloterdijk erklärte den Renaissancepapst Rodrigo Borgia und den spätmittelalterlichen Volkstribun Cola di Rienzo kurzerhand zu transepochalen Zwischenhändlern, die den politischen Ikarismus noch für Charismokraten des 20. Jahrhunderts attraktiv gemacht hätten. Borgia habe als Papst Alexander VI. das Charisma des Eroberers mit dem des Erlösers in einer Person zu vereinen versucht. Am Aufstieg seines Bastards Cesare habe sich besonders das „Umschlagen des Geburtsmakels in das Charisma der Illegalität“ offenbart; ausgerechnet dieser „häretische Kern des bizarren Pontifikats“ diente Machiavelli später als Grundlage für seinen Principe. Von Colas tragischem Sturz, der mit seiner „kurzlebigen Fantasiepolitik“ beim römischen Volk schnell in Ungnade gefallen war, stellte Sloterdijk schließlich einen Zusammenhang zu Hitlers selbstzerstörerischer Megalomanie her. Der Besuch von Richard Wagners früher Rienzi-Oper sei dessen politisches Erweckungserlebnis gewesen: das „Warten des Wahns auf das Entgegenkommen des Realen“. Hier schloss sich der Kreis. Denn Schmitt habe als heilloser „Romantiker der Entschiedenheit“ den Versuch unternommen, mit jener „Bewegung des Realen eins zu werden“, und sei dadurch einer verhängnisvollen „Version der ikarischen Versuchung“ erlegen.

Der „Kronjurist des Dritten Reiches“ stand am Folgetag noch einmal im Mittelpunkt, als der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer zu einem „Lob des Okkasionalismus“ anhob. Der Gestus der wissenschaftlichen Schnörkellosigkeit werde bei Schmitt grundsätzlich aus zwei Richtungen durchkreuzt: Auf der einen Seite habe der im Ersten Weltkrieg erfahrene „Zustand der Belagerung Deutschlands“ seine „Idee der Ausnahme, der Suspension der Verfassungsbestimmungen“ verfestigt, andererseits hätten sich durch die Lektüre von Theodor Däublers Nordlicht „Motive einer kosmischen Ethik, d.h. eines mystisch vollendeten Geschichtsprozesses im Geiste“ in Schmitts Denken eingeschlichen. Die „erstaunliche Verbindung begriffslogischer Stringenz einer verwaltungsjuristischen Intelligenz mit einer quasi-religiösen Metaphysik des expressionistischen Literaten“ zeige einen „chiliastischen Impuls des frühen Denkens“. Trotz seiner „momentanistischen Fantasie“ habe Schmitt alles daran gesetzt, den „aus dem radikalen ästhetischen Reflex geborenen romantischen Augenblick“ als „Romantisierung der Wirklichkeit durch Wirklichkeitsflucht“ (Schmitt) zu diskreditieren. Doch damit habe er den subjektiven Okkasionalismus gerade „um sein entscheidendes Argument“ verfehlt: „nämlich dessen Opposition gegen die Idee, den Geist, die Teleologie“, denen Schmitt selbst verfallen sei. Schmitts Konservativismus richte sich gegen die „subversive Destruktion von ideellen Gehalten“ durch den surrealistischen Augenblick. Er habe „den Moment nicht dialektisch, sondern substantiell“ gedacht und auf Dauer stellen wollen. Daraus schlussfolgerte Bohrer: „Ernst- und Ausnahmefall werden Normalfall und Kontinuität.“ Hinter Schmitts Romantikkritik verberge sich vor allem die Enttäuschung, „dass sie sich nicht für seine politischen Zwecke einspannen“ lasse. Auf Bohrers Vortrag folgte eine prägnante Replik der Philosophin Juliane Rebentisch, die eine Linie „zwischen dem Bereich des Ästhetischen und des Praktischen“ einzog. Dass „mit der Entscheidung Normativität immer mitgesetzt“ werde, habe Schmitt „schlimmerweise übersehen“. Deshalb bildeten Demokratien auch keine substantielle Form heraus, sondern tendierten zu ihrer beständigen Veränderung.

Zuvor waren schon die beiden Weber-Biografen Jürgen Kaube und Joachim Radkau in den Ring gestiegen. Man einigte sich auf Weber als ambivalente Figur. Dessen notorischer „Affekt gegen Traditionalismus“ (Kaube) und das Diktum der Werturteilsfreiheit stellten keinen Widerspruch zu einem „Hin und Her zwischen ausschweifender Fantasie und lustvoller Selbstkasteiung“ (Radkau) dar. Radkau meinte, Webers Wissenschaftsethos sei denkbar weit entfernt gewesen von der „Drittmittel-Wissenschaft von heute“. Kaube plädierte „für eine Entprivatisierung“ und stärker sozial- wie ideengeschichtliche Deutung von „Max Webers Fragestellung“. Schon Webers Themenfindung sei „viel zu außengesteuert“ gewesen, „als dass man sein Wirken aus einem Guss erzählen“ könne. War Weber nun ein politischer Romantiker? „Nein“, entschied Kaube, denn Weber sei letztlich „zu sehr an Strukturkomponenten der Politik“ und einer „guten Analytik der modernen Gesellschaft“ interessiert gewesen. „Durchaus“, hielt Radkau dagegen, der „Meister der kalten Dusche“ sei immerhin ein „wissenschaftlicher Romantiker in exzessivem Maße“ gewesen: „Romantik als fantasievoll-grenzüberschreitende Wissenschaft“. Das klang wie eine Zauberformel aus längst vergangenen Zeiten.

