Für eine Europäische Konföderation? (Buchforum „Die Größe der Demokratie“, Teil 2)

Ist die Europäische Union noch zu retten? In seinem Buch bejaht Dirk Jörke diese Frage. Die EU stehe zwar vor dem ideengeschichtlich altbekannten Dilemma der Vereinbarkeit von Demokratie und großer Ausdehnung. Doch die eher düstere Diagnose, wonach die EU in ihrer derzeitigen Form politische Teilhabe wie auch soziale Gleichheit unterminiere, endet eben nicht in einer Jeremiade. Das letzte Kapitel bietet nämlich einen recht konkreten Lösungsvorschlag: den Föderalismus.

Die Attraktivität des Föderalen für Konstellationen komplexen, großräumigen Regierens hat gewichtige Gewährsleute, denn föderale Arrangements durchziehen die politische Ideengeschichte seit der Renaissance: Sie werden, von Althusius und Montesquieu bis zu Tocqueville, wenn schon nicht als ideale, so doch als pragmatische, realisierbare, auf Ausgleich bedachte Mittelwege angesichts unauflösbarer Zielkonflikte konturiert. Der Zielkonflikt räumlich großer politischer Gebilde betrifft dabei häufig die Vereinbarkeit von politischer Ordnungsleistung – etwa militärischer und wirtschaftlicher Absicherung – mit republikanischer Freiheit oder demokratischer Qualität. Dieses Motiv transponiert Jörke, an bekannte Positionen der Europaforschung anschließend, auf seine Analyse der EU: Ihr Dilemma zwischen supranationaler Problembewältigung einerseits und der Gefährdung effektiver Teilhabe und sozialer Gleichheit andererseits könne durch eine föderale Verfasstheit bewältigt werden.

 

National, transnational, (kon-)föderal

Jörke unternimmt damit eine wichtige begriffspolitische Intervention, indem er nicht nur föderale Zwischenformen zwischen Nationalem und Inter- bzw. Transnationalem in den Blick nimmt, sondern obendrein die Idee des „Föderalen“ weiter ausdifferenziert. Föderalismus, so argumentiert er im Anschluss an Montesquieu und (Anti-)Federalist-Debatten, bedeute demnach eben nicht allein Bundesstaatlichkeit, sondern könne auch staatenbündisch, also konföderal, ausgestaltet sein. Die föderale Ordnung muss nicht in Staatlichkeit mit zentralisierter Souveränität und einem gemeinsamen Staatsvolk münden. Sie kann eben die Souveränität auch bei ihren Mitgliedern belassen und entsprechend aus unterschiedlichen Staatsvölkern zusammengesetzt sein, die in toto einen Staatenbund konstituieren.

Auf konzeptioneller Ebene ermöglicht dieser ausdifferenzierte Föderalismusbegriff Jörkes also, die Binarität zwischen nationalen und supranationalen Politikmodellen zu überschreiten. Von der Suche nach solchen alternativen Ordnungsbegriffen ist die Integrationsdebatte seit geraumer Zeit geprägt, vom „Bund“ (so Christoph Schönberger nach Schmitt) über den „Staatenverbund“ (so die Begriffsschöpfung des Bundesverfassungsgerichts) bis hin zur sui-generis-Terminologie (so insbesondere Armin von Bogdandy). Eine andere Binarität ist für Jörke dagegen konstitutiv, denn er bleibt mit seiner Ausdifferenzierung letztlich beim Gegensatzpaar föderal-konföderal stehen. Diese dichotomische Vermessung des Föderalen (wenn auch unter anderen normativen Vorzeichen) zu übernehmen ist natürlich attraktiv, denn die Begriffe lassen sich eben gemäß der Frage nach dem Ort der Souveränität relativ präzise voneinander unterscheiden. Obendrein kehrt Jörke, in einer innovativen Volte, ihre herkömmliche Bewertung um: Nicht föderal im engen Sinne von Staatsorganisation und Bundesstaatlichkeit, sondern konföderal müsse Europa werden, um die supranationale Regierungsleistung auch demokratisch und sozial egalitär abzusichern. (Die Autoren der Federalist Papers argumentierten, wie Jörke auch darstellt, genau umgekehrt.) Doch diese binäre Perspektive hat auch Schwächen, denn sie hebt letztlich auf eine klare Verortung von Souveränität ab. Eine mögliche Stärke des Föderalismusbegriffs liegt aber darin, die Auf- und Verteilbarkeit von Souveränität anzuerkennen und damit Zwischenformen der Machtteilung aufzuzeigen. Solche Zwischenformen umfassen etwa vertragsföderale Arrangements, duale oder verflochtene Föderalismen, symmetrische und asymmetrische Modelle. In ihnen ist Souveränität oft komplexer organisiert. Eine typologische Zweiteilung und dementsprechend auch eine Zuordnung etwa zu liberalen oder republikanischen Ordnungsideen der Vielgestaltigkeit föderaler Arrangements nutzt diese Möglichkeit nicht. Zu viel hängt von einer Reihe von institutionellen Stellschrauben und von kontextspezifischen Dimensionen ab – eine normativ aufgeladene Dichotomie wie jene von Föderation versus Konföderation erfasst das Spektrum des Föderalen nicht hinreichend.

