theorieblog.de | Forum e-Semester (1): Das Experiment des digitalen Semesters: Chancen, Illusionen, Folgen

23. April 2020, Busen & Huhnholz

Schon seit Wochen steht fest: Im Sommersemester soll an deutschen Universitäten digital gelehrt werden. Nun beginnt es. Während Studierenden unter den gegebenen Corona-Umständen große Zugeständnisse gemacht werden müssen, weil Studierbarkeit und Studierfähigkeit nicht auf technisches Equipment und digitale Zugriffskompetenzen reduzierbar sind, sollen ihre Ansprüche weitestgehend erhalten bleiben. Lehrende sind angehalten, eigene Veranstaltungen wo immer möglich digital aufzubereiten, online zu präsentieren, zu moderieren und zu prüfen. Pragmatisch und kreativ zugleich sollen sie sein – und viele wollen es.

Dass die infrastrukturellen Herausforderungen dieser vorübergehenden und allerorts hektisch betriebenen Umstellung gewaltig sind, bedarf keiner Erläuterung. Wie in vielen Unternehmen ebbte auch an den Hochschulen die Flut erregter Informationsmails, euphorischer Bedienungstipps und mahnender Digitalitätsappelle wochenlang nicht ab (wobei enorme Unterschiede im Aktivitäts-, Motivations- und Kompetenzgrad der Universitäten, zwischen föderalen Hochschulbürokratien, einzelnen Wissenschaftszweigen und ihren Untergliederungen zutage traten). Allmählich aber endet die Phase der ersten Suche nach geeigneter, anspruchsgerechter und überhaupt verfügbarer Hard- und vor allem Software. Viele Leitentscheidungen sind getroffen: Welche Programme und wie viele? Synchrones oder zeitversetztes Lehren? Dos & Don’ts? Andere Fragen – Was ist mit dem Datenschutz? Wie steht’s um die Vergleichbarkeit der Leistungen? Was darf überhaupt wie geprüft werden? Was sind Regeln, was Ausnahmen? – sind demgegenüber zurückgestellt oder schwelen vor sich hin. Die ersten Maßnahmen und Antworten jedenfalls haben pfadabhängige Wirkungsketten in Gang gesetzt, deren Nutzen oder Schaden sich erst allmählich erkennen lassen werden. Der Stresstest der Implementierung hingegen beginnt genau jetzt.

 

Die Krise ist nicht selbstverständlicherweise eine Chance

Gewichtiger als die infrastrukturellen Herausforderungen technischer Art sind jedoch – und das wird durch die penetrante Rede von der „Krise als Chance“ bagatellisiert – die didaktischen Fragen und Risiken. Das notwendig spontane und situative Lehren und Lernen in vielen vorerst nur mutmaßlich massen- und gruppenkompatiblen Formaten ohne lokale Interaktion und ohne viele der dafür gewöhnten Kultur- und Sozialtechniken erfordert Offenheit und Frustrationstoleranz gleichermaßen. Viele gleichwie eifrig erprobte Vorhaben werden nicht nur die üblichen Limits technischer Ressourcen und kommerzieller Programme bestätigen. Sie werden auch an Grenzen der sozialen Eignung digitaler Formate stoßen und sind allerlei individuellen Bedienungs- und kognitiven Simultanitätsfähigkeiten unterworfen. Von Fragen der Rechtssicherheit besser zu schweigen: Die Bewertungen der Studien- und Prüfungsleistungen dieses Sommers dürften im Einzelfall oder prinzipiell anfechtbar sein, zumal soziale Ungleichheitseffekte der Studierbarkeit intensiviert werden. Studieren ohne familiäres Vermögen, von infrastrukturell abgehängten Regionen aus, ohne Gesundheit oder mit Handicaps wird nochmal schwieriger.

Überdies sollten Plötzlichkeit und Allgegenwärtigkeit der in Gang gesetzten Maßnahmen nicht verdecken, dass viele der nun zu erprobenden oder auszudehnenden Lehrformate dilettantisch sind. Gute didaktische Instrumente und Kompetenzen, geeignete Lehrmaterialien und technische Infrastrukturen für echte Online-Lehre können nur über Jahre erworben und curricular entwickelt werden. Und wie wünschenswert ist die gleichwie enthusiastische Verwandlung der Präsenz- in eine Fernuniversität eigentlich? Gelingende e-Lehre erfordert immerhin intensive kollegiale Planung, studentische Bereitschaft und allseitiges Vertrauen. Sie kostet sehr viel Geld, verlangt kohärente institutionelle Strategien und einen digital adäquaten Verwaltungs- und Lehrpersonalapparat.