Ein anderer Schwerpunkt war der Kapitalismus und seine Kritiker. Unter dem Titel „Dämonen des Kapitalismus“ forderte der Medienwissenschaftler Norbert Bolz den Regisseur Andres Veiel und den Germanisten Joseph Vogl mit der polemischen These „Politische Romantik ist Kapitalismuskritik.“ heraus. Das romantische Subjekt sei heute der Bobo, ein „Bourgeois, der sich gerne als Mitglied der Bohème“ maskiere. Kapitalismuskritische Intellektuelle litten unter „Statusinkongruenz“, weil sie „noch nicht einmal so viel verdienen wie ein Sparkassendirektor“. Letztlich handle die neue Version der politischen Romantik also von dem allzu menschlichen „Gefühl, betrogen zu sein“. Vogl widersprach vehement, „und zwar in allen Punkten“. Die „Urszene der Romantik“ finde sich vielmehr in Adam Smiths Beschwörung des Marktes als „romantischer Institution schlechthin“: der „unsichtbaren Hand“. Es folgte eine längere Kontroverse über die Frage, ob der Kapitalismus überhaupt steuerbar sei. Veiel zeigte sich dabei optimistischer als Vogl, denn er habe aus Gesprächen mit hochrangigen Persönlichkeiten aus der Finanzbranche schließen können, dass das kriselnde System „im Kern erschüttert ist“. Wie repräsentativ diese Gespräche waren, steht auf einem anderen Blatt. Für den Moment optierte Veiel in guter sozialdemokratischer Manier für den politischen Zwang zur Erhöhung der Eigenkapitalquote bei Banken und die Erhebung von Steuern auf Kapitalmarkterträge und Vermögen. Gegen seine beiden Widersacher fuhr Bolz eine etwas ominöse Trias aus System, Evolution und Risiko auf. Daraus lasse sich ableiten, dass sich die Wirtschaft und andere komplexe gesellschaftliche Prozesse nicht steuern, ja oft noch nicht einmal richtig verstehen ließen: „Es läuft – und manchmal läuft es nicht. Wenn es nicht läuft, ist das zwar ärgerlich, aber es geht dann schon irgendwie weiter.“ „Von Hoffnungsfiguren durchsetzt“, urteilte Vogl über Bolz‘ Loblied auf die Widerstandsfähigkeit des bundesrepublikanischen Sozialkapitalismus nach 1989 und hielt dagegen, dass die „höhere Elendstoleranz“ auch in der vermeintlich wohlstandsverwöhnten Bundesrepublik zur Signatur jener Epoche geworden ist, die nach der neoliberalen Wende einsetzte.

Die Abschlussveranstaltung mit dem Titel „Europa 2014“ war mit dem Politiktheoretiker Herfried Münkler, dem Staatsrechtler Christoph Möllers, der Publizistin Cora Stephan und der britischen 68er-Ikone Tariq Ali kunterbunt besetzt. Ali, schillernder Linkskolumnist des Guardian, hatte in seinem Einstiegsreferat zunächst die Abwesenheit des politisch-romantischen Elements im krisengebeutelten Europa beklagt. Ausgehend vom imperialen Zentrum der USA habe sich der neoliberale Kapitalismus zu einer globalen „religion with its mystical priests“ aufgeschwungen. Folglich werde das öffentliche Klima allerorten von „state intellectuals“ geprägt, die einer Politik der Alternativlosigkeit das Wort redeten und damit verschleierten, dass vor unser aller Augen ein „growing assault on diversity: socially, politically, and economically“ stattfinde. Auch wenn im Moment nicht allzu viel Hoffnung bestehe: „The least we can do is to criticize.“ In den Startlöchern warteten: Cora Stephan als Kritikerin der Methode Merkel, Herfried Münkler als an transhistorischen Krisenvergleichen interessierter Chronist des „Großen Krieges“ und Christoph Möllers als Jurist, der versiert über die eigenen Fachgrenzen hinaus zu blicken weiß. Doch kam die Diskussion auch aufgrund der missglückten Moderation von Franziska Augstein nicht recht in Gang.

