theorieblog.de | Buchforum zu Dirk Jörke: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation (Suhrkamp Berlin 2019)

26. August 2019, Theorieblog-Team

Dieses Buchforum widmet sich Dirk Jörkes von Suhrkamp verlegtem Buch Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Folgen wir der Verlagsbeschreibung des Buchs, herrschte „lange Konsens über die Einbindung von Nationalstaaten in transnationale Gemeinwesen wie die Europäische Union“, eine Ansicht, die „zuletzt unter Druck“ geriet. „Angesichts dieser Konstellation“ sichte „Jörke – von Aristoteles bis Jürgen Habermas – Argumente und Befunde zum Zusammenhang zwischen der Größe und der demokratischen Qualität von Staaten. Ausgehend von einer republikanischen Position, bei der die Gleichheit und die Partizipation der Bürgerinnen im Mittelpunkt stehen, plädiert er in seinem so wichtigen wie kontroversen Beitrag für eine räumliche Begrenzung der Demokratie und den Umbau der EU zu einer Konföderation.“

Tatsächlich bestimmt Jörke den normativen Kerngehalt seines republikanisch inspirierten Demokratiebegriffs in Auseinandersetzungen mit historisch-semantischen Praktiken und Gewohnheiten sozialdemokratischer Demokratieverständnisse (z.B. S. 22-24). Denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert habe sich mit den Kämpfen der Arbeiter*innen um die Anerkennung gleicher politischer und sozialer Rechte sowie gesellschaftlicher Teilhabe ein historisches Verständnis der Demokratie verwirklicht und verstetigen können (insb. S. 31-35), das sich im Kern durch zwei Versprechen auszeichne, die bis in die 1970er Jahre hinein die Attraktivität der Demokratie ausgemacht hätten: das „republikanische“ Versprechen auf Teilhabe an der kollektiven Lenkung der Geschicke des Herrschaftsverbandes und das „sozialdemokratischen“ Versprechen auf Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Beide Versprechen sind laut Jörke von den heutigen Zuständen mindestens bedroht, wenn nicht unwiderruflich enttäuscht worden.

Dadurch empfiehlt sich sein Buch vorzüglich für eine genauere Sichtung und Diskussion auf unserem Blog. Die demokratisch begründete Suche nach der idealen Gemeinschaftsgröße bildet geradezu ein ideengeschichtliches Urbild der theoretischen Politikwissenschaft. In der empirischen Politologie gebührt dem auch von Jörke herangezogenen Size and Democracy von Robert Dahl und Edward Tufte der Klassikerstatus. Ideenhistorisch reicht das Feld von Platon, Aristoteles und Xenophon über Harrington und Hume sowie Rousseau und den Federalists bis zu Robert Putnam und Michael Walzer.

Als Hintergrund dieser Ideengeschichte lässt sich der modelltheoretische Kontrast zwischen direkter Demokratie und einer tendenziell imperial überdehnten Schwammkultur stilisieren. Noch allgemeiner ließe sich die Frage nach der demokratisch adäquaten Öffentlichkeit als Zentrum des Größendiskurses bestimmen: Welche sozialmoralisch-kommunikativen Bindungskräfte können politische Großverbände entfalten, stabilisieren, kultivieren und fortentwickeln, die es erlauben, dass die angesichts großräumiger Diversität und Pluralität geforderte Toleranz nicht in Beliebigkeit, Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit umschlägt? Neben institutionellen Fragen der Herrschaftsgestaltung geht es Jörkes Kritik somit um ein Kardinalproblem gesellschaftlichen Zusammenhalts: Wie kann angesichts zunehmender Segregation zwischen arm und reich, jung und alt, zugezogen und angestammt, mobil-flexibel und verwurzelt-traditionsbewusst der Polarisierung dieser Spaltungen entgegengewirkt werden? Wie ist jener demokratisch unverzichtbare Gemeinsinn und zivilisatorische Minimalkonsens zu reanimieren, der „uns“, sollte er je existiert haben, augenscheinlich abhanden gekommen ist?

Jörkes Buch schließt mit einer durchweg „europafreundlichen“ Haltung, die gleichwohl die „‚europafreundliche‘ Standarderzählung“ ablehnt, weil Jörke in „einer weiteren Integration gerade nicht eine aussichtsreiche Lösungsstrategie erblick[t]. Vielmehr sollte davon ausgegangen werden, dass bereits ein Zuviel an Integration vorliegt. Jeder weitere Schritt in diese Richtung dürfte die Spannung zwischen den Mitgliedsländern einerseits und zwischen den Globalisierungsgewinnern und -verlierern andererseits erheblich steigern.“ Gefordert sei daher, so Jörke, „ein Rückbau der Europäischen Union, und zwar in eine Richtung, die sowohl ein Mehr an demokratischer Politikgestaltung als auch ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit ermöglicht“ (S. 245f.).

Unser Buchforum diskutiert die Begründungen und Implikationen dieser Positionen Dirk Jörkes in vier Stellungnahmen zur Größe der Demokratie. Eine Replik des Autors auf alle Einzelbeiträge beschließt den koordinierten Teil des Buchforums. Für weiterführende und vertiefende Diskussionen steht die Kommentarfunktion allen Interessierten offen!

Abweichend von der Praxis unser vielen bisherigen Buchforen erproben wir diesmal ein neues Format. Wir haben keine generellen Diskussionen zum Buch, sondern thematisch fokussierte, gewissermaßen arbeitsteilig spezialisiert argumentierende Beiträge erbeten. Die integrierende Sicht auf die Einheit aller Beiträge musste zunächst unsere redaktionelle Einleitung leisten, die hiermit schließt. Das Buchforum startet mit Claudia Landwehrs Frage Bricht die EU die Versprechen der Demokratie? Es folgen die Beiträge Für eine Europäische Konföderation? (Eva Marlene Hausteiner), Die Größe der Demokratie: Über eine räumliche Dimension von Partizipation und Herrschaft (Kerstin Kock) und Wirtschafts- und fiskalpolitische „Größen“ der Demokratie (Sebastian Huhnholz). Darauf werden Replik und Ergänzungen des Autors, Dirk Jörke, zu lesen sein.

Wir danken allen Beteiligten, wünschen viel Freude und anregende Einsichten!


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