Nichts davon kann der derzeitige Ausnahmezustand bieten. Daher dürfte die gegenwärtige Lage auch die wissenschaftspolitische Kluft zwischen Fakultäten und Teildisziplinen erhöhen. Die hochschuldidaktische Performanz der einfacher und schneller digital darstellbaren Wissenschaften, Disziplinen und Themen wird ‚attraktiver‘ und ‚fortschrittlicher‘, ja ‚krisenfester‘ erscheinen. Schon ist zu beobachten, „dass z.B. in Großbritannien und den USA in diesen Tagen massive Unternehmungen gestartet werden, die Lehre nicht nur kurz-, sondern langfristig auf Online-Formate umzustellen. Den Lehrenden“, so konstatiert eine Gruppe von Bochumer Medienwissenschaftler:innen treffend, „werden enorme zusätzliche Aufgaben übertragen, die das übliche Pensum bei weitem überschreiten.“ So steht schon angesichts der notorisch beklagten strukturellen Vernachlässigung und akademischen Geringschätzung der Lehre im deutschen Wissenschaftssystem zu erwarten, dass solche kurzfristigen Effekte mittelfristig in hochschulpolitische Reformen übersetzt werden.

Das nun begonnene Experiment des digitalen Semesters bedeutet also weit mehr als eine nur „vorübergehende Umstellung der Lehre von Präsenz auf alternative Formate (sowohl online als auch offline)“. Es ist, so noch einmal die Kolleg:innen aus Bochum, „nicht nur eine logistische Herausforderung, sondern hat auch eine medientheoretische und eine wissenschaftspolitische Dimension […], denn wir haben es mit einer Frage der Übersetzbarkeit von Inhalten zwischen unterschiedlichen Medien zu tun.“

 

Digital(be)denken?

Diskussionen über Chancen, Risiken und Entwicklungspfade digitaler Lehrformate dauern auch in den Sozial- und Politikwissenschaften im Allgemeinen und der Politischen Theorie im Spezielleren schon länger. Viele Lehrende boten bereits in der Vergangenheit digital standardisierte Lehrveranstaltungen an. Viel Präsenzlehre wurde und wird mit digitalen Inhalten und Lehrformen ergänzt. Einige andere wiederum haben bisher keinerlei Erfahrungen mit den Tools, Abläufen und didaktischen Konzepten für digitale Lehre. Vor allem beteiligen sich fast alle Lehrenden gerade deshalb in der ein oder anderen Rolle an einem oder mehreren der seit Wochen immer umfangreicheren kollegialen und professionellen Austauschvarianten: Tipps und Tricks, Good Practice-Beispiele, Erfahrungsberichte usw.

Die Reaktionen auf das kommende „Experiment“ fallen allerdings ganz unterschiedlich aus. Die einen sehen es als Chance, endlich eine bisher verschlafene Digitalisierung im Bildungsbereich voranzubringen. Andere fügen sich klagend oder beharren darauf – speziell als Politik- bzw. Sozial- und Geisteswissenschaftler:innen –, ihre Lehrideen eigentlich nur in der ‚klassischen‘ Seminarform verwirklichen zu können. Einige betonen das nachhaltige Lernpotenzial, das sich aus Lehrenden-Perspektive eröffnet, wenn man sich erst einmal bereitwillig auf das große Experiment einlasse. Andere stimmen dem grundsätzlich zu, betonen aber den ungeheuren Aufwand, der damit für Lehrende wie Studierende ohne hinreichend gesicherten Nutzen einhergeht, und forderten auch deshalb ein ‚Nicht-Semester‘. Und ganz pragmatisch fragen sich schließlich wohl die meisten, ob überhaupt – und wenn ja: wie – sie ihre Lehr- und Lerninhalte in kürzester Zeit und unter dem Vorzeichen globaler Quarantäne, „homeschooling“ der Kinder usw. usf. dergestalt in ganz neue Formate überführen können, dass das angestrebte Niveau und die gewohnte Qualität möglichst aufrechterhalten, womöglich gar verbessert werden.

 

Was machen wir da eigentlich – und was macht es mit uns?

Dennoch: Wofür die einstweilige Alternativlosigkeit digitaler Lehre, gepaart mit der praktischen Notwendigkeit, diese jetzt individuell, sozialräumlich isoliert, rasant und vielleicht gar ohne große Vorkenntnisse zu organisieren, gerade kaum Platz lässt, ist eine gemeinsame kritische Selbstverständigung darüber, wie sich das ‚Experiment Digitales Semester‘ mittel- und langfristig auswirkt: auf unser Verständnis von Lehre und Didaktik, auf die Struktur und Organisation von bzw. die Voraussetzungen und Ressourcen für Hochschullehre, auf das Verhältnis von Forschenden, Lehrenden und Studierenden etc.

Wo derlei Fragen gegenwärtig behandelt werden, fallen die entsprechenden Urteile – verständlicherweise – oft ebenso knapp wie holzschnittartig aus. Deshalb möchten wir hier den Raum für eine gemeinsame Reflexion schaffen, eine Reflexion, die – gerade auch in Begleitung des digitalen Sommersemesters – ohne übermäßige Eile eine differenzierte Bewertung und Einordnung dessen erlauben mag, woran wir uns gerade alle individuell versuchen.

Dabei soll es nicht um einen Austausch über Good Practice, mithin also auch nicht um eine Diskussion der relativen Vor- und Nachteile einzelner Lehr-/Lernplattformen und -formate gehen. Solch ein Austausch ist fraglos wichtig und verbindet sich an verschiedenen Stellen nahtlos mit der hier vorgeschlagenen Reflexion. Auch er wird deshalb über das Sommersemester und darüber hinaus stattfinden – und ist hier und da auch schon begonnen worden. Trotzdem scheint es uns sinnvoll, einen solchen Austausch und die hier vorgeschlagene Reflexion erst einmal weitgehend zu trennen. Die nun fast alle Studierenden und Lehrenden betreffende und nach Erfahrungsaustausch, Tipps und Trost suchende Dimension ist das eine, die kritische Begleitung und Identifizierung etwaiger Struktureffekte, das Reflektieren der gebotenen und inhärenten Grenzen von Digitalisierungsvisionen das andere.

 

Was nun?

Wir starten unsere Reihe mit einem Beitrag von Dannica Fleuß. Dannica problematisiert, dass aktuelle Diskussionen über Risiken und Potentiale des Digitalsemesters auf „die klassische Vorlesung“ bzw. „das klassische Seminar“ als Kontrastfolien verweisen. Dabei werde übersehen, dass die Herausforderungen und Anforderungen in Abhängigkeit vom konkreten Lehr-Lern-Format,  den jeweiligen didaktischen Strategien und Zielen stark variieren: Während „frontal“ organisierte Vorlesungen vergleichsweise leicht in den digitalen Raum übertragbar wären, sei eine sinnvolle Übersetzung studentenfokussierter, interaktiver Formate weit ressourcenaufwändiger und erfordere intensivere didaktische Reflexionen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Herausforderungen und Chancen des Digitalsemesters für Lehrende unterschiedlicher Veranstaltungsformate – und damit tendenziell auch für Lehrende bestimmter Fächer und Statusgruppen – ungleich verteilt sein werden. Nicht zuletzt besteht die Sorge, dass die Aufgabe, die „technischen Voraussetzungen für von ProfessorInnen geleitete Seminare“ zu realisieren, auf den prekären Mittelbau überwälzt wird.

Zu allen Beiträgen dieses Forums stehen unsere Kommentarspalten offen: Nutzt sie! Darüber hinaus erbitten wir Beitragsvorschläge zum aufgerissenen Themenspektrum. Dimensionen und Fragen, die es zu diskutieren gelten könnte, umfassen:

Lernen durch Experimentieren:

  • Zwischen ‚Digital ist besser‘ und ‚So schnell wie möglich zurück zur altbewährten Seminardiskussion‘: Wie kann ein Lernprozess aussehen, innerhalb dessen sich digitale Kompetenzen und Erfahrungen aus der ‚analogen‘ Lehre gegenseitig informieren?
  • Welche Elemente der ‚klassischen‘ Lehre lassen sich in digitale Formate überführen, welche nicht, und welche neuen Elemente eröffnet digitale Lehre? Und unabhängig von und vor allen Fragen des Formats: Welche Erwartungen stellen wir überhaupt an Lehre?
  • Pragmatismus vs. Lernen: Welche ‚Lerneffekte‘ sind im Rahmen der aktuellen Situation realistisch zu erwarten? Was lässt sich auch kurzfristig erfolgreich umsetzen, was erfordert mehr Zeit und Vorbereitung?

Die Folgen des Experiments:

  • Welche Lehre nach der Krise: Wie wird/kann die Lehrpraxis nach dem ‚Experiment‘ im Sommersemester aussehen?
  • Was spricht dafür bzw. dagegen, bestimmte Lehrangebote auch längerfristig in digitaler Form anzubieten – sei es als Ergänzung zu oder Ersatz für Präsenzveranstaltungen?
  • Was passiert generell mit digitalisierten Lehrinhalten wie aufgezeichneten Vorlesungen, Lehr-Podcasts, Powerpoint-Folien mit Audiospur etc., die im Sommersemester Präsenzveranstaltungen möglichst vollständig ersetzen sollen, wenn Letztere wieder möglich sind?
  • Wie sind die potenziellen Gewinne und Verluste zu bewerten, die sich durch eine auch längerfristig intensivierte Digitalisierung hinsichtlich einerseits der Qualität und andererseits der Effizienz der Durchführung von Lehre ergeben?

 

Vorschläge und Beitragsentwürfe sowohl aus studentischer wie didaktisch erfahrener Perspektive und weiteren sind der theorieblog-Redaktion jederzeit im Umfang von ungefähr 1.000 (Beitrags-)Worten willkommen! Hinweise auf vergleichbare Diskussionen, nützliche Links usw. können gern umgehend mittels der Kommentarfunktion unter diesem Aufruf geteilt werden.


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