theorieblog.de | „Wahrscheinlich ist Freiheit der wichtigere Wert, der zentrale, der dann ableitet, was man sonst so macht“ – Ein werkspezifischer Nachruf auf Klaus von Beyme

12. Januar 2022, Panreck

Am 6. Dezember 2021 ist Klaus von Beyme verstorben. Wer das umfangreiche Werk Klaus von Beymes einer der politikwissenschaftlichen Subdisziplinen zuweisen will, zwängt es ins Prokrustesbett. Mit beinahe 50 Monographien und etwa 500 Aufsätzen prägte der Politikprofessor über sechs Dekaden das Fach, immer wieder auch Schnittflächen mit Nachbardisziplinen auslotend. Wenig überraschend verstand sich der in Schlesien geborene Heidelberger als Sozialwissenschaftler, dem Vergleich verschrieben: Seine 1970 publizierte Habilitationsschrift über „Die parlamentarischen Systeme in Europa“, die 1975 für Furore sorgende Monographie „Ökonomie und Politik im Sozialismus“ oder das Werk „Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789-1945“ aus dem Jahr 2002 sind einige Beispiele für Studien, die trotz hoher Fallzahl nicht den Blick fürs Detail verlieren.

Pures „Hinwegrechnen“ über die kulturellen und institutionellen Eigenarten seiner Analysegegenstände lag Beyme fern. Internationales Renommee erarbeitete er sich mit der Erforschung politischer Systeme in Ost- und Westeuropa vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sowie in der Parteien- und Parteiensystemforschung. Bisweilen in den Schatten dieser Werke gerieten Beymes Schriften in der Politischen Theorie und Ideengeschichte.

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Das Ansinnen, komparatistische Studien im Feld der oft geisteswissenschaftlich anmutenden Theoriereflexion zu verankern, unterschied Beyme von den Ordinarien nach 1949, zuvorderst von Eric Voegelin, bei dem er in München studierte, und Dolf Sternberger, neben Carl Joachim Friedrich Lehrstuhlinhaber zu Beymes Studienzeiten in Heidelberg. Den großen theoretischen Entwürfen stand Beyme ebenso distanziert gegenüber wie dem Übertragen normativer Gedankengebäude aus der Antike ins Heute. Eher suchte er abseits eingetretener Pfade nach Inspirationsquellen: Für seine Dissertationsschrift recherchierte er als einer der ersten DAAD-Stipendiaten in Bibliotheken und Archiven in Moskau über die politische Soziologie im zaristischen Russland; seine überwiegend nach der Emeritierung verfassten Bücher widmeten sich bekannten wie weniger bekannten Denkerinnen und Denkern des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und Spanien.

Gerade diese Studien wollte Beyme dabei an der Fairness gemessen wissen. Robert von Mohl, dessen Schriften er 1966 edierte, war sein Vorbild: Beifallsbekundungen suchen sich ebenso vergeblich wie Verrisse, wobei zwischen den Zeilen ein Hang zum liberalen Denken durchscheint. Zwar verstand Beyme die ideengeschichtlichen Strömungen allenfalls als lose Sammlungen – von „dem“ Liberalismus, „dem“ Konservatismus oder „dem“ Sozialismus wollte er nicht sprechen –, dennoch erkannte er gerade im Liberalismus gewisse wiederkehrende Grundzüge. So sei die liberale Perspektive seit dem 17. und 18. Jahrhundert von einer Priorisierung des Individuums über die Gesellschaft, das Trennen von Mensch und Welt sowie das Sondern von Sein und Sollen geprägt. Da der Mensch zwar „perfektibel“, nicht aber per se gut sei, brauche es Institutionen zur Regelung des Zusammenlebens. Die gesellschaftlichen Konflikte ließen sich am ehesten durch Erfahrung und Vernunft unter wenigen staatlichen Eingriffen lösen. Politischer Pluralismus, organisierte Opposition und Rechtsstaatlichkeit markierten laut Beyme ebenso den Kern liberaler Ansätze wie eine gewisse Skepsis gegenüber religiösen Dogmen.