Immerhin eröffneten Möllers und Münkler noch einen jeweils spezifischen kritischen Blick auf Alis politische Romantik. Münkler wies darauf hin, dass Alis Amerikakritik und die damit einhergehende „Engführung von Ökonomie und Politik“ in einer Tradition der Imperialismustheorie stünden, deren Protagonisten Luxemburg, Lenin und Kautsky sich retrospektiv nicht unbedingt als die besten Prognostiker erwiesen hätten. Er bestand auf der Eigenlogik des Politischen, die sich im Moment ganz trefflich an zwei unterschiedlichen Typen von Imperialität zeige: der amerikanischen Kontrolle von Geld-, Personen- und Wissensströmen und der dazugehörigen Ausweitung des anonymisierten Tötens im Drohnenkrieg einerseits, der sich am Beispiel der Krimkrise offenbarenden, martialischer daherkommenden russischen Kontrolle von Territorien andererseits. Möllers störte hingegen Alis romantisches Souveränitätsverständnis. Einem gegenwärtig vor allem auf die Ukraine gemünzten „Traum von der selbstbestimmten, wahren Alternative“ nachzuhängen, verdecke das „ambivalente Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus“. Mit diesen beiden Beiträgen endete die Tagung eher mit Aufrufen zur differenzierten Abwägung der komplexen Weltlage als mit romantisch enthusiasmierten Plädoyers.

Bleibt zu klären, ob sich der von der Kulturstiftung betriebene Aufwand gelohnt hat. Die Antwort lautet: ja, inhaltlich wie seismografisch. Ein publikumsoffener Kongress ist in regelmäßiger Wiederkehr allein deshalb notwendig, weil er die gesellschaftliche Relevanz sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschungserträge einmal plastisch anzeigen kann, auch wenn sich die forschungsgeldverwöhnten Bewohner des Elfenbeinturms gegen diese Einsicht sträuben. Zugegebenermaßen wird der Wissenschaftsbegriff bei solchen Veranstaltungen verkürzt und gelegentlich ad absurdum geführt. Themen und Panels müssen aufmerksamkeitsökonomisch aufgezogen werden, die eingeladenen Gäste haben oft einen ins Feuilleton und die breite Qualitätsmedienlandschaft hineinragenden Bekanntheitsgrad. Nichtsdestotrotz sind viele von ihnen führende Köpfe ihrer jeweiligen Profession und repräsentieren in der öffentlichen Debatte eine ganze Forschungslandschaft. Es ist schon wichtig, ob und von wem ein solches Schaulaufen nachgefragt wird, ob die Sozial- und Geisteswissenschaften also insgesamt „ziehen“ und mit ihren Problemanalysen gehört werden. Die Organisatoren hatten die „Politische Romantik“, mit den althergebrachten politischen Zuschreibungen gesprochen, breit genug aufgestellt: liberal, liberalkonservativ, republikanisch, sozialdemokratisch, marxistisch. Dafür war das Publikumsinteresse am Abschlusstag ein wenig enttäuschend. Fast gänzlich abwesend war eine interessierte Studentenschaft. Es ist müßig, über die Gründe zu spekulieren. Andererseits konnte die geschickte Orchestrierung des Kongresses ein grundsätzliches strukturelles Problem nicht verdecken: Obwohl Sahra Wagenknecht mit ihrer kapitalismuskritischen Faust-Interpretation zusammen mit Rüdiger Safranski am Freitagabend als Publikumsmagnet fungierte, war Juliane Rebentisch letztlich die einzige etatmäßige Wissenschaftlerin in einer Riege von Alphamännern. Einmal abgesehen von der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, wirkten die wenigen anderen Frauen auf den  Podien oft wie aus Proporzgründen „dazugesetzt“. Den Veranstaltern ist das nicht vorzuwerfen. Es sagt nur leider über die bundesrepublikanische Wissenschaftslandschaft mehr aus, als man(n) denkt.

 

Ein Kommentar zu “Wider das Pathos der Sachlichkeit: „Politische Romantik“

  1. Vielen Dank für den Beitrag! Das eigentlich „Romantische“ indes fehlt: Eine Merkelismus-kritische Tagung zur „politischen Romantik“ im intellektuellen Herzen der Alten Bundesrepublik zu veranstalten. Ein Schelm, wer gerade diesem Veranstalter nach dessen einleitenden Worten nicht zutraut, unser Biedermeier an einem konkreten Erinnerungsort auf einen semantischen Erinnerungsort bringen zu wollen. Warum, Matthias, sind denn übrigens die Beiträge von Enzensberger, Röhl und Aly über die in diesem Kontext sehr zwiespältige Rolle Friedemann Bedürftigs nicht besprochen, wenn du doch die dank Stipendium von Peter Hacks zur besten Faust-Kennerin des Postsozialismus avancierte Sarah Wagenknecht schon erwähnst? Und hat jemand diese großartige Performance des als Jürgen Habermas verkleideten Günter Wallraff aufgenommen? Die könnte man doch in den Beitrag einbinden. Wäre schön! Danke!!! Sehr schade jedenfalls, dass Augstein so kurzfristig für Jürgen Todenhöfer einspringen musste.

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