Die jüngsten Transformationen des finanzialisierten Kapitalismus lassen sich schwer auf einen Begriff bringen. Die Schaffung, Verbreitung und Verselbstständigung neuartiger Finanzinstrumente seit den 1980er-Jahren begünstigten die Entkopplung der Kapital- und Kredit- von der realen Produktionswirtschaft. Weil der Deregulierungswille mittlerweile jedoch merklich abgenommen hat und sich selbst treueste Anhänger von ihrer früheren Liberalisierungseuphorie distanzieren, und weil gleichzeitig Staaten- und internationale Regulierungsbehörden ihr Verhalten ändern, ist eine Diskussion um das neue Antlitz des zeitgenössischen Kapitalismus entbrannt. Lange Zeit mussten terminologische, mit dem Präfix „Post-“ versehene Hilfskonstruktionen – sei es im Sinne eines Post-Fordismus oder Post-Neoliberalismus – als Ersatzbestimmungen herhalten. Mit seiner Habilitationsschrift, die nun bei Suhrkamp erschienen ist, wagt Joscha Wullweber den ambitionierten Versuch einer solchen Bestimmung. Er legt eine elegante Zeitdiagnose vor, die Politische Ökonomie auf einem soliden politik- und gesellschaftstheoretischen Fundament betreiben möchte. Dieses Unterfangen ist äußerst ertragreich und wirft weiterführende Fragen auf, wie all das konzeptionell integriert zu werden vermag.
Finanzsystem zwischen Markt und Staat
Seit der globalen Finanzkrise scheint die neoliberale Umgestaltung des Kapitalismus ins Stocken geraten zu sein. Der Abschluss neuer Freihandelsabkommen stößt auf öffentlichen Protest, Forderungen nach Protektionismus werden wieder salonfähig, und auch die Politik der „schwarzen Null“ wird mittlerweile offen hinterfragt. Von einem „Interregnum“ ist die Rede, ohne genau angeben zu können, ob und, wenn ja, wie tiefgehend sich die Governance-Strukturen der Wirtschaftsordnung gewandelt haben. Ungewiss bleibt auch, welcher Rationalität jene Veränderungen folgen. Wullweber gibt darauf nun eine klare Antwort: Es seien die Zentralbanken, die ihre Rolle neu interpretieren und das instabile, von Krisen geschüttelte Wirtschaftssystem am Leben erhalten. „Während sich die Regierungen also zurückhalten, müssen Zentralbanken heute stärker als jemals zuvor in das Finanzsystem intervenieren, um den Zusammenbruch des Gesamtsystems zu verhindern.“ (S. 18) Ihr geldpolitischer, am Rande der Fiskalpolitik sich bewegender, Balanceakt sei es, der die in den jüngsten Konjunktureinbrüchen so offen zutage getretenen Krisentendenzen des Finanzsektors notdürftig in Schach halte.
In neun Kapiteln zeichnet Wullweber einerseits die Genese dieser neuartigen Interventionsfreudigkeit nach und deutet andererseits auf Paradoxien, die diesem prekären Arrangement aus „mehr Staat und mehr Markt“ (S. 236) erwachsen. Detailliert und materialreich skizziert er die Funktionsweisen und Dysfunktionalitäten von Kapitalmärkten, die im Zuge der Finanzialisierung entfesselt wurden und die nationalstaatlich wiedereinzubetten verschiedene Autoren, allen voran Wolfgang Streeck, kürzlich gefordert haben.
Die Rolle der Zentralbanken haben sich, laut Wullweber, insoweit gewandelt, als sie nicht länger im Sinne vermeintlich neutraler Akteurinnen Leitzinspolitik betreiben und als letztinstanzliche Kreditgeberinnen auftreten, sondern komplexe Interventionsstrategien entwickeln mussten, um Liquiditätsengpässe und Legitimationsverluste auszugleichen, die sich zunächst aus der Finanz- und später aus der Covid-19-Krise ergaben. Um jene zu bewältigen, bedienten sich die Notenbanken vor allem der quantitativen Lockerung und fungierten als Garanten des Schattenbanksystems, indem sie als Händler in die so essenziell gewordenen Repo-Märkte aktiv eingriffen. Repos sind wertpapierbasierte Rückkaufvereinbarungen, die zwischen Kreditnehmer und -geber zur kurzfristigen Liquiditätsbeschaffung gehandelt werden. Aufgrund der besonderen Qualität dieser Eingriffe und der eigens dazu entwickelten Instrumente, sieht sich Wullweber berechtigt, folgende Schlussfolgerung zu ziehen: „Wir leben im Zeitalter des Zentralbankkapitalismus“, weil die Notenbanken „eine durch sie selbst abgesicherte Sicherheitsstruktur für das Schattenbanksystem“ (S. 223) schufen, ohne die die kapitalistische Wirtschaftsweise kollabieren würde.
In der konzisen Darstellung dieser Prozesse liegt die eigentliche Stärke der Untersuchung, da selbst komplexeste Zusammenhänge nachvollziehbar aufgeschlüsselt werden. Erwähnenswert sind etwa die Erläuterungen über zeitgenössische Mechanismen der Geldschöpfung mittels privater und staatlicher „Sicherheitsstrukturen“ (S. 86). Mittlerweile sei es nämlich nicht länger nur Geschäftsbanken gestattet, auf Zentralbankgeld zuzugreifen, sondern dank der erwähnten Repo-Geschäfte sei dies auch Akteuren im Schattenbanksystem wie Investmentfonds möglich. Weil deren Vermögenswerte sich jedoch weniger leicht in Zentralbankgeld ummünzen lassen, identifiziert Wullweber einen geringeren Absicherungsgrad des marktbasieren im Vergleich zum darlehnsbasierten Kreditsystem. Jene privaten Sicherheitsstrukturen seien es auch gewesen, die sich als Einfallstore für Vertrauensverluste herausstellten und zu einer Destabilisierung der Finanzwirtschaft führten. Das jüngste Verhalten der Notenbanken müsse vor diesem Hintergrund als Versuch gedeutet werden, die Gefahren eines Aufschaukelns solcher Störungsmomente zu minimieren, indem ein „abgesicherte[r] Korridor für den Handel im Schattenbanksystem“ (S. 222) geschaffen wird.
Politiktheoretisch gehaltvoll ist die Studie darüber hinaus, weil der Entwurf einer gegen mikrosoziologische und neoklassische Ansätze gerichteten dezidiert politischen Theorie des Geldes als Grundlage der Argumentation dient. Anknüpfend an chartalistische Perspektiven, welche auf die Stellung des Staates bei der Inwertsetzung von Zahlungsmitteln abheben, betont Wullweber die Bedeutung politischer Akteure bei der „Etablierung des allgemeinen Äquivalents“ sowie der „Schaffung von Vertrauen in dieses Äquivalent“ (S. 161). Erst der konflikthaft vonstattengehende politische Akt der allgemeinen Anerkennung und institutionellen Absicherung eines Zahlungsmittels stütze den Glauben an die Durchsetzung des Zahlungsversprechens, so der von Laclau inspirierte hegemonietheoretische Zugang, den Wullweber geschickt an die vieldiskutierte Modern Monetary Theory anbindet. Die konstitutive Instabilität des Geldsystems verlange deshalb nach fortwährenden vertrauensbildenden Maßnahmen, deren Fehlen man in den vergangenen Krisenzyklen schmerzhaft miterleben konnte. Private Sicherungssysteme allein genügten nicht mehr, um den Wertverfall zu stoppen, sondern allein das unkonventionelle Handeln der Zentralbanken vermochte einen unkontrollierbaren Flächenbrand einzudämmen.
Vom Zentralbankpragmatismus zur demokratischen Steuerung?
Ob die rhetorisch geschickte Zuspitzung auf die Formel des „Zentralbankkapitalismus“ inhaltlich gerechtfertigt ist, darüber lässt sich sicher streiten. Zweifelsohne werden jedoch das Kalkül sowie die Verhaltensweisen eines ökonomischen Schlüsselspielers deutlich, dessen Entscheidungen das tagtägliche Wirtschaftsleben massiv beeinflussen. Insofern liefert Wullweber einen bedeutsamen Baustein zur Bestimmung der heutigen Gestalt des Kapitalismus. Es handle sich „eher [um] eine stille, wenn auch radikale Veränderung“, denn die „Zentralbanken wirken eher im Hintergrund, die Souveränitätsmacht rahmt die marktliberale Logik nur ein“ (S. 233). Folglich sei kein vollständiger Bruch im regulativen Setting zu konstatieren, keine Rückkehr zur vollumfänglichen Disziplinierung keynesianischer Zeiten. „Anpassung der marktliberalen Logik an den Krisenmodus“ (S. 234), laute stattdessen das Gebot der Stunde.
Mit diesem Fazit provoziert Wullweber wenigstens drei Rückfragen, die seine lesenswerte Untersuchung noch klarer hätte adressieren müssen. Zum einen sind da die in theoretischer Hinsicht überaus knapp abgehandelten Grundlagen des Zentralbankhandelns zu nennen. Eingegangen wird vor allem auf die Rezeption einer Studie von Walter Bagehot durch „[f]ührende Zentralbanker“ (S. 188) hingewiesen. Weitere Inspirationsquellen bleiben im Dunkeln, wodurch die handlungsleitenden Motivbündel der Zentralbankpolitik erstaunlich rasch abgehandelt und unzureichend erschlossen werden.
Eng damit verbunden ist ein zweiter Aspekt, nämlich der, dass Wullwebers Zentralbanken verhältnismäßig konturlos anmuten, ja geradezu als Black Boxes erscheinen. Diese ähneln homogenen Akteuren, was Erklärungsprobleme mit sich bringt, wenn regionale Unterschiede, also heterogenes Notenbankverhalten, auf das durchaus eingegangen wird, reflektiert werden müsste. Angesichts des zeitdiagnostischen Zuspitzungswunsches ist zwar nachvollziehbar, weshalb über solche Differenzen zügig hinweggegangen wird – spannend wäre ein genauerer Blick trotzdem. Dafür wäre eine größere Sensibilität gegenüber organisatorischen Eigenarten sowie der Stellung von Zentralbanken im Verbund staatlicher Institutionen nötig gewesen.
Abschließend fallen gewisse evaluative Einsprengsel ins Auge, die von der Foucault’schen Perspektive, aus der Wullweber schreibt, normativ kaum gedeckt sein dürften und einer nähergehenden Begründung bedurft hätten. Weshalb aus der Tatsache, „dass Geldpolitik alles andere als unpolitisch ist“, folgen muss, dass diese „daher wieder stärker demokratisiert werden“ (S. 247) solle, bleibt ähnlich rechtfertigungsbedürftig, wie das Votieren zugunsten einer „langweilig[en]“ (S. 256) Finanzwirtschaft nach dem Vorbild früherer Jahre. Ohne transparente normative Bezugspunkte hängen diese Selbstverortungen in der Luft und bleiben zu vage, um überzeugen zu können. Dies mag auch als Indiz dafür gelesen werden, dass die politik- und gesellschaftstheoretischen Fundierungsbemühungen noch systematischer hätten entfaltet werden können. Der Sprung vom Sein ins Sollen wird andernfalls angreifbar.
Nichtsdestotrotz bleibt die Bedingung dafür, entscheiden zu können, welche Strategie die geeignete ist, um den flexibilisierten Kapitalismus unter Kontrolle zu bringen, darin bestehen, zunächst genauer zu verstehen, welche Regulationsweise die Wirtschaftsordnung gegenwärtig strukturiert und welche (nicht-)intendierten Effekte dieses monetäre Regiment zeitigt. Wullwebers Überlegungen dürften entscheidend dazu beitragen, letzterem auf die Spur zu kommen.
Tobias Schottdorf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der Georg-August-Universität Göttingen und schloss sein Promotionsstudium an der Leuphana Universität Lüneburg mit einer Arbeit über politische Stressrelationen im flexiblen Kapitalismus ab. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Demokratie- und Staatstheorie sowie im Bereich der Ideologieforschung.
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