Konservatives Denken indes entzog sich für Beyme weitgehend einem fixierten Kriterienkatalog. Als politische Bewegung in Abgrenzung zur Französischen Revolution entstanden, stelle der Konservatismus den Einzelfall gegen das System. Zudem priorisiere diese Denkrichtung das „Ereignis“ über eine theoretisierte „Geschichte“. Trotz dieser offenkundigen Friktionen mit dem Liberalismus seien zahlreiche liberal-konservative Mischtypen entstanden. Als Katalysator machte Beyme die gemeinsame Gegnerschaft zum Sozialismus aus, aufgrund dessen innerer Zerrissenheit sich Beyme auf keinen Definitionsversuch dieses Gedankengebäudes einließ. Offen trat allerdings sein Ansinnen hervor, den Sozialismus zu entzaubern, etwa über den Versuch, der Zuspitzung der Sozialismusrezeption auf Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg entgegenzuwirken. Beymes Distanz zu marxistischen Ansätzen hatten dabei wohl auch die Erfahrungen der turbulenten Jahre um 1968 erhöht, als der links-liberale Sozialdemokrat in seiner ersten professoralen Wirkungsstätte in Tübingen 1967 bis 1973 zwischen die Fronten der „Konservativen“ und studentischen „Revoluzzer“ geraten war.

Beymes Belesenheit in den Nischen der Ideengeschichte – im Fall Deutschlands seit 1300 – ermöglichte es ihm, nicht nur die zentralen Thesen der Autoren und Autorinnen zu referieren, sondern auch die biographischen, gesellschaftlichen und politischen Entstehungskontexte zu durchleuchten. Die bis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht unübliche Zuweisung der Ideengeschichte in die Geschichtswissenschaft schlägt sich in Beymes Schriften nieder. Überhaupt verstand er beide Disziplinen als eng verwoben. Dem Hang zum Spezialistentum und den auseinanderdriftenden Fachdiskursen der kontemporären Wissenschaften gewann er wenig ab, aber ebenso wenig schwärmte er Holismus frönend für eine integrative Politikwissenschaft.

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Als Grundübel verstand Beyme das Ineinanderfallen von Politischer Theorie und Ideengeschichte im Fachdiskurs. Beide folgten für ihn einem grundverschiedenen Erkenntnisinteresse: Ideengeschichte war für ihn ein interdisziplinäres Forschungsfeld der Politik- und Geschichtswissenschaft sowie der Philosophie. Politische Theorie verstand Beyme hingegen im Anschluss an George H. Sabine als Versuch, die Empirie zu beschreiben, zu erklären und Prognosen zu wagen. Rückten historische Kontexte in der Ideengeschichte in den Vordergrund, gehe die Theorie eine Liaison mit der vergleichenden Politikwissenschaft ein. Hier offenbart sich Beymes empirisch-analytisches Wissenschaftsverständnis, das sich an Karl Popper und Hans Albert orientiert dem Ist-Zustand verpflichtet. Das politische Denken, immer auf Institutionen gerichtet, vollzog sich für Beyme auf der Meso-Ebene.

Als politisch wollte Beyme seine Schriften nie verstanden wissen – sein 1991 in Buchform gegossenes Plädoyer für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands ausgenommen. So blieben ihm die postmarxistisch inspirierten politischen Theorien, besonders die postkolonialen Ansätze, bis in sein Spätwerk hinein fremd, obwohl sein ihm liebstes Buch „Die Faszination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst“ zunächst anderes vermuten lässt. Beyme zielte weniger auf das Durchdringen gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse – diese Fragestellungen schloss er in seinem gesamten Werk aus –, sondern kunstpolitologisch auf das institutionelle Geflecht aus Kunst, Kultur und Politik, zuvorderst bildende Künste, Städtebau, Denkmäler und Architektur.

Es sind diese Schriften, in denen sich Beymes Idee des Politischen herausschält. Erschienen ihm Sternbergers Reflexionen doch etwas „schöngeistig“, orientierte der Komparatist sein Begriffsverständnis an den Institutionen des politischen Systems. Noch während der deutschen Teilung verfasste er ein Buch über den Wiederaufbau nach 1945 in Bundesrepublik und DDR. Gute Kontakte zu DDR-Wissenschaftlern ermöglichten ihm, hierzu rare Fotographien ostdeutscher Städte anzufertigen.

Das Hauptwerk „Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955“ nimmt hingegen besonders die Schriften der Kunstschaffenden, weniger die Ikonographie und Ikonologie der Kunstwerke selbst in den Blick. Erst die textreiche Agitation der Künstlerinnen und Künstler oder aber die Verwendung der Kunst durch das politische System entreißt diese der Lebenswelt und verleiht ihr politischen Charakter. Mit der Deutung von Symbolen, Stilmitteln und Bildsprachen ging Beyme, geprägt vom Heidelberger Kunsthistoriker Erwin Palm, lange vor dem Gros der deutschen Politikwissenschaft neue Wege in der Kulturforschung jenseits des von Gabriel Almond und Sidney Verba vorgeprägten Forschungsstrangs. Der selbst künstlerisch Begabte betrieb politische Kulturforschung aus Warte der politischen Theorie avant la lettre.

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Beymes Schriften in den Feldern Ideengeschichte und Politische Theorie prägten Generationen von Studierenden. Allein sein Buch „Die politischen Theorien der Gegenwart“ erschien seit 1972 in acht, „Die Theorie der Politik im 20. Jahrhundert“ in vier Auflagen, „Die politischen Theorien im Zeitalter der Ideologien“ aus dem Jahr 2002 fanden erneut 2013 – nun in drei Einzelbände gesplittet – eine Neuauflage. Weit entfernt davon, wissenschaftlicher Eremit zu sein, entstand sein umfangreiches Werk überwiegend in Alleinautorenschaft. Von den Fachkollegen und -kolleginnen wurde Beyme im Jahr 1986, und damit noch vor den Hauptwerken über die politischen Ideologien, zum bedeutendsten Fachvertreter in der Politischen Theorie gekürt. 1998, ein Jahr vor seiner Emeritierung, erreichte er den zweiten, im Jahr 2007 den fünften Rang. Bereits zu Lebzeiten fanden seine Schriften Aufnahme in verschiedene Überblicksbände zentraler politikwissenschaftlicher Werke, auch im Feld der Politischen Theorie. Seine ideengeschichtlichen und theoretischen Bücher erfuhren Widerhall im Fach, wie Zitationen im vierstelligen Bereich laut publish or perish belegen. Einen eigenen Theorieansatz prägte Beyme dabei nicht. Reibung erzeugte zuvorderst sein 1991 verfasstes Buch zur Theorie der Politik. Auf die bisweilen wortgewaltige Kritik an seiner Würdigung von Gedankengebäuden zwischen Prä- und Postmoderne reagierte er mit der für ihn typischen Gelassenheit. Ein Hauch von Ironie schaffte Abstand – gegenüber den fachlichen Debatten und der eigenen Rolle in ihnen.

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Als ich Klaus von Beyme am Rande eines Gesprächs fragte, wie er die Werte Freiheit und Gleichheit gewichten würde, tendierte er zur Freiheit: Sei sie nicht der zentrale Wert, aus dem sich alles Weitere ableite? Und in der Tat mied er in seinem politikwissenschaftlichen Wirken Fesseln: Nie schloss er sich einer der großen Theorieschulen an, und er wahrte Distanz, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Mit der Abkehr von normativen Gedankengebäuden schwamm er sich von seinen Lehrern frei. Einen Disput mit Carl Joachim Friedrich in Kauf nehmend, schaffte er sich den Raum, theoriegeleitete vergleichende Studien über die Sowjetunion zu verfassen, ohne den „Ostblock“ am liberal-demokratischen Ideal messen zu müssen. Politisch brachte ihm dies in Zeiten der hitzigen Debatten des Kalten Krieges den Vorwurf der Normvergessenheit ein.

Klaus von Beyme überwand Grenzen: Er war in Moskau ebenso zu Hause wie in Harvard, in der vergleichenden Systemlehre wie in der Politischen Theorie und Ideengeschichte, in der Politikwissenschaft wie in den Nachbardisziplinen. Die Neugier und Beharrlichkeit im Erschließen neuer Quellen bargen Schätze, vor allem in der russischsprachigen Ideengeschichte. Das Festhalten an einem engen, auf Institutionen gerichteten Begriff des Politischen machten seine theoretischen Schriften anschlussfähig für die empirisch-analytische Politikwissenschaft. Die politische Philosophie, die Arbeit am Begriff, das immer wieder neue Durchdringen und Wenden von Ideen indes reizte den Empiriker nicht. Vielleicht auch deshalb wird Beyme zuvorderst als Pionier der Vergleichenden Politikwissenschaft in Erinnerung bleiben. Was seine Studien in der Politischen Theorie herausstechen ließ, war vor allem die Suche nach Schnittflächen zwischen Theorie und Empirie. Gerade diese „Übersetzungsleistung“ zwischen den Subdisziplinen macht das Werk Klaus von Beymes aus.

 

 

Isabelle-Christine Panreck vertritt die Professur Politikwissenschaft an der Stiftungsuniversität Hildesheim. 2021 erschien ihre Werkbiographie über Klaus von Beyme.


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