Zwei Jahre Pandemie – Stresstest oder Krise der Demokratie?

Mit Ende des zweiten Pandemiejahres lassen sich langsam, aber sicher die sozioökonomischen, psychischen und politischen Kosten bemessen, die im Schatten des Jahrhundertereignisses anfallen. Es mehren sich Studien – Aufsehen erregte jüngst etwa eine Oxfam-Analyse –, die über Folgeprobleme in sämtlichen Sphären des Zusammenlebens aufklären und Beanspruchungen skizzieren, die im Bereich von Arbeit, Familie oder Gesundheit für Unruhe sorgen. Eine Untersuchung der Körber-Stiftung widmet sich der Politik, genauer: dem heutigen Zustand westlicher Demokratien und bilanziert, dass die „mehr oder weniger rigiden Maßnahmen“ der Staaten „das ökonomische, soziale und kulturelle Leben einem massiven Stress aussetzen“. Interessant ist darin nicht zuletzt die Rede von „Stress“ als deskriptiver Kategorie zur Kennzeichnung besonderer Belastungssituationen. Hierin ähnelt das Stresskonzept dem gängigeren Topos der „Krise“, wie er zur Beschreibung der aktuellen Lage westlicher Demokratien regelmäßig in den Mund genommen wird.

Doch was unterscheidet eigentlich Stress- von Krisensituationen? Und welche Beschreibung passt besser zur pandemischen Lage, in der sich, neben den erwähnten Lebensbereichen, auch unsere liberale Demokratie zurzeit befindet? Mit beiden Fragen möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Zunächst unterbreite ich ein Deutungsangebot, mittels dessen es gelingen kann, zwischen Stress- und Krisenzuständen zu differenzieren. Darauf aufbauend werde ich mich mit jenen Belastungssymptomen auseinandersetzen, die meine These plausibilisieren, dass wir es mit keiner umfassenden Erosion der bundesrepublikanischen Demokratie zu tun haben, sondern spezifische Störungen bezeugen können, die mittelfristig einem Legitimationsverlust Vorschub leisten könnten. Im Zuge dessen sollte klar werden, in welcher Beziehung die titelgebenden Konzepte zueinanderstehen und wo im Lichte jener Begriffsbestimmungen die Gefahren lauern, auf die sich unser politisches System im dritten Jahr der Pandemie einzustellen hat.

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Politische Theorie der postneoliberalen Wirtschaftsordnung – Lesenotiz zu Joscha Wullwebers „Zentralbankkapitalismus“

Die jüngsten Transformationen des finanzialisierten Kapitalismus lassen sich schwer auf einen Begriff bringen. Die Schaffung, Verbreitung und Verselbstständigung neuartiger Finanzinstrumente seit den 1980er-Jahren begünstigten die Entkopplung der Kapital- und Kredit- von der realen Produktionswirtschaft. Weil der Deregulierungswille mittlerweile jedoch merklich abgenommen hat und sich selbst treueste Anhänger von ihrer früheren Liberalisierungseuphorie distanzieren, und weil gleichzeitig Staaten- und internationale Regulierungsbehörden ihr Verhalten ändern, ist eine Diskussion um das neue Antlitz des zeitgenössischen Kapitalismus entbrannt. Lange Zeit mussten terminologische, mit dem Präfix „Post-“ versehene Hilfskonstruktionen – sei es im Sinne eines Post-Fordismus oder Post-Neoliberalismus – als Ersatzbestimmungen herhalten. Mit seiner Habilitationsschrift, die nun bei Suhrkamp erschienen ist, wagt Joscha Wullweber den ambitionierten Versuch einer solchen Bestimmung. Er legt eine elegante Zeitdiagnose vor, die Politische Ökonomie auf einem soliden politik- und gesellschaftstheoretischen Fundament betreiben möchte. Dieses Unterfangen ist äußerst ertragreich und wirft weiterführende Fragen auf, wie all das konzeptionell integriert zu werden vermag.

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