In der zuletzt erschienenen Ausgabe 1/2015 der ZPTH nehmen Johannes Marx (Bamberg) und Christine Tiefensee (Frankfurt/M.) mit ihrem Beitrag die normative Dimension des Rationalitätsbegriffes in den Blick. Wie in der Vergangenheit bieten wir in Kooperation mit der ZPTH den Beitrag exklusiv zum Download (pdf) an – und hoffen auf eine lebendige Diskussion! Den Auftakt hierzu macht Felix Koch (Berlin) mit einem ausführlicheren Kommentar, in der Folge werden dann die beiden Autoren auch noch einmal reagieren. Wir freuen uns auf eure Anmerkungen, Ergänzungen und Rückfragen.
Felix Koch:
Es ist in den letzten Jahren in der Philosophie viel diskutiert worden, ob das, was Johannes Marx und Christine Tiefensee in ihrem Aufsatz „Rationalität und Normativität“ als „formale Rationalität“ bezeichnen, eine wesentlich normative Kategorie ist. Eine Reihe der Teilnehmer an dieser Diskussion haben dafür argumentiert, dass es keine allgemeinen Gründe gibt, den Erfordernissen formaler Rationalität – die diverse Arten von Konsistenz und Kohärenz zwischen den mentalen Einstellungen einer Person verlangen – zu genügen. Wenn ihre Argumente gültig sein sollten, dann wäre Rationalität in diesem Sinne (und damit, denke ich, auch in dem Sinne von „normativ“, den Marx und Tiefensee in Abschnitt 4 ihres Aufsatzes explizieren) nicht normativ.
Die entgegengesetzte Position, die Marx und Tiefensee vertreten und die ich hier einfach die „Normativitätsthese“ nennen werde, ist also nicht unkontrovers. Das primäre Ziel ihres Aufsatzes scheint mir aber nicht darin zu liegen, die Normativitätsthese zu verteidigen, sondern vor allem darin, die folgende rekonstruktive These zu plausibilisieren: Eine bestimmte Art von Begründung legitimer Herrschaft, die auf rationale Einwilligung rekurriert, wird durch die Annahme gestärkt (oder setzt sogar die Annahme voraus), Rationalität sei normativ. Eine solche rekonstruktive These wäre ohne weiteres mit der Auffassung vereinbar, dass Rationalität nicht normativ ist. Der Nachweis, dass die genannte Art der Begründung legitimer Herrschaft die Normativität formaler Rationalität voraussetzt, liefe dann auf eine Schwächung, vielleicht sogar eine reductio ad absurdum dieser Art von Begründung von Legitimität hinaus.
Der vielschichtige Aufsatz von Marx und Tiefensee würde eine ausführlichere Diskussion verdienen, als sie hier möglich ist. Ich beschränke mich auf Bemerkungen zu zwei Punkten: Erstens zu der Frage nach der Normativität der Rationalität; zweitens zu dem genauen Gehalt des Begründungsmusters, auf das die Autoren sich in ihren Abschnitten 3 und 4 beziehen, und damit zu der Plausibilität der eben genannten rekonstruktiven These.
Die Normativität der Rationalität
Mit dem, was Marx und Tiefensee den „formalen“ Rationalitätsbegriff nennen, ist eine Bewertungsdimension gemeint, die ausschließlich auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Einstellungen einer Person blickt (etwa zwischen ihren Absichten, Wünschen oder Präferenzen) – anders als der „substantielle“ Rationalitätsbegriff, der fragt, ob es für diese oder jene Einstellung gute Gründe gibt. Der substantielle Rationalitätsbegriff ist trivialerweise normativ: Eine Einstellung ist nur dann substantiell vernünftig, wenn es guten Grund gibt, diese Einstellung zu haben. Der formale Rationalitätsbegriff ist nicht trivialerweise normativ. Ob es immer Grund gibt, Konsistenz und Kohärenz zwischen den eigenen Einstellungen herzustellen, ist zunächst einmal eine offene Frage.
Sind Urteile formaler Rationalität normative Urteile? Gilt also die Normativitätsthese? Um diese Frage befriedigend zu klären, bedürfte es unter anderem einer Theorie davon, was formale Rationalität eigentlich alles verlangt. An dieser Stelle ist kein Platz, die Debatte auch nur in Ansätzen zu skizzieren. Festhalten kann man aber, dass die Frage umstritten ist und dass eine Reihe von Philosophen (darunter Niko Kolodny, Joseph Raz, Thomas Scanlon und Derek Parfit) zumindest in Bezug auf das für den Aufsatz zentrale Beispiel, nämlich subjektive Zweck-Mittel-Kohärenz, eine negative Antwort vertreten: Wer ein bestimmtes Ziel verfolgt, hat deshalb nicht notwendigerweise irgendeinen Grund, das zu tun, was aus seiner Sicht als Mittel zur Verwirklichung dieses Ziel erforderlich ist. Damit bestreiten diese Philosophen für Urteile der Zweck-Mittel-Inkohärenz die Eigenschaft der „Praktikalität“ und damit die dritte der in Abschnitt 4.1. angeführten notwendigen Bedingungen von Normativität.
Selbst wenn es zutreffen sollte, dass der Befund formaler Irrationalität häufig einen Grund für „Verhaltensänderungen“ kommuniziert oder impliziert, wäre damit noch nicht die Normativitätsthese belegt. Es könnte vielmehr sein, dass Personen in Standardfällen formaler Irrationalität zugleich gegen normative Gründe verstoßen oder notwendigerweise gegen normative Gründe zu verstoßen glauben, ohne dass es sich dabei um Gründe handelt, formale Irrationalität als solche zu vermeiden. Zum Beispiel haben wir Grund, Mittel zu Zwecken zu ergreifen, die zu erreichen wir Grund haben; und wenn wir ein bestimmtes Ziel verfolgen, dann glauben wir normalerweise auch, dass wir Grund haben, dieses Ziel zu verfolgen. Diese Tatsachen erklären, weshalb wir häufig Grund haben oder zumindest Grund zu haben glauben, die Mittel zu unseren Zielen zu ergreifen, ohne dass uns das auf die Annahme festlegen würde, wir hätten Grund, instrumentelle Irrationalität als solche zu vermeiden. Erläuterungen dieser Art sind ein wichtiger Bestandteil der Kritik an der Normativitätsthese.
Vor diesem Hintergrund scheint mir das Fazit der Autoren am Ende ihres Abschnitts 4.1., der das Merkmal der Praktikalität nur recht kurz behandelt, die skeptischen Positionen nicht erwähnt und vor allem nicht konkretisiert, was die Autoren über subjektive Zweck-Mittel-Kohärenz hinaus für den Gehalt der formalen Rationalität halten, allzu zuversichtlich zu sein: „Diese Überlegungen zeigen…, dass [formale – FK] Rationalität ein normatives Konzept ist.“ Allerdings denke ich auch – nun im Gegensatz zu der rekonstruktiven These –, dass es für die in dem Aufsatz angeführten Begründungsmuster legitimer Herrschaft (es scheinen mir mindestens zwei zu sein) nicht problematisch wäre, wenn die Normativitätsthese sich als falsch herausstellen sollte. Soweit es um die Begründung von Legitimität durch hypothetische Zustimmung geht, würde auch die Wahrheit der Normativitätsthese diesem Begründungsmuster nicht zu Erfolg verhelfen. Sollte Legitimität dagegen durch tatsächliche Zustimmung begründet werden können, würde auch die Falschheit der Normativitätsthese kein Hindernis für diese Art der Begründung darstellen.
Rechtfertigung legitimer Herrschaft
Das Begründungs- oder Rechtfertigungsmuster, das Marx und Tiefensee in Abschnitt 3.2. in Augenschein nehmen, ist das der hypothetischen Einwilligung: Für die Eigenschaft eines Staates, legitim zu sein, ist es eine hinreichende Bedingung, dass Personen unter bestimmten Bedingungen darin einwilligen würden, in diesem Staat zu leben (Marx und Tiefensee sprechen stellenweise von „Wahl“ statt von Einwilligung oder Zustimmung). Nach dem Muster, wie es sich in ihrem Aufsatz findet, ist ein Staat dann legitim, wenn zwei Prämissen wahr sind: (P1) Der Staat würde rationalerweise gewählt werden; (P2) Ein Staat, der rationalerweise gewählt werden würde, ist legitim.
Mir scheint dieses vertraute Begründungsmuster, obwohl es formal gültig ist, nicht erfolgversprechend zu sein, und zwar vor allem aufgrund seiner unplausiblen Prämisse 2. Zunächst eine Bemerkung zu Prämisse 1: Wenn es, wie die Autoren betonen, nur um formale Rationalität geht, also (insbesondere) um die Rationalität der Wahl bestimmter Mittel im Lichte gegebener Ziele und Zweck-Mittel-Überzeugungen, dann ist die Formulierung der ersten Prämisse zumindest unvollständig. Um zu wissen, ob eine Wahl instrumentell rational ist oder nicht, müssen wir wissen, welche Ziele die wählende Person zu verwirklichen beabsichtigt (und je nachdem, welche Theorie rationaler Wahl wir uns zu eigen machen, müssen wir dazu sogar alle Ziele der Person kennen), und wir müssen zudem die Zweck-Mittel-Überzeugungen der Person kennen. Die Prämisse 1 müsste in ihrer vollständigen Form also die folgende Art von Spezifizierung enthalten: „…würde rationalerweise von Personen mit den Zielen X, Y, Z und der Zweck-Mittel-Überzeugung P gewählt werden“, oder alternativ: „…würde rationalerweise von Personen A, B, C… gewählt werden“, wo uns bekannt ist, welche Ziele und welche Überzeugungen diese Personen haben.
Angenommen, wir vervollständigen die Prämisse 1 um das Ziel, das die Autoren in ihren Szenarien nennen: Das Ziel, die eigene Sicherheit zu schützen. Und angenommen, wir treffen die recht weitreichende Annahme, dass es für alle Personen mit diesem Ziel – unabhängig davon, welche Ziele sie sonst noch haben – im formalen Sinne rational ist, sich für die Existenz eines bestimmten Staates S zu entscheiden. Um zu zeigen, dass dieser Staat für Personen mit diesem Ziel legitim ist, müsste man dann lediglich noch die Prämisse (P2) verteidigen, also das „Brückenprinzip“, das von der ersten Prämisse zur Konklusion führt. Ich selber bin skeptisch, dass sich ein Prinzip dieser Art plausiblerweise verteidigen lässt, und zwar unabhängig davon, ob „rational“ als ein normatives oder als ein nicht-normatives Prädikat verstanden wird.
Stellen wir uns vor, die Normativitätsthese sei wahr und „rational“ bzw. „rationalerweise“ seien tatsächlich normative Prädikate. Dann gilt gemäß den Merkmalen der Normativität (Abschnitt 4.1.): Entscheidungen, die irrational sind, sind kritisierbar, und die Irrationalität einer Entscheidung ist ein normativer Grund gegen diese Entscheidung. Daraus folgt: Personen, die das Ziel „Sicherheit“ sowie eine geeignete Zweck-Mittel-Überzeugung haben, haben Grund, das Mittel „Staat“ zu wählen, und sie sind kritisierbar, wenn sie dieses Mittel nicht wählen. Die Frage nach der Plausibilität des Brückenprinzips lautet dann wie folgt: Garantiert der Umstand, dass eine Person Grund hat, Staat S zu wählen, und dass sie kritisierbar wäre, wenn sie Staat S nicht wählen würde, dass der Staat S legitime Herrschaft über diese Person ausüben kann? (Ich unterstelle hier, dass die Legitimität, von der in der Konklusion die Rede ist, auf dieselben Ziele oder Akteure relativiert ist, durch die ich auch Prämisse 1 ergänzt habe: „Staat S ist legitim für Personen mit den Zielen X, Y, Z“ oder „für die Personen A, B, C….“. Unter dieser Annahme ist die Etablierung eines auf Personen relativierten Brückenprinzips für die Gültigkeit des Arguments ausreichend.)
Die letzte Frage zu bejahen, hieße, so scheint mir, für die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft eine deutlich niedrigere Rechtfertigungsschwelle anzusetzen, als wir es im sonstigen Umgang miteinander tun. Die bloße Tatsache, dass eine Person A im Lichte ihrer spezifischen Ziele Grund hat, X zu tun, und kritisierbar ist, wenn sie X unterlässt, berechtigt im Allgemeinen niemanden dazu, diese Person zu X zu zwingen oder Autorität über A zu beanspruchen. Wenn die Attraktivität des hypothetischen Begründungsmusters für staatliche Legitimität darin bestehen soll, dass es staatliche Herrschaft mit derselben Rechtfertigungslast konfrontiert, die für das Recht auf Zwangsausübung ganz allgemein gilt, dann scheitert die von Marx und Tiefensee vorgeschlagene Version dieses Begründungsmusters. Sie scheitert, weil die unplausible Prämisse 2 auch durch die Annahme, dass Rationalität normativ ist, nicht erkennbar gestärkt wird.
In dem entscheidenden positiven Abschnitt 4.3. wird das gerade beschriebene Begründungsmuster, dessen zweite Prämisse durch die in 4.1. etablierte Normativitätsthese gestützt werden soll, nicht mehr ausführlich diskutiert. Außerdem scheint hier zusätzlich ein zweites Begründungsmuster zur Debatte zu stehen: Es geht jetzt nicht mehr um hypothetische, sondern um tatsächliche Zustimmung als Grund von Legitimität. (Jedenfalls verstehe ich die Autoren so, dass es nach wie vor um die Begründung von Legitimität gehen soll; an verschiedenen Stellen in diesem Abschnitt ist nur noch von notwendigen Bedingungen von Legitimität die Rede.) Marx und Tiefensee vertreten hier die These, dass eine Voraussetzung für die legitimitätsstiftende Rolle tatsächlicher Zustimmung die „Nachvollziehbarkeit“ dieser Zustimmung ist.
Den Gehalt dieser Bedingung möchten sie im Sinne von Donald Davidsons Auffassung verstanden wissen, die Erfüllung von Erfordernissen der Rationalität seitens einer Person sei eine notwendige Bedingung für die Verständlichkeit ihres Handelns. Davidsons These besagt allerdings nicht und impliziert auch nicht, dass Rationalität normativ in dem von Marx und Tiefensee eingeführten Sinne ist. Insoweit ihr Vorschlag für die Rechtfertigung legitimer Herrschaft in Abschnitt 4.3. lautet, dass ein Staat nur dann (in Bezug auf Personen A, B, C…) legitim ist, wenn diese Personen ihm ohne Verletzung von Erfordernissen der Rationalität und in diesem Sinne nachvollziehbarerweise zugestimmt haben, bedarf es deshalb keiner Festlegung auf die These, dass Rationalität ein normativer Begriff ist. Die Normativitätsthese scheint mir im Kontext dieses zweiten, auf nachvollziehbare tatsächliche Zustimmung rekurrierenden Rechtfertigungsmusters keine Funktion zu erfüllen.
Es gäbe noch eine ganze Reihe anderer interessanter Punkte anzusprechen. An dieser Stelle ist mein Zeilenkontingent längst erschöpft und ich bin gespannt auf die weitere Diskussion.
Felix Koch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ethik und Metaethik, praktische Rationalität, Rechtsphilosophie und politische Philosophie.
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