 

Kompetenz und Entscheidung

Der binären Typologie folgend, spricht sich Jörke also für eine Konföderation aus, die er mit dezentraler Souveränität und einem republikanisch-kommunitaristischen Politikmodell verbindet. Um sie zu verwirklichen, fordert er nichts Geringeres als einen „Rückbau der Europäischen Union“, der er ein „Zuviel an Integration“ bescheinigt. Hierfür sei es essentiell, die Handlungsfähigkeit der Einzelstaaten als Garanten von Demokratie und Gleichheit sicherzustellen (S. 252). Wie aber ist diese Konföderation konkret ausgestaltet? In der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Einzelstaatenebene – föderalismustheoretisch immer ein neuralgischer Punkt – positioniert sich Jörke geschickt. Wirtschaft, Handel und Währungspolitik sollten in die Domäne der Nationalstaaten fallen, Außen- und Sicherheitspolitik könne dagegen der Bund gut regeln (S. 256). Soweit sind die Kompetenzzuteilungen ideengeschichtlich eher klassisch gelagert. Die Kompetenzen des Bundes gehen aber über jene eines Verteidigungsbündnisses deutlich hinaus: Angesichts aktueller Problemlagen sieht Jörke auch Migration, Kriminalität und Umweltbelange als nur supranational bewältigbar; und aus dem bisherigen EU-Zuständigkeitsprofil müsste auch die Sicherung individueller Freiheitsrechte aller bewahrt werden. Einwände, eine solche „rückgebaute“ EU verfüge nicht über genug Handlungsfähigkeit zur Bewältigung transnationaler Problemkonstellationen, kann Jörke also zumindest teilweise entschärfen.

Aber eben nur teilweise – denn Zweifel an der Handlungsfähigkeit einer konföderalisierten EU (einer „EK“, also Europäischen Konföderation?) sind nicht nur bezüglich der Kompetenzverteilung, sondern auch bezüglich der typisch konföderalen Entscheidungsregeln angebracht. Die Europäische Konföderation wäre auf Bundesebene nämlich eben nicht nur bestimmter Zuständigkeiten beraubt, sondern auch im Rahmen der verbleibenden Zuständigkeiten an besonders strenge Entscheidungsregeln gebunden, die die Rechte der Einzelstaaten unverletzt lässt. Hauptinstrument dafür wäre, so lässt sich anhand von Jörkes Ausführungen vermuten, insbesondere das Einstimmigkeitsprinzip im Rat (oder dessen neuem Äquivalent). Damit folgt er dem klassischen Modell der Konföderation, die die Souveränität dezentral bei den Staaten belässt. Wie aber soll langfristig eine produktive Koordination unter Bedingungen eines effektiven Vetorechtes aller Mitglieder gelingen? Geht man davon aus, dass die derzeit mangelhafte Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bevölkerungen auch auf die Unfähigkeit zurückzuführen ist, kollektiven Herausforderungen durch effektive Entscheidungen zu begegnen und eben nicht ausschließlich auf soziale Ungleichheit und demokratische Teilhabeprobleme, so erscheint der konföderale „Rückbau“ potentiell als Rückschritt.

 

Eine Frage des Zusammenhaltes

Das konföderale Prinzip, dessen Hauptkennzeichen die Handlungsfreiheit der Einzelstaaten und ihrer Bevölkerungen ist, scheint mir noch weitergehende Probleme zu generieren. Konföderalismus hat ja durchaus Nachteile, auch wenn seine richtiggehende Dämonisierung in der US-Federalist-Tradition mit Vorsicht zu genießen ist: Zwar ist, wie auch Jörke anmerkt, die Bilanz der amerikanischen Konföderation historiographisch umstritten, doch die Fragilität und Handlungsprobleme konföderaler Gebilde sind ideengeschichtlich nicht ohne Grund ein klassisches Argument. Insbesondere die Einhaltung der gemeinsam getroffenen bündischen Vereinbarungen hat Konföderationen immer wieder unter Druck gesetzt: Wie sollen in einer Konstellation der Einstimmigkeit von Entscheidungen etwa Regelbrüche wirksam sanktioniert werden? In der EU ist dieses Thema momentan in Bezug auf Polen und Ungarn virulent – und zwar auf mehreren Ebenen, von der Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips bis hin zur Erfüllung von Migrationsvereinbarungen. Dabei geht es nicht allein um die Unverletzlichkeit gemeinsamer Spielregeln.

Gegenwärtige Hoffnungen, durch Vertragsverletzungsverfahren oder Rechtsstaatsverfahren gemäß Artikel 7 TEU auf das Verhalten der entsprechenden Regierungen einzuwirken, haben zwei Ziele: einerseits natürlich den Erhalt der europäischen Verträge und des zugrundeliegenden (freilich nicht unproblematischen) Wertekanons, andererseits aber auch einen förderlichen Einfluss auf Staaten, deren Demokratie von aktuellen Regierungen geschwächt wird. Die Idee hierbei ist, die republikanische Qualität der Einzelstaaten auch nach innen zu befördern. Wie also kann eine „rückgebaute“ Ordnung Europas nicht nur handlungsfähig, sondern auch in ihrem Regelwerk stabil bleiben und obendrein die von Jörke weiter hochgehaltenen Individual- und Demokratierechte garantieren? Dieser Fragenkomplex wird, obwohl diese Probleme bereits jetzt überwältigend scheinen, eher wenig beleuchtet. dennoch betrifft die Frage nach Handlungsfähigkeit, Stabilität und demokratischer Qualität den Kern des konföderalen Modells. Letzteres bringt nicht nur Versprechen mit sich, sondern auch Nachteile und Risiken.

 

Alternativen zum Nationalstaat

Schließlich wird sehr deutlich, dass demgegenüber jegliche Versprechen des gegenwärtigen europäischen Integrationsmodells – also mögliche Auswege aus der Legitimitätskrise – den Autor kaum überzeugen. Hoffnungen auf die Bildung eines europäischen demos, einer schichtübergreifenden lingua franca und entsprechend einer gemeinsamen demokratieermöglichenden Identität, verlangen in der Tat ein (allzu) hohes Maß an Optimismus. (Allerdings kann die jüngste EP-Wahlbeteiligung und auch das zunehmende Interesse an transnationalen Listen den letzten noch verbleibenden OptimistInnen neuen Brennstoff liefern.) Dass ein konföderales Europa aber durch „Rückbau“ zu erreichen sei, also durch einen Rückbezug auf das alte Nationalstaatsmodell, erscheint mir dennoch zu resignativ – und unterschätzt bereits erfolgte politische und soziale Transformationen.

Auch wenn der Territorialstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der erfolgreichste Garant von demokratischer Teilhabe und sozialer Gleichheit war, ist nicht gesagt, dass genau dieses Modell auch künftig den größten Erfolg verspricht. Der Nationalstaat ist, wie Jörke ja auch anmerkt, keine natürliche Größeneinheit der Politik; was zu einem gegebenen Zeitpunkt als „groß“  zu gelten hat, ist selbst historisch kontingent – ebenso wie Identitäten zwar „sticky“ und (territorial) verwurzelt sind, aber sich auch in der langen Sicht massiv transformieren. Auch wenn man sich vom Modell der eng integrierten EU verabschiedet: Es wäre durchaus überlegenswert, noch weitere Alternativen der politischen Gemeinschaft zu bedenken, gerade, wenn es um Bausteine in einem (kon-)föderalen Gebilde geht. Nur kurz erwähnt Jörke die Denkbarkeit eines regional organisierten Europas (S. 259), erläutert aber nicht, ob ein solches Modell mit seinen Zielvorstellungen vereinbar wäre. Ein solches „Europa der Regionen“ würde dem Subsidiaritätsprinzip folgend auch unterhalb der Nationalstaaten demokratische Partizipation stärken. Doch genau solche „kreativen“, die zukunftsgewandte Transformierbarkeit von Strukturen und Identitäten in Rechnung stellende Überlegungen wären vielleicht in der Lage, die eher in die Vergangenheit weisende Idee einer Stärkung des Nationalstaats produktiv zu flankieren oder zu ersetzen.

 

Eva Marlene Hausteiner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Mitglied des Redaktionsteams dieses blogs und spezialisiert u.a. auf Föderalismus, Internationale Politische Theorie, Imperien- und Imperialismustheorie.

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