Am 5. Februar ist Robert Alan Dahl verstorben. In diesem Nachruf möchte ich einem Gedanken des französischen „Solidarismus“ folgen, auf dessen Bedeutung jüngst Pierre Rosanvallon hingewiesen hat. Diesem zufolge sind Individuen keine vereinzelten Einzelnen, sondern nehmen in ihrem Tun immer Vorleistungen der Gemeinschaft in Anspruch, in die sie hineingeboren werden. Sie werden damit sprichwörtlich Träger einer „sozialen Schuld“, die zu Gegenleistungen verpflichtet. Nun wird man in die Gemeinschaft der Demokratietheoretiker*innen nicht hineingeboren, sondern tritt ihr freiwillig bei. Dennoch ist es in dieser Gemeinschaft kaum möglich, nicht in irgendeiner Weise auf theoretische Konstruktionen, Begriffe oder Befunde zurückzugreifen, die ihren Ursprung bei Robert A. Dahl haben oder entschieden durch diesen geprägt wurden. Der Nachweis, dass selbst aktuellste Diskurse stets bei Dahl anknüpfen, zeigt, wie tief wir in Dahls Schuld stehen.
1) Postdemokratie
Es gibt wohl keine Fachvertreter*innen, denen Colin Crouchs Zeitdiagnose von 2004 nicht bekannt ist, die in zugespitzter Form den Zusammenhang von politischen Institutionen, Sozialstrukturen und (transnationalisierter) kapitalistischer Ökonomie formuliert hat. Aber schon mehr als fünfzig Jahre vor Crouch hatten Dahl und sein Co-Autor Charles E. Lindblom viele Facetten dieser Debatte vorweggenommen: In ihrem Mammutwerk Politics, Economics, and Welfare (1953) diskutieren sie bereits die Probleme verselbstständigter Bürokratien, von sozialer Herkunft geprägter ungleicher Politikteilnahme sowie die demokratieförderlichen/-hinderlichen Effekte kapitalistischer Märkte. In der Erstauflage scheint noch ein Optimismus der politisch linksliberal bis linkssozialdemokratisch orientierten Autoren durch: Vor dem Hintergrund der noch jungen „New Deal“-Reformen hielten sie weitreichende Änderungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auch auf dem Wege des kleinschrittigen „muddling through“ für möglich.
2) Macht und Herrschaft
Diese optimistische Auffassung prägt auch noch maßgeblich seinen empirisch-demokratischen Klassiker Who Governs? Democracy and Power in an American City (1961). Das Werk provozierte die “faces of power”-Debatte, die bis heute wichtigste demokratie- und sozialtheoretische Kontroverse um Macht und Herrschaft, in der sich u.a. Peter Bachrach und Morton S. Baratz mit dem Konzept der „Non-Decisions“ und Steven Lukes mit den Three Faces of Power kritisch an Dahl abarbeiteten. Dahl blieb nicht unbeeindruckt vom Argument, dass bestimmte Konflikte durch machtgestütztes Handeln gar nicht erst ausgetragen werden, und ergänzte die „vollständige Kontrolle der politischen Agenda“ bei seinen Mindestanforderungen demokratischer Systeme. Insofern tritt auch Jürgen Habermas in die Fußstapfen von Dahl, wenn er 2013 im „SPIEGEL“ die Merkel-Regierung kritisiert: „Europa befindet sich in einem Notstand, und die politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet. Deutschland tanzt nicht, es döst auf dem Vulkan.“
3) Demokratische Dilemmata
Überhaupt kommen demokratietheoretische Diskussionen über die Europäische Integration nicht ohne Dahl aus. Dessen Aufsatz A Democratic Dilemma: System Effectiveness versus Citizen Participation (1994) gehört zu den meistzitierten Texten in der Sozialwissenschaft überhaupt. Nie zuvor brachte jemand den grundlegenden „Trade-Off“ zwischen Entscheidungskapazität und Beteiligungsintensität politischer Systeme gezielter auf den Punkt als Dahl. Auch in Dilemmas of Pluralist Democracy: Autonomy vs. Control (1983) und Democracy and Its Critics (1989) konfrontierte er die Demokratie mit den Problemen, die in heutigen Gesellschaften ihren Weiterentwicklung erfordern. Und nie machte er es sich einfach mit den Lösungsvorschlägen. Entschlossen und häufig quer zum Mainstream formulierte er komplexe Vorschläge, die die demokratietheoretischen Herausforderungen in ihrer Vielschichtigkeit und ihren Paradoxien angingen.
4) Wirtschaftsdemokratie
Gerade in den USA der Reagan-Ära ab 1980 bedurfte es starken Eigensinns und theoretisch versicherten Selbstbewusstseins, um als Demokratietheoretiker für mitunter radikale Einkommens- und Machtumverteilung zu plädieren. In Dilemmas (s.o.) sowie in A Preface to Economic Democracy (1985) plädierte Dahl dafür, das Scheitern bürokratisch-zentralistischer Planung ernst zu nehmen, sich aber dennoch nicht mit der privatkapitalistischen Ökonomie abzufinden. Stattdessen warb er für einen offenen Lernprozess, in dem unterschiedliche Steuerungs- und Eigentumsformen zum Einsatz kommen sollten. Als übergeordnetes Ziel galt Dahl dabei immer die Beseitigung von privaten Machtzentren, die er für unvereinbar mit den Anforderungen demokratischer Regierung hielt. Dahl nahm insofern viele Aspekte vorweg, die heute als Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise in Debatten um „Wirtschaftsdemokratie“ wiederkehren.
5) Politisierung des Richterrechts
Wenn der Europäische Gerichtshof Streikrecht und Tarifverträge in mehreren EU-Mitgliedstaaten zurechtstutzt und ein hoch angesehener Politologe dazu aufruft, die entsprechenden Urteile nicht umzusetzen; wenn das Bundesverfassungsgericht im Halbjahresrhythmus angerufen wird, um die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung zu stoppen; wenn der Oberste Gerichtshof der USA die horrenden Wahlkampfausgaben von Unternehmen mit freier Meinungsäußerung von Individuen gleichsetzt, befinden wir uns offenbar in einer Blütezeit des politisierten Richterrechts. Wenn auch nicht von gleicher Prominenz wie andere zentrale Punkte seiner Demokratietheorie, formulierte Dahl diese Erkenntnis und ihre Bedeutung in seinem furiosen Aufsatz Decision Making in a Democracy: The Supreme Court As a National Policy Maker (1957) . Es wurde einer der ersten und meistzitierten Ansätze, der die originär politische Qualität der Richter-Entscheidungen herausgearbeitet hat. Ein Thema, über das sich nach ihm Ronald Dworkin, Fritz W. Scharpf oder Karen J. Alter die Finger wund geschrieben haben.
6) Politische Opposition
Bis heute ist Dahls Sammelband von 1966 Political oppositions in Western Democracies das Standardwerk über politische Opposition. Dahl entwickelte darin nicht nur eine brillante, historisch informierte Betrachtung politischer Gegensätze in den Vereinigten Staaten, sondern auch ein Raster zur Analyse von Opposition überhaupt. Sein Beitrag blieb so prägend, dass zwanzig Jahre später ein Aufsatz über Opposition mit der Frage überschrieben wurde: „Is there life after Dahl?”. Die messerscharfe Intuition ließ Dahl in seinem Epilog zum Sammelband jedenfalls ahnen, was sich wenig später als 1968er-Bewegung realisieren sollte: „Among the possible sources of alienation in Western democracies that may generate new forms of structural opposition is the new democratic Leviathan itself. By the democratic Leviathan I mean the very kind of political system the chapters in this book have described, a product of long evolution and hard struggle, welfare-oriented, centralized, bureaucratic, tamed and controlled by competition among highly organized elites, and, in the perspectives of the ordinary citizen, somewhat remote, distant, and impersonal even in small countries like Norway and Sweden. The politics of this new democratic Leviathan, as we have seen so often in the past chapters, are above all the politics of compromise, adjustment, negotiation, bargaining; a politics carried on among professional and quasi-professional leaders who constitute only a small part of the total citizen body; a politics that reflects a commitment to the virtues of pragmatism, moderation, and incremental change; a politics that is un-ideological and even anti-ideological“. Die wiederkehrende Aktualität dieser Beobachtung wird durch immer neue Bewegungen – seien es “Indignados”, “PIRATEN”, “Fünf Sterne-Bewegung”, „Tea Party“ u.v.a. stets aufs Neue unterstrichen.
Demokratietheoretiker*innen formulieren zu jeder Zeit neue und eigene Erkenntnisse, doch sie tun dies immer in Kontexten und in den Grenzen vorgeprägter Vokabulare. Vielleicht konnte diese kleine Werkschau aufzeigen, wie glücklich sich mindestens die letzten drei Generationen von Demokratietheoretiker*innen schätzen dürfen, dass Robert A. Dahl ihnen ein beträchtliches Reservoir an Fragestellungen, Theorien und Perspektiven hinterlassen hat. Ich vermute, Dahl wird uns noch lange Zeit begleiten.
Alban Werner ist Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift “Das Argument”. Seine Dissertation befasst sich mit politischer Opposition in europäischen Wohlfahrtsstaaten im gesellschaftlich-politischen Strukturwandel. Er interessiert sich für die Grundfragen politischer Soziologie, insbesondere Demokratie-, Staats- und Herrschaftstheorien.
Neueste Kommentare