Minarettverbot: Soll der EGMR entscheiden? Die Schweiz im Spannungsfeld von Demokratie und richterlicher Normenkontrolle

Nach dem Volksentscheid über das Bauverbot von Minaretten in der Schweiz am 29. November letzten Jahres wurde Artikel 72 der Bundesverfassung, der das Verhältnis zwischen Kirche und Staat regelt, um den folgenden Satz ergänzt: „Der Bau von Minaretten ist verboten“. Die 2007 lancierte, vor allem von Mitgliedern der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der evangelikal-konservativen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) unterstützte Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ hat ihr Ziel erreicht. 57,5 Prozent der Schweizer stimmten für die Regelung.

Der Schweizer Minarettstreit ist ein paradigmatisches Beispiel für eine große Kontroverse in der politischen Theorie, die das Spannungsverhältnis von Demokratie und richterlicher Normenkontrolle thematisiert. Vor der Volksabstimmung hatten die Schweizer Regierung und mehrere Religionsgemeinschaften argumentiert, das angestrebte Minarettverbot würde einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellen. Artikel 9 der Konvention schützt die Religionsfreiheit und Artikel 14 schreibt das Diskriminierungsverbot fest. Der frühere Sprecher der Genfer Moschee, Hafid Ouardiri, äußerte die Ansicht, das Bauverbot schränke die Religionsfreiheit der Muslime in der Schweiz ein und es sei außerdem diskriminierend, weil es sich nur gegen eine Religion richte. Er hat kurze Zeit nach dem Volksentscheid eine Beschwerde über denselben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingereicht. Die Sache ist jedoch juristisch kompliziert und es ist bisher unklar, ob sich das Gericht mit dem Fall befassen wird. Ouardiri argumentiert, die Schweiz habe mit der Unterzeichnung der EMRK akzeptiert, dass gewisse fundamentale Werte unter die Kontrolle einer höheren Autorität fielen, das heißt unter die des EGMR. Pierre de Preux, einer seiner Anwälte, erklärte, diese Werte seien nicht verhandelbar, auch nicht durch das Volk.

Fungieren im Schweizer Fall das Recht auf Religionsfreiheit und das Recht, nicht diskriminiert zu werden, als – um es mit einer Dworkin’schen Metapher zu sagen – „Trümpfe“ gegenüber der demokratischen Entscheidung? Jeremy Waldron, im Gegensatz zu Dworkin ein entschiedener Gegner der Praxis richterlicher Normenkontrolle im legislativen Bereich (RNkL), kritisiert in einem Aufsatz von 2006 dessen gönnerhafte Haltung bezüglich Partizipationsrechten: „Dworkin’s account radically underestimates the notion of a right to participate, the imperative that one be treated as an equal so far as a society’s decisionmaking is concerned, the sense of principle that is at stake when someone asks indignantly, ‘How dare they exclude my say—disenfranchise me—from this decision, which affects me and to which I am subject?’” (1375). Es stellt sich also die Frage, ob und wann es legitim sein kann, dass ein nicht gewähltes, nicht repräsentatives und nicht rechenschaftspflichtiges richterliches Gremium demokratische Entscheidungen kippt. In diesem Fall: Darf der EGMR (aus Sicht der politischen Theorie, nicht der Rechtswissenschaft…) die Verfassungsänderung zum Minarettverbot mit rechtlich bindenden Konsequenzen für ungültig erklären?

Waldron nennt vier Bedingungen, unter denen starke, d.h. über eine rechtlich nicht bindende Erklärung hinausgehende RNkL nicht gerechtfertigt ist: (1) die demokratischen Institutionen funktionieren einigermaßen gut, (2) die juridischen Institutionen funktionieren ebenfalls in angemessener Weise, (3) die meisten Mitglieder der Gesellschaft und auch die meisten ihrer Funktionäre sind der Idee von individuellen und Minderheitenrechten verpflichtet, (4) es existiert ein anhaltender Dissens darüber, was die Implikationen der Befürwortung dieser Rechte sind (vgl. 1360). Die dritte Bedingung beinhaltet weiter, dass unter den Menschen ein Bewusstsein für den weltweiten Konsens über Menschenrechte lebendig ist, dass sich die verschiedenen Interpretationen der von allen geachteten Rechte im Dialog klären und dass die BürgerInnen von ihrer eigenen Interpretation abweichende Sichtweisen berücksichtigen und ernst nehmen (vgl. 1364 f.). Bezüglich der vierten Bedingung nimmt Waldron an, dass es sich um einen „vernünftigen“ Dissens zwischen Menschen guten Willens handelt (vgl. 1368). Waldron hält diese vier Bedingungen für Annahmen, die in den westlichen Demokratien normalerweise zutreffen, so dass starke RNkL in der Regel nicht gerechtfertigt sein kann (vgl. 1366).

Wie verhält es sich hier mit der Schweiz? Man darf annehmen, dass die Bedingungen (1) und (2) gegeben sind. Mit Blick auf die Bedingungen (3) und (4) müssen allerdings Zweifel angemeldet werden. Waldron führt als ein Musterbeispiel legislativer Deliberation die Debatte zur Liberalisierung von Abtreibung im britischen Unterhaus im Jahr 1966 an. Alle wichtigen Fragen, die in Zusammenhang mit dem Problem stehen, seien angesprochen worden, die Debatte sei leidenschaftlich, aber mit Aufmerksamkeit und Respekt für beide Seiten geführt worden (vgl. 1384 f.). Es handelte sich hier um einen vernünftigen Dissens über die Auslegung von anerkannten Rechten unter Menschen guten Willens. Man kann Waldron zustimmen, dass es in diesem Fall keinen guten Grund gibt, die Frage final durch RichterInnen entscheiden zu lassen, deren Einsicht in solche komplexen moralischen Fragen, wie auch Dworkin zugesteht, nicht spektakulär speziell ist (vgl. 1350). Beim Schweizer Minarettstreit stellt sich die Situation jedoch anders dar. Von einer inklusiven, respektvollen Debatte kann nicht die Rede sein. Man denke nur an das berüchtigte Wahlplakat der Minarettgegner, das Minarette als Raketen darstellt und den Spot auf YouTube, der die Bedrohung der Schweizer Identität durch die Minarette beschwört. Nilüfer Göle beschreibt in ihrem Artikel Mute Symbols of Islam, wie eine diffuse Furcht vor Muslimen, die Angst vor einer „Islamisierung“ Europas sich in der Semantik der Minarettdebatten niederschlug: „The sentiment that Islam is invading their territory, the fear of losing one’s ‘home’ has fed these debates. In speeches, Muslims have been asked to install their minarets ‘back home;’ in posters they have been compared to dangerous ‘black sheep;’ they are considered “strangers” and are thus symbolically expelled“.

Man muss natürlich zugestehen, dass der Vergleich zwischen einer Parlamentsdebatte und einem Volksentscheid schief ist und die Tatsache, dass in der Schweizer Öffentlichkeit nicht ein ähnliches Diskussionsklima herrscht wie im britischen Unterhaus noch kein Argument für RNkL ist, sondern vielleicht bestenfalls eines gegen direkte Demokratie. Doch Waldron wehrt sich auch gegen die Vorstellung, dass ein Bewusstsein für Minderheitenrechte am ehesten unter Eliten zu finden sei – er hält dies für ein antikes Vorurteil gegenüber demokratischen Entscheidungsverfahren (für die Schweiz scheint diese Einschätzung in Anbetracht der augenscheinlichen Kluft zwischen Establishment und „Volk“ im Minarettstreit jedoch nicht zutreffend). Wie dem auch sei – die Frage ist, wie Letztentscheidungen generiert werden sollen: durch (direkte oder repräsentative) demokratische Verfahren oder durch RNkL. Es soll geklärt werden, wie der Schweizer Fall im Spiegel von Waldrons Kriterien beurteilt werden muss.

Die Debatte in der Schweiz zeichnete sich nicht prominent durch ein Bewusstsein für Menschenrechte und wohlmeinende, rationale Argumentation aus, sondern sie bediente eine in ganz Europa grassierende diffuse Angst vor Muslimen und nährte damit Vorurteile. Mit Göle gesagt: „By appealing to personal sentiments and eliciting the visceral and the emotional, one makes of public space a place plagued by prejudices”. Die Existenz tief greifender Vorurteile ist nun aber genau der Punkt, an dem laut Waldron sein Argument gegen RNkL nicht mehr greift: „Pervasive prejudice is certainly incompatible with my third and fourth assumptions; it connotes indifference or hostility to the rights of the group’s members […]. In such cases, the core argument against judicial review that I have outlined cannot be sustained” (1404). In solchen Situationen sind Minderheiten auf den besonderen Schutz ihrer Rechte durch juridische Intervention angewiesen (vgl. 1403). So kann man also mit Waldron sagen: Es ist gerechtfertigt, wenn der EGMR im Streit um die Minarette das letzte Wort hat.

Waldron weist allerdings auch mit Recht darauf hin, dass starke RNkL nur in begründeten Ausnahmefällen zur Anwendung kommen und nicht bedenkenlos als normales und erwünschtes Element moderner konstitutioneller Demokratien angepriesen werden sollte. Das Problem der Entmündigung ist aus demokratietheoretischer Sicht ernst zu nehmen. Wenn die Schwierigkeit in einem konkreten Fall nicht darin liegt, dass die legislativen Institutionen dysfunktional sind, sondern dass die BürgerInnen über die Auslegung ihrer Rechte, die sie durchaus ernst nehmen, uneins sind, ist RNkL nicht der angemessene Weg für freie, demokratische Gesellschaften, Letztentscheidungen zu generieren. Hier müssen stattdessen demokratische Problemlösungsverfahren greifen. Diese sind nach Auffassung Waldrons auch geeignet, komplexe Streitfragen in verantwortlicher, deliberativer Manier zu bewältigen (vgl. 1406). Es zeigt sich allerdings – nicht nur in der Schweiz – dass Europas „public squares“ beim Thema Islam von einem Populismus durchdrungen sind, der, wie Göle diagnostiziert, das demokratische Ideal einer verantwortlichen Öffentlichkeit zunehmend unterläuft: „The public sphere is at risk of losing its role as the ideal expression of democracy and becoming a place of common sense, of the sacralization of public opinion, and of the contagion of the sensational and scandalous. It is by this regression of public debate towards the irrational and the emotional that the Swiss vote betrays the democratic ideal.”

Ulrike Spohn ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für „Politik und Religion“ am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit inklusiven und exklusiven Formen des Säkularismus. Ihre Forschungsinteressen auf dem Feld der politischen Theorie liegen besonders im Bereich Liberalismuskritik und kritischer Liberalismus